Flucht über die Nordsee 82. Bruder und Schwester

ahorn

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Gestrandet in einer neuen Welt

Getrieben von der Brandung auf den Strand,
gleitet der Entdecker auf den Sand.
Die Sonne trocknet sein Haar, erwärmt seinen Verstand.
Getrieben von der Kraft seiner Arme,
reckt er seinen Oberkörper auf,
sucht mit den Augen ab, den fremden Strandablauf.
Einsam und verlassen ist die neue Welt,

ob sie ihm in der Zukunft gefällt.



Die Suche nach Überlebenden

Bruder und Schwester

„Na kimmsd a scho!“
„Vada, was machst du hier?“
„War immer an dir ran.“ Valentin stand vom Feldbett auf. „Bin vorm Hotel eingenickt. Ich wusste gleich, wohin du willst.“ Mit ausgestrecktem Arm kreiste er um seine Achse und grummelte: „Wohnlich eingerichtet“, dabei trat er einen Schritt auf Fridolin zu und packte ihn am Hemdkragen. „Wo ist Alina?“
„Nicht hier“
„Wo?“ Er drehte den Kragen, bis dem Sohn der Atem stockte. „Wo?“
„Bei Stephen!“, röchelte Fridolin.
„Der Dahergelaufenen traust du das Kind an.“
„Sie ist keine …“, er winkte ab, „sie ist Klara.“
Valentin gab ihm eine Kopfnuss. „Wach auf. War ein Geschicht für Franziska. Sie ist und bleibt eine Hochstaplerin. Franzi hatte es schwer genug gehabt. Erst verschwindet ihr Junge, dann erfahren wir von Fred, er lebt und stellen fest, dass sich dieses falsche Biest als Stephen ausgibt.“
„Immerhin hat sie euch den Arsch gerettet. Oder warum sollte ich sie aus England holen, damit sie Stephen spielt.“
„Weil das Miststück uns in der Hand hatte.“ Valentin Faust schnellte durch die Luft. „Sie wollte Stephens Papiere nicht rausrücken. Wie viel Geld sie gekostet hat: Gesichtsoperation, Brustverkleinerung. Waren eh Implantate. Die tut alles für Zaster.“ Er hielt sich den Bauch und brach in Gelächter aus. „Haben wir das wiederhergestellt, was vorher war.“ Er zwinkerte. „Fast.“ „Wo ist da der Witz?“
„Deine Klara“, bellte Valentin. „Willst du ihren richtigen Namen wissen.“
„Hat sie dir gesagt!“
„Quatsch! Wir haben unsere Quellen.“ Valentin streckte ihm den ausgestreckten Zeigefinger entgegen. „Wenn es um die Familie, um die Firma geht, sind Informationen das Wichtigste.“
Fridolin nickte.
„Hast du in letzter Zeit was von Aishe gehört?“
„Wieso ich?“
„Ihr seid verheiratet!“
„Nicht mehr lange. Lenke nicht ab. Sage mir deine Lügen.“
Valentins Gelächter hallte an den Betonwänden. „Titus de Klandt“ – „Titus!“ Er hechelte. „Ein Stricher, welcher sich in seinem Beruf verbessert hat.“ Er griff an seinen Schritt. „Schnippt, schnapp und ab.“
Fridolin klopfte wie ein Specht gegen seinen Kopf.
„Willst wissen, weshalb sie oder er Stephens Papiere hatte.“
„Auch das wirst du mir gleich erzählt.“
„Zusammen im Knast haben sie gesessen. Stephen soll Anton erschossen haben. So ein Blödsinn! Der arme Junge“, gab er mit einem süffisanten Unterton zu verstehen. „An Lungenentzündung soll er verreckt sein.“ Er drohte erneut. „Aber sag dies nicht der Franzi.“
„Du spinnst!“ Fridolin wandte sich ab. „Ein Mann, welcher als Frau Anton niedergeknallt hat, sitz mit einer als Junge geboren Frau in einer Zelle. So ein Blödsinn.“
Valentin faste Fridolin an den Schultern und dreht ihn zu sich. „Warum als Frau erschossen?“
„Weil Klara Anton umgebracht hat.“ Fridolin rollte mit den Augen. „Tanja hat mir das erzählt.“
„Ach, Tanja. Zu der kommen wir später.“ Er schürzte die Lippen. „Ich dachte, du wüsstest mehr.“

Fridolin runzelte seine Stirn. „Was den nun wieder?“
Valentin schwang seinen Kopf. „Ich vertrete die Spekulation, dass Stephen nie existiert hat.“
„Soll ich dich einweisen?“
Der Vater schlug dem Sohn an die Stirn. „Denk nach!“. Er tippte an seine Brust. „Ich habe Stephen nie gesehen. Du?“
„Nein.“
„Franzi und ich, haben uns immer hier im Bunker getroffen. Schau nicht dämlich. Ja! Ich betrog deine Mutter. Wir haben nie, das weißt du, aus Liebe geheiratet.“ Er drehte den Kopf, sah über seine Schulter. „Dazu später. Gertrud hat mir Franzi Brief gezeigt, in dem sie ihr schrieb, dass sie ein Madel Namens Jannette geboren hätt.“ Er zog seine Augenbrauen zusammen. „Wo ist dieser Stephen aufgewachsen? Mädcheninternat. Welche Mutter steckt den eigenen Sohn in ein …“
„Was sagt Franzi zu deiner Fantasie?“
„Nichts! Schwachsinn liegt bei den Loibls im Blut! Alfons war der einzig klar Denkende. Generationen von Matriarchat, da verblöden alle.“
„Ich muss lachen, du und Alfons.“
„Wir waren keine Freunde gleichwohl im Geschäft einer Sichtweise. Verschroben, konservativ, das war er. Wollte einen Stammhalter. Dann schenkt ihm Franziska ein Mädchen, sie war sicher mit Stolz erfüllt, jene weibliche Linie fortzuführen. Sogar das Häubchen hat sie der angeblichen Tochter ausgesetzt. War zwar nicht da, hab es wohl gehört. Verstehst du“, er tippte an seine Schläfe. „Dieser Weibertrachtenverein hätte nie einem Jungen das goldene Häubchen aufgesetzt. Vielleicht ihn als etwas Ähnliches wie ihresgleichen anerkannt, ihm eine Mädchenhaube übergestülpt, aber das Goldene. Nie und nimmer einen Mann zu ihrem zukünftigen Anführer gewählt.“

Valentin fiel wieder in sein Gelächter. „Obwohl, doof sind sie. Sind Weiber!“
Fridolin schwoll die Brust. „Was habe ich mit diesem dämlichen Verein zu tun?“
„Eine ganze Menge. Wenn du wüsstest?“
„Was?“
„Die Ontonia hat von Franzi das goldene Häubchen bekommen.“ Er zuckte mit den Achseln. „Ist Tanjas Madel. Madel ist gut. Ä Bub ist sie.“
„Hör auf, mir reicht es, was hat Tanja und ihre Tochter damit zu tun und warum Bub.“
„Weiß ich gleichfalls von der Bärbel. Die Antonia heiß Sven-Fiete. Verstehst.“
Fridolin wandte sich ab. „Ich geh!“
Valentin ergriff den Oberarm seines Sohnes. „Bleib! Ich hob dir gesagt, wir kommen auf die Tanja später zurück.“
„Du spinnst. Ob Junge oder Mädchen, eins weiß ich, dass die Blutlinie …“
Valentin stupste ihn an. „Blitzmerker! Tanja ist Klara. Hat mir a die …“
„Bärbel. Oh Gott und wenn“, fiel ihn Fridolin ins Wort.

„Nächst Geschicht.“ Valentin setzte sich auf die Klappliege, holte eine Selbstgedrehte aus seinen Janka, leckte sie, steckte sie in den Mund und zündete sie an.
Fridolin wedelte mit den Händen. „Was qualmst du den für ein Kraut?“
Sein Vater betrachtete die Glut. „Was man alles in Holland kaufen kann?“ Er klemmte sich den Stängel zwischen die Lippen und inhalierte. „Es war drei, maximal vier Monate, bevor die Ausgeflippten das Dorf belagerten. Da sah ich sie das erste Mal. Ich hatte im Gasthof etwas vorzubereiten. Weißt, hab da früher öfter ausgeholfen. Egal! Da kam mit Wut im Schritt die Amisha hereingestürzt. Hab mich hinter der Tür zum Schankraum versteckt. In ihrem Gefolge der Anton. Sie auf die Zimmer. Anton rief ihr hinterher, dass sie es lassen solle, es hätte eh keinen Zweck. Nach einer knappen halben Stunde kam sie wieder hinuntergestürmt, zupfte an ihrem Rock, knöpfte sich ihre Bluse zu, rannte hinaus und Anton hinter ihr her.“
„Und?“
Valentin schlug seine zur Faust geballte rechte Hand gegen die Linke. „Geschnackselt hat er sie!“
„Wer?“
„Der Alfons, wer sonst. Als es dann losging, kam sie wieder. Nicht mehr in feinen Zwirn gekleidet, sondern wie'ne Zigeunerin. Machte alle narrisch“, schmachtete er. „Der Alfons hatte nach mir geschickt, sollte für ihn etwas in die Kirch verbringen. Da war sie bei ihm und hat ihm eine Watschen gegeben. Hat geschrien das Luder, dass sie es wegmachen lässt und die Alfons sagte ihr, wenn es ein Madel wird, heirate er sie. Ein schönes Leben könnte sie haben und der Nahne sich freuen.“
Fridolin raufte sich die Haare. „Der Joint macht dich verrückt. Jetzt dieser Nahne.“
„Es ist von Gewicht. Der Alfons und der Nahne wollten, soweit mir bekannt, dass sich die Familien vereinigen.“
„Ich verstehe weiterhin nur Bahnhof.“
„Die Zeit verging. Wir wurden älter. Ich verzog mit dir und deiner Mutter nach Österreich. Franziska und Anton gingen in die Fremde.“ Er schwang erneut seinen Kopf. „Den einen oder anderen Humpen stemmten wir, der Alfons und ich. Bei mir waren es ein paar zu viel, aber dees ist'n gesonderte Geschicht.“ Er inhalierte den Rauch. „Da hatten wir die Idee mit dem Testament. Die Gertrud wollte dauernd, dass die Lisselotte die Firma erbt. Obwohl sie sich aus dem Staub gemacht hat, denn sie sei die Auserwählte.“

Fridolin tippte an seine Schläfe.
„Von welcher Firma faselst du immer.“
„Meinst, von eh paar Kühe kann man was werden. Geschäft mit de Zone haben wir gemacht. Waffen vom Osten in alle Welt geschmuggelt. Der Nahne der kont das. Wenn glaubst, gehört die Straß, in der deine Spelunke die Lola ist.“ Er lehnte sich zurück. „Ein Enkelsohn sollt erben. Mit eh Kind überredete Gertrud ihn.“
„Stephen?“
Valentin beugte sich vor, stieß seinen Zeigefinger in Fridolins Becken. „Blödmann! Den gibst net. Du solltest es sein.“
Fridolin zeigte ihm einen Vogel. „Alfons war gar nicht mein Großvater.“
„Trottel. Adoptiert haben die beiden der Alfons und sei Weib uns, de Anton und mi, als keine Dankbarkeit. Nicht offiziell, eher familiär. Hat uns unser Erbe vorab ausgezahlt. Der Anton hat sich sei Farm gekauft und ich meine Kröten angelegt. Die Braut stand gleichfalls fest. Die Enkeltochter vom Nahne, die Tanja kürte Alfons aus.“
„Ich sollte Tanja heiraten?“
„Yup! Es war eher eine Kneippengeschichte, dann hatte Alfons den Anfall. Ich bin zur Bärbel.“ Er klopfte auf seine Schenkel. „Man hatte ich mich verjagt. Aber dees ist ach eh ander Geschicht. Sie hatte es mir zwar nicht direkt gesagt, alldieweil ergibt eins und eins zwei.“ Er erhob sich und schlug Fridolin auf die Schulter. „Die Tanja also de Klara ist dei Schwester.“
Fridolin schubst Vale zur Seite, sodass er auf die Liege fiel, welche unter seinem Gewicht zerbrach. „Wie soll das denn gehen.“

Valentin rappelte sich auf. „Hallt die Schnauze, hör zu, grübeln kannst später, wenn's überhaupt denkst. Treibst mit der eigenen Schwester!“ Er staubte seine Hose ab. „Versteh di, ist ja gelenkig die Kleine und blasen kann’s.“
„Du hast mit …“
„Hab sie bezahlt, die Schlampe.“
„War mein Geld.“
„Dein Problem.“
Fridolin trommelte auf seine Brust. „Ich habe nie was mit ihr gehabt. Wir sind Freunde!“
Valentin zielte mit Zeige- und Mittelfinger auf seine Augen. „Freunde! Ich hab es beäugt.“
„Nichts hast du gesehen.“
„Nicht alles. Das, was ich sah, hat gereicht. Bin weder blind noch blöd. Ihren blanken Arch am Schlafzimmerfenster habe ich erblickt. Dich danach mit nackten Beinen im Wohnzimmer beobacht. Sie“, er nickte, „gibt dir dei Hos mit den Worten, des kann jedem Mann passieren.“
Fridolin krümmte sich vor Lachen. „Das ist dein Beweis. Kartons habe ich ihr aus dem Keller hochgetragen, dabei meine Hose zerrissen. Dann sind wir in ihr Schlafzimmer, damit ich mir von ihr eine ausleihen konnte. Waren mir alle zu eng und ein Rock wollte ich mir nicht überziehen.“
Valentin grinste. „Bist dann nackend Heim kimmend.“
„Nee! Wir fanden eine Umstandshose, die ihr Franziska geschenkt hatte. Das ist meine Geschichte und die geht dir nichts an.“
„Warum war sie nackt?“
„Umgezogen hat sie sich. War ein heißer Nachmittag. Sie ist nicht prüde.“
Valentin verschränkte die Arme und lehnte seinen Kopf zur Seite. „Von wem ist sie schwanger?“, triumphierte er.
„Von mir nicht. Womöglich von dir?“
„Bin sterilisiert.“
„Man hört viel schwafelnder Schwachkopf. Wenn Tanja meine Schwester ist, dann bist du ihr Vater und hast mit deiner eigenen Tochter …“

„Wo ist Alina?“
„Bei Klara“, log Fridolin, denn er dachte wieder an seine Verlobte, jene von Josephine verschleppt, in Holland schmorte.
„Weil’s deine Tochter ist und du nicht mein Sohn“, donnerte Valentin aufbrausend ihm entgegen. „Wie wir dich angenommen haben, haben Franzi und ich das Madel aufgezogen.“
„Ich nicht dein Sohn, dass ich nicht lache.“
„Bled warst nach den Reitunfall. Bist’s ja heut no.“
Fridolin erstarrte und blickte Valentin an. Er hatte als Jugendlicher einen Reitunfall, jedoch, weshalb Valentin diesen in den Zusammenhang brachte, dass er nicht sein Sohn war, entsagte ihm.
„Ich verstehe dich nicht.“
„Hab zwar die Muda versprochen, jedoch ist jetzt die recht Zeit.“
„Was?“
„Du warst e Waisenkind. Dei Muda hat sich in dich verguckt, als im Spital warst. De Rest habn …“ Er stockte. „Kriegst raus.“
Für Fridolin brach keine Welt zusammen. Valentins Worte bewiesen ihm eher, dass dieser verrückt war.
„Was hat dein Märchen mit Alina zu schaffen?“
„Wo warst immer in de Ferien?“
„Auf dem Reiterhof.“
„Was ist dort in der Nähe? Ich sagst dir. De Internat von de van Düwens. De Anton de Sau hat mir’s gesteckt. Warst gern dort.“
„Zugekiffter Alter.“
„Auswahl hattest.“
„Ich weiß von keinem Kind.“
„Geschämt hat sie sich, abtreiben wollte sie, hat sich Aaron anvertraut und wir die Verantwortung
übernommen. Kannst dich nicht an sie erinnern, hattest zu viele. De Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“
„Bitte?“
„Denken sollst, Waisenkind. Wer glaubst, ist dei Voda?“
„Beweise?“
„Brauch i nett. I mein’s guad mid dia. Das nicht so wird’s wie dein Voda . De Gene. I hob ihn gesehen, als ea aus diesem Bunker kam. Wollt eigentlich aufräumen.“
„Wer kam …?“
„De Anton du Blödmann. De Tanja hat mi gesteckt, dass sie vergewaltigt wurde und nun frag mi wo des geschehen ist. Will‘s sein Erbe antreten. Wie?“
Fridolin schloss seine Augen. Er wollte sich konzentrieren, jedoch, es gelang ihm nicht. Dafür dachte er an Alina sowie an Josephine. Seine Freundin, die er geliebt und die sich in all den Jahren derart verändert hatte.

„Zugekiffter Alter. Ich und eine Tochter. Wo soll dieses passiert sein?“
„Im Internat von den Düwen. Auswahl hattest du.“
„Ich weiß von keinem Kind.“
„Geschämt hat sie sich, abtreiben wollte sie, hat sich Aaron anvertraut und wir die Verantwortung übernommen. Du kannst dich nicht an sie erinnern, hattest zu viele.“
„Ja. Ich gebe es zu. Hatte meinen Spaß. Es war Josephines Idee, turnte sie an. Blind-Dates nannte sie es. Beide mit Augenbinden, einer gebunden, geknebelt, fiel der andere über den Gefesselten her. Josephine? Was weiß ich, was sie dabei tat. Ich sah ja nichts.“
Valentin schlug ihm ins Gesicht. „Wusste immer, du bist pervers. Wie gut, dass du nicht mein Sohn bist.“

Fridolin rannte aus dem Verlies, knallte die Stahltür zu und schloss den Riegel.
Weg, weg von dem in seinem Wahn, Josephine anrufen, dass sie Klara brachte, dann sich nach all den Jahren bei Josephine bedanken. Wie sie es verdiente.



Im Westen Afrikas

Die Vielzahl der Stimmen, der Hautfarben in allen Tönen der Welt, der Haartrachten sowie der Kopfbedeckungen spiegelten die Internationalität wider, obwohl diese die Uniformität ihrer Kleider einfing.
Svenja und Tami schlängelten sich durch die Gruppen der Mädchen, wobei Tami in ihnen aufging, indes Svenja wie eine Frucht aus den Tropen in einem Korb voller Äpfel unterschiedlicher Sorte herausstach.
Sie betraten die Eingangshalle, welche erst nach dem Durchschreiten eines fantasielosen Vorbaues ihre wahre Pracht darbot. Haushohe Palmen sowie duftende Zitruspflanzen enttarnten die Halle als Orangerie, in der mühelos zwei Basketballfelder Platz fanden.
Mädchen saßen an Tischen, unterhielten sich, beförderten mit Gabeln, Löffeln, Stäbchen oder mit blanken Fingern Speisen in ihre plappernden Münder, hockten zwischen den exotischen Pflanzen und verschmolzen in ihrer Uniformität mit deren Blüten. Ihre Schuluniformen, Trachten waren klassisch geschnitten, aber mit ihren Ornamenten, ihrer Farbenpracht gehörte sie eher auf einen westafrikanischen Markt.

„Oh! Hier möchte ich gern zur Schule gehn“, schwärmte Tami.
„Wirklich?“
Wenngleich die Kinder lachten, verbargen sie nicht ihre geschundenen Körper, ihre Arm- sowie Beinprothesen, ihre vernarbten, entstellten Gesichter.

„Wo lang?“
Svenja wies auf einen Gang, jener verdeckt von zwei Orangenbäumen aus dem Glaspalast führte.
Mit jedem Schritt verfinsterte sich der Durchgang und das zuvor glückliche Geschnatter verwandelte sich zu einem bedrohlichen Gemurmel.
„Ich weiß nicht, was wir hier wollen?“
Svenja drückte Tami an die Flurwand. „Mehr herausbekommen.“
„Die wievielte Theorie ist das von dir.“ Tami verdrehte die Augen. „Die Einhundertsechsunddreizigste?“
„Es geht nicht um mich, sondern um Alina.“
Tami verschränkte die Arme. „Diese Tanja ist ein Mann“ – „mit Busen!“
„Er heißt Stephen!“
„Mit Dekolleté und“, Tami klopfte an ihr Becken, „mit weiblichen Rundungen.“
Svenja kicherte, strich über Tamis Hüfte und flüsterte. „Rundungen?“
Tami grummelte. „Danke. Ich hab halt keine Modelfigur. Es halt gern. Ich mein den Durchschnitt.“
Tami ahnte, was sie meinte. Sie selbst war mehr als verwundert gewesen, als sie Stephen erblickt hatte. Keinen zierlichen Mann hatte sie gesehen, sondern eine für sie bildhübsche Frau. Eine Frau, die beim Verlassen ihre Weiblichkeit präsentiert hatte. Sie stolzierte mit einer Leichtigkeit auf ihren hochhackigen Sandaletten, als hätte sie nie anderes Schuhwerk getragen, dabei schwang ihr Becken, wie es nur eine Frau aufgrund ihrer Anatomie vermochte. Nichts hatte sie mehr gemein mit Stephen.
„Hab halt mehr von meinem Vater, als von meiner Mutter.“
„Was meinst du?“
„Svenja, wo bist?“
„Hier.“
„Das einzige, was ich von meiner Mutter habe, ist ihr osteuropäisches Gesicht. Nicht einmal ihre schwarzen Haare habe ich. Dabei find ich schwarz cooler.“
„Deine Mutter hat schwarzes Haar?“
„Grad gesagt.“
„Dann ist sie nicht deine Mutter.“
Svenja zupfte an einer von Tamis Haarsträhnen. „Du hast dir die Haare gefärbt?“
„Weil’s cooler ist. Gab Ärger.“
„Von Natur aus bist du blond?“
„Hast mich doch gesehen.“
„Dann ist sie nicht deine Mutter, sondern Tanja wie ich es vermutet hatte.“
„Blödsinn.“
„Nie etwas von Mendel gehört?“
„Steh nicht auf Klassik?“
„Mendel nicht Mendelsohn. Der mit den Bohnen.“
„Bohnen?“
„Vererbungslehrer.“
Tami schlug sich an die Stirn. „Den meinst. Was hat der mit meinen Haaren zu tun?“
„Dominanz.“
„Wie?“
„Schwarzes krauses Haar ist dominanter als glattes blondes.“
„Dann hatte halt mein leiblicher Vater blondes.“
„Dominat heißt Dominat, weil es dominant ist.“
„Mach mich nicht rappelig.“
Rappelig, verrückt, schoss es Svenja durch den Kopf. Hatte sie nicht Alina für verrückt gehalten. Ihre Geschichte von ihrem angeblichen Vater, ihrer Mutter und der Frau, die sie nach einem Geschlechtsakt gesehen hätte. Konnte es sein, dass Alina es herausgefunden hatte, jedoch die Erwachsenen sie zwangen, es für sich zu behalten? Sie sich an jenem Nachmittag auf der Bank neben der Marienstatue..?
Blödsinn. Oder? Svenja revidierte die Theorie, welche sie noch vor Sekunden Tami präsentieren wollte.
Ihre Lippen berührten Tamis Ohr. „Ich habe dir gestern Nacht gesagt, dass Stephen einen Motorradunfall hatte. Soweit mir Matthias angedeutet hat“, sie leckte über ihre Oberlippe, senkte ihren Kopf und stotterte: „Er sein … Ding verloren hat“.
Tami berührte ihren Schritt. „Schniedel weg“, dann an ihren Oberkörper, „Brust da.“
„Hast du mir nicht gestern Abend gesagt, er habe ein anderes Leben geführt. Es ist einfacher, aus einem Mann eine Frau zu machen, als umgekehrt.“
„Musst du ja wissen?“, grummelte Tami.
Svenja presste ihre Lippen und runzelte die Stirn.

„Sorry“, haucht Tami. „Aber warum soll ich, du sein und du ich.“ Sie hob den Saum ihres Rockes. „Dazu dieses lächerliche Kleid tragen. Ich sehe aus wie ein Papagei. Schieß los.“
„Also Franziska hat zwei Kinder, einen Sohn Stephen und eine Tochter Jannette, die älter ist. Jannette unterscheidet sich aber von anderen Mädchen. Sie will ein Junge sein.“
„So’n Zufall. Die Geschichte kenne ich.“
„Sehr witzig!“ Svenja klopft gegen die Wand. „Jannette kommt in ein Internat.“
„Wieso?“
„Ihre Eltern arbeiten hier.“
„Ihr Bruder auch?“
„Natürlich nicht. Er ist ein Junge. Jannette will aber sein wie er.“ Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Zur gleichen Zeit, als Franziska und Anton sich entschlossen auszuwandern, stirbt Stephen. Unfall, Krankheit.“
Tami tippte an ihre Schläfe. „Seine Eltern haben ihn irgendwo verbuddelt.“
„Vielleicht ist er in einen Schacht gefallen. Habe ich mal gelesen, obwohl da war es ein Brunnen. Man hat den Typen gefunden, war aber bereits ein Skelett.“
„Dann hätten sie ihn sicherlich als vermisst gemeldet.“
„Jannette, denke Jannette.“
„Klaro! Theorie 67. Sie wird zu Stephen und baut sogar ihr Abi.“
„Oberstufe! Hat man da noch Sport? Könnte klappen.“
„Musst du wissen?“
Sie kniff Tami in die Seite. „Soll das eine Anspielung sein?“
„Nein!“
Svenja drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Angenommen. Sie wird schwanger.“
„Wer? Wann?“
„Jannette. Kurz nach oder während der Abiprüfungen.“
Tami zeigte ihr einen Vogel und zischte: „Ihr Großvater ist der Verursacher. Hatten wir schon.“
„Nee. Der Alfons dieser Nazi war ein Fiesling, aber das traue ich ihm nicht zu. Valentin.“
„Ob Großvater oder Vater spielt wirklich keine Rolle. Fantasien hast du.“
„Valentin ist nicht Jannettes Vater, sondern dieser Anton.“
„Den deine Mutter erschossen hat?“
Svenja ballte eine Faust, flechte sogleich mit den Zähnen und zischte: „Tanja ist nicht meine Mutter.“
„Sorry! Ist mir so rausgerutscht.“
Ein zweiter Kuss landete auf ihrer Wange.
„Angenommen. Die Geschichte hat Franziska der Gertrud erzählt, damit diese daran glaubte, dass Franziska ihre Tochter abgegeben hätte. Ein Junge kann schlecht ein Kind gebären. Ab mit ihr zum Vater. Dann hat meine Theorie noch ein paar Lücken, jedoch das Kind kommt zur Großmutter.“
„Alina?“
„Treffer. Jannette sagte man, das Kind wäre bei der Geburt gestorben und sie lebt weiter als Stephen. Nach Jahren kommt sie zurück nach Deutschland, lernt Tanja kennen. Die beiden verlieben sich, Tanja stellt fest, dass er kein er, sondern eine sie ist, bleibt trotzdem mit ihm zusammen. Jetzt kommt das Testament ins Spiel. Wer von wem zuerst wusste, ob Jannette erst bei ihrer Mutter war, oder erst Tanja ist schnuppe. Alina!“
„Warum klären sie es nicht einfach auf?“
„Das Erbe! Die Erwachsenen, ausgenommen Alfons und Gertrud wussten es. Aber Alina! Egal. Jedenfalls wollte Jannette die Sicherheit besitzen, dass Alina ihre Tochter ist. Selbst ausfragen konnte sie Alina nicht. Tanja übernahm dann die Rolle, ob sie Alina es eingeredet hatte, oder Alina Jannette herbeigesehnt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur eins, dass sich Tanja verquatscht hat, mich als ihre Tochter, und nicht als ihre Cousine vorgestellt hat.“
Tami schwang ihren Zeigefinger an ihrer Schläfe im Kreis. „Dahin tendiert mal wieder deine Vision. Dann kommst du gleich zu mir.“
„Ich habe keine Visionen.“
„Ja! Frau Hauptkommissarin“, sprach Tami mit Zack, salutierte und grinste. „Meine Mutter heißt tatsächlich Bärbel Tütken und ist Nonne.“
„War.“
„Komm. Lass uns erst mal weiter, sonst fängt mich jemand“, Tami zupfte an ihrem Rock, „und steckt mich in einen Käfig. Nächste Mal trägst du diese Kluft.“
„Wenn wir erwischt werden, bin ich deine Freundin, dann kann ich mich ungestört umsehen.“
Denn Trick kannte Svenja aus den Büchern mit Ricky und Blümchen.
„Vielleicht hätten wir lieber auf ihn warten sollen“, warf Tami ein.
Svenja drückte ihren Zeigefinger gegen die Brust der Freundin. „Du hast mir gesagt, er habe dir gesagt, wenn er nicht bis eine Stunde vor Abfahrt des Zuges zurück ist, sollen wir alleine los.“ Sie pochte an ein Schild, jenes in mehreren Sprachen, ferner Schriftzeichen jeder Schülerin, jedem Fremden erklärte, inwieweit der dahinterliegende Sektor tabu war.

„Boa ey!“ Tami bekam vor dem Staunen den Mund nicht mehr zu.
Die Kinder standen auf dem marmornen Fußboden eines Foyers, welches ohne Probleme einem Palast aus dem Orient den Rang ablief. Säulen aus feinstem Marmor hielten die Decke.
Svenja schloss die Tür hinter sich und zerrte Tami, die weiterhin mit riesigen Augen die Wandelhalle betrachtete, auf den roten Teppich, der vom Eingangsportal zur Treppe führte. Ein aus Granit gefertigter Aufgang mit Löwenfiguren, breit wie eine Einmann-Jolle lang, gabelte sich zur Rechten sowie Linken auf, bis er am Obergeschoss wiederum mit Löwenabbildungen endete.
Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. Konnte das sein? Sie hatte den Ort nie in ihrem Leben gesehen, nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt, trotzdem kannte sie jedes Detail. Nicht aus der realen Welt, sondern aus einem Buch, einem besonderen Buch, welches sie fesselte. Flucht über die Nordsee.
Mit dem Unterschied, dass der Autor diese Villa an die Elbe gesetzt hatte. Gab es derer mehrere Häuser? Stammte die Familie von Bernadette nicht aus Belgien? War die Geschichte keine Fiktion, sondern eher autobiografisch? Svenja verbarg ihr Gesicht, schloss die Augen. Die Hütte auf Memmert glich sie nicht gleichfalls der Beschreibung im Buch. Die Schreibmaschine. War es möglich, dass die Verschrobene, riesig Else..?
„Komm schon“, zischte Tami von der Treppe hinab.
Svenja blickte zu ihr herauf, kicherte. Mit ihrem markanten Gesicht, mit ihrem Jungenhaarschnitt glich Tami einem Buben in Blümchenkleid. Sogar die Stelle an ihrem Körper, an der sich sonst ihre Weiblichkeit zeigt, wölbte sich nichts. Sie hatte, bevor sie aufbrachen, diese abgebunden. Tami erklärte ihr die Aktion damit, dass sich sonst das Kleid zu sehr spannte, außerdem Mädchen in diesem Alter noch nicht den gewissen Umfang ihr Eigen nannten. Dabei hatte sie einen größeren Busen, als Alina, dennoch war der Unterschied minimal.
Svenja folgte ihr ins Obergeschoss.
„Das war das Bad“, informierte Tami.
Svenja schloss die Tür. „Du tust so, als kenne ich mich hier aus.“
„Was suchen wir eigentlich?“
„Weiß nicht. Beweise?“
„Wofür? Dass meine Mutter eine Nonne ist?“
„War! Denk nach, kombiniere. Wo leben deine Großeltern?“
„In Syrien.“
„Nicht die. Deine Leiblichen?“
„Habe keine.“
„Falsch!“
„Häh?“
„Jeder Mensch hat Großeltern. Du kennst sie bloß nicht.“
„Besserwisser.“
„Besserwisserin.“
Tami lehnte sich an Svenjas Körper. „Was hat dies mit meiner Mutter zu tun?“
„Eine ganze Menge. Was weißt du von deiner Mutter?“
„Alles. Ich kenne ihr Liebslingsparfüm, weiß das sie schnarcht, wie …“
„Stopp! Wo ist sie aufgewachsen? Was hat sie in ihrer Kindheit gemacht?“
Tami zuckte mit den Achseln. „Hat mich nie interessiert.“
„Sollte es aber. Tanja behauptet, sie sei deine Schwester. Du bist an einem Tag in Südafrika geboren, welchen ich bereits kannte, bevor du ihn mir verraten hast.“
„Das hatten wir schon.“ Tami verdrehte ihre Augen. „Deine sogenannte Tante Bärbel ist in Wirklichkeit ihre eigene Schwester Sophia. Denn die echte Bärbel hätte als Nonne ein Kind auf die Welt gesetzt, was natürlich unmöglich ist, klar. Daher dieses Kind ihrer Schwester übergeben. Da sie jedoch vom Sex nicht genug bekannt, ließ sie sich ein zweites Mal schwängern und reichte beim Papst Erziehungszeit ein.“
„So habe ich es zwar dir nicht verklickert. Hört sich aber witziger an. Tante Olga?“
„Gut! Gelogen. Habe mich bei dir schon tausendmal entschuldigt. Lass uns weiter.“ Tami wandte ihren Kopf von rechts nach links. „Wenn uns jemand erwischt?“
„Dann haben wir uns verlaufen“, besänftige Svenja sie, wunderte sich über ihren Ausspruch, denn Tami war die Taffere von beiden.

Svenja hatte keinen Plan. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie in der Villa mehr erführe. Sie füllte sich wie Amanda aus Joachim Friedrichs Detektivgeschichten Amanda X. Gut. Amanda hatte immer eine Strategie. Eher Blümchen? Sie konnte nicht boxen und das Blümchenkleid trug Tami. Dann halt Ricki, diese favorisierte zwar in den Geschichten Hosen, aber ihr schlichter Jeansrock kam dem nahe.
Sie stemmte ihren Fuß gegen das Türblatt und drückte die letzte am Ende der Diele befindende Eichentür auf. Ein Geruch, welchen sie liebte, stieg ihr in die Nase. Der Duft von Staub nebst antiquarischen Büchern zog sie in den Raum. Es war die Bibliothek des alten Hauses, der Geist, das Gedächtnis des Gemäuers.
An zwei Wänden, der rechts neben ihnen sowie der gegenüberliegenden, luden deckenhohe Bücherregale zum Schmökern ein. Von Links schien das Tageslicht in den Raum.
Drei Fenster bodentief mit Rundbögen erlaubten den Blick auf den Park. Davor ein Schreibtisch aus Eiche, der jedes Museum erfreuten. Ein Chefsessel, welcher seine besten Tage hinter sich hatte, stützte seine müde, kopfhohe Rückenlehne gegen den Tisch. Daneben zwei schwere tiefschwarze französische Klubsessel.
Die Wand, durch dessen Tür sie eingetreten waren, war behängt mit unzähligen Fotos. Unterbrochen durch zwei mit Gold gerahmte Ölgemälde, auf denen jeweils ergraute Herren in steifer Pose ihren Blick zum Schreibtisch richteten.

Svenja schritt ihrem Naturell folgend zu den in Leder eingebundenen literarischen Relikten. Tami zu den, dem gegenüber modernen Bildern sowie zeitgenössischen Fotos.
„Ey Svenja“, zischte sie.
Svenja verdrehte ihre Augen. „Ich heiß Tami, vergessen.“
„Ey, Tami komm mal!“
Svenja eilte zu Tami, die auf eine gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie klopfte. „Sind das nicht dein Opa und deine Oma. Ich habe ein Foto von ihnen in ihrem Haus gesehen.“
Sie schlug an Tamis Hinterkopf. „Wenn Klara meine Mutter ist, dann sind sie es nicht.“ Sie strich über den Bilderrahmen. „Recht hast du, dies sind Nahne und Oma.“
Svenja machte einen Schritt nach rechts. „Hier Franziska, Anton.“
Tami schmiegte sich an den Körper der Freundin und runzelte die Stirn.
„Franziska, Matthias Mutter, und womöglich sein Vater. Er hat ihn mir auf einem Foto gezeigt.“
Schmunzelnd tippte Tami auf das Glas. „Muss hier irgendwo aufgenommen sein.“
„Warum?“
„Das Karnevalskostüm, wie die in der Halle.“ – „Wer ist das Mädchen zwischen ihnen?“
Svenja zuckte mit den Achseln. „Vielleicht eine Schülerin?“, murmelte sie, obgleich sie ahnte, dass dieses Mädchen niemand anders als Jannette war. Aber sie hatte keine Lust darauf, wieder von Tami wegen ihrer Theorien hochgenommen zu werden.

Sie wandte sich ab, jedoch Tamis Kichern veranlasste sie, sich erneut ihr zuzuwenden.
„Was ist an dem Foto witzig?“
„Die sieht aus wie du.“
„Wer?“
„Das Mädchen.“
„Geht wohl schlecht. Müsste ich wissen.“
„Vielleicht ist sie deine Mutter, immerhin hängt hier ein Foto deiner Großeltern.“
„Du spinnst“, warf sie Tami entgegen und wandte sich erneut ab.
„Ich werd nicht mehr!“ – „Onkel Karl!“
Tami hüpfte heran. „Welcher der Magnum-Verschnitt oder der Pfaffe?“
„Magnum?“
Tami winkte ab. „Eine alte Fernsehserie, die meine Mutter immer schaut“, gab sie zum Besten.
„Der Priester ist mein Zieh-Onkel und Möchtegern Vormund.“
„Gut, habt ihr euch nicht verstanden?“
Svenja zog ihren Mundwinkel empor und zeigte ihre Zähne. „Geht so.“
„Der andere?“
Die Lippen gespitzt, verdeckte Svenja den Körper des Mannes auf dem Bild. „Den habe ich gesehen. Auf demselben Foto mit Matthias Vater und Großvater, nur dass er einen pechschwarzen Wachsmantel trug.“
Ihr Gefühl hatte sie nicht getrügt. Hier war der Ort, von dem alle Schifffahrtsweg ausgingen, der Heimathafen, das letzte entscheidende Puzzlestück. Wer mochten die Bewohner dieser Villa sein? Graue Eminenzen, deren Ziel es war, Menschen zu steuern, um sie in ihrem Sinne, wie Marionetten zu führen.
„Er sieht schnucklig aus.“
Svenja eilte zu Tami. „Wer?“
„Na, dein Freund im Anzug.“
„Er ist nicht mein Freund! Jedenfalls nicht, wie du es denkst“, zischte Svenja und schnappte nach Luft.
Matthias lächelte ihr entgegen. An seiner Seite Alina in weißen Kleid, eine Kerze in der Rechten und hinter ihm Franziska sowie Valentin.
Ihr Gefühl verstärkte sich. Kein Netz der Vergangenheit lag über dem Ort. Es spann weiterhin seine Fäden.
Svenja schlich weiter.
„Bingo!“
„Dein Freund in Badehose?“
„Quatsch! Schau es dir an!“
„Drei Mädchen am Strand und drei Mädchen im Zoo. Und?“
„Schau genau hin.“ Svenja tippte auf beide Bilder jeweils auf Mädchen. „Das ist dasselbe Mädchen wie auf dem anderen Foto, dem mit Franziska und Anton. Nur, dass sie am Strand wie neben Franzi lange blonde und auf dem anderen kurze schwarze Haare hat. Außerdem ist es kein Zoo.“
„Ich sehe Elefanten, somit Zoo.“
„Elefanten, die Büsche, das Grass, die Baüme, das ist Afrika. Wer ist folglich das Mädchen? Hä!“ Svenja wartete Tamis Antwort nicht ab. „Jannette, Stephen!“
Tami drückte den Rücken ihrer Freundin an die Wand und musterte sie abwechselnd mit den Bildern, bevor sie auf ein anders Mädchen tippte. „Ich sage doch, sie ist deine Mutter.“
„Auch Schwestern sehen sich ähnlich.“
Svenja schluckte bei ihren Worten. Eins der Mädchen sah wirklich Tanja, oder Klara wie sie sich auf einmal nannte, zum Verwechseln ähnlich.

Nun drückte Svenja Tami gegen die Wand.
„Wenn das Klara ist, dann zieht sie dir nicht ähnlich.“
„Wir sind halt nur Schwestern.“
Tami stütze sich von der Wand ab.
„Wart nicht so hastig! Mit der Dritten hast du was gemein.“ Tami wandte sich zuerst dem Foto, danach wieder Svenja zu. „Mit der Schwarten.“
Svenja zog ihre Augenbraue zusammen und zürnte: „Das heißt, wenn überhaupt dunkelhäutig. Außerdem, was habe ich die vorhin von Mendel erzählt. Ich mein natürlich die, die du...“ Sie drückte ihre Hand an Tamis Kinn. „Wenn man sich das wegdenkt, Augen, Mund, Nase?“
„Spaßvogel! Würde aber deine Theorie versenken, dass ich die Tochter dieser Jannette bin. Jedoch die Dritte …“
Svenja fuhr ihr ins Wort. „Jannette.“
„Die könnt glatt deine Zwillingsschwester sein.“
„Bringst du alles durcheinander. Erstens bist du Bärbels Tochter und zweitens habe ich dich nicht gemeint. Dein Kopf versperrte mir nur die Sicht. Trotzdem würde dein Einwand einen Riss in meine Theorie reißen.“
„Wieso?“
Svenja griff um Tami herum und klopfe auf das Foto mit Alina. „Weil …“

Das Knarren der Eichentür unterbrach Svenja. Eine Frau stürmte in die Bibliothek. Ihr angegrautes Haar unterschied sie von den Schülerinnen. Sie gestikulierte, fuchtelte mit ihren Armen. „Que faites sa ici“, harschte sie die Kinder an.



Sophia Tütken ist verschollen

„Ich wusste, dass es in diesem Album ist.“
Aaron van Düwen legte das Fotoalbum auf Svenjas Schoß, die im Seitsitz auf der Armlehne des linken Clubsessels hockte. Er zog seinen seidigen Banyan um seinen Oberkörper, richtete seine Fliege und tippte auf ein angegrautes Schwarz-Weiß-Foto.

Nicolette hatte Tami mitgenommen, um sie auf ihr Zimmer zu führen. Ihr, das Internat zu zeigen. Es hatte sich herausgestellt, dass Stephen Aaron van Düwen eine Nachricht hat zukommen lassen. Er berichtete ihm, dass er eine Tochter hätte. Sie nach vielen Jahren der Suche gefunden, die Mutter geheiratet und er das Kind, mit Absprache seiner Frau, vor dem gewaltigen Stiefvater in Sicherheit bringen wolle.
Svenja erkannte sofort ihre Fantasiegeschichte. Warum Klara ihr nicht gesagt hatte, dass Stephen ihr Vater war, blieb ihr verborgen. Jedenfalls brach ihre Theorie, inwiefern Stephen und Jannette ein und dieselbe Person war, zwar nicht ein, jedoch kam sie ins Wanken. Sie wechselte das Geschlecht, machte aus Jeannette einen Jungen, welcher ein Mädchen sein wollte und geworden war. Damit stand ihre Theorie erneut auf festen Füssen. Alle Indizien passten wieder. Zweifel an Klaras Mutter keimten in ihr auf. Niemanden konnte sie mehr vertrauen. Sie war auf sich allein gestellt. Denn, wie Nicolette erzählte, war ihre Klara, als Tanja Dohnhöfer-Tütken in der Villa erschien und hatte Svenja unter dem Namen Antonia Tütken angemeldet.

Wie lange sich Svenja bereits mit Herrn van Düwen unterhielt, vermochte sie nicht einzuschätzen. Er war auf einmal da gewesen. Nein. Die ganze Zeit, in der Tami und sie an der Fotowand standen, schlief er auf seinem Schreibtischstuhl. Erst als Nicolette in die Bibliothek platze, war er erwacht.
Einerseits schämte sie sich dafür, den Mann mit seinem schütteren weißen Haarkranz, der gebeugten Haltung, einzig gestützt von seinem Stock, auf dem ein Löwenkopf glänzte, zu belügen. Anderseits erlaubte ihr der Tausch der Identität, seinen Geschichten aus ferner Vergangenheit, in der er mehr lebte als in der Gegenwart, zu folgen.
Sie zweifelte nicht an den Aussagen des alten Mannes, obwohl seine wohl gewählten Worte sie mehr verwirrten, als ihr eine Hilfe gaben.
Er berichtete ihr, dass ihre bis vor Kurzem geliebte Großmutter, die Tochter eines französischen Hausmädchens des Hauses sowie dem Geschäftspartner seines Vaters wäre. Dieser Kompagnon, er sprach abfällig von ihm, hatte sich lange vor dem Einmarsch der Deutschen, mit einem beträchtlichen Griff in die Kasse aus dem Staub gemacht.
Da sie sich gegenüber dem Kind in der Schuld sahen, schenkten sie der Hausangestellten Rohdiamanten, welche sie in einer Spieldose seiner Schwester versteckt hätten.
Kurz nach der Annektierung wäre seiner Familie die Flucht in die Staaten geglückt, fuhr er fort. Nach der Befreiung kehrte er allein zurück und baute die Firma neu auf. Mehrere Jahre später erschien ein Mann bei ihm. Nahne Tütken. Nahne hatte seinen Namen von seiner Zukünftigen erhalten, welche den Namen van Düwen mit Großmut in ihrer Erinnerung hielt, schilderte er Svenja. Nahne erwünschte von ihm, dass er Rohdiamanten schleifen solle, da Nahne ein Hochzeitsgeschmeide für seine Braut fertigen wolle.
Er erkannte sofort das Gefäß seiner Schwester, die tanzende Ballerina mit ihren Initialen. Überwältigt, dass die Verlobte als Halbjüdin den Holocaust überlebt hätte, ließ er die Brillanten in ein Collier fassen. Er gab Ohrschmuck und Trauring mit echten Steinen, sowie ein Diadem und ein Armband, diese mit Glas besetzt, dazu.

Svenja strich über das Hochzeitsfoto. Gesehen hatte sie es bereits. Das letzte Mal sah sie dieses im Haus der Großmutter, bevor der Admiral alle Habe in Kartons verwahrte und auf dem Speicher verstaut hatte. Nur das gerahmte Foto über dem Sofa, auf dem sie alle vereint zur Ehre des goldenen Hochzeitspaares standen, verblieb an der Wohnzimmerwand.
„Aber sie kannten sie nicht. War sie nicht eine Fremde für sie?“, gab Svenja zu verstehen und dachte an den Schmuck in ihrer Schatulle.
Aaron van Düwen beugte seinen Oberkörper und knetet seine Hände. „Du hast mit Sicherheit gute Eltern, vielleicht Geschwister, Großeltern, Tanten und Onkel. Wenn niemanden auf einen wartet, ergreift man jeden Strohhalm.“
„Sie haben ihre Schwester?“
„Sogar einen Bruder hatte ich.“ Er leckte über seine dünnen Lippen. „Der ist zurück nach Europa, hat für die US-Armee“ – „Meine Schwester ist an Typhus verstorben. Du bist jung. Du kannst es dir nicht vorstellen, allein zu. Alle Verwandten, Freunde, verschleppt“, seine Stimme zitterte. „vergast.“
Ein Lächeln flog über sein mit Falten übersätes Gesicht. „Ich habe eine neue Familie“, er breite die Arme aus, „alles meine Kinder.“
„Und die Familie Tütken“, harkte Svenja nach.
„Am Anfang. Sie haben sogar in der Nachbarschaft gewohnt. Sie hatten nichts. Der Nahne war ein Draufgänger, Schwarzmarkthändler und Schmuggler. Mit ihm konnte man. Hat mir immer vorgeworfen, dass die Kapitalisten die Schuld am Krieg hatten, ohne das er Antisemit war. Sein Freund, der Alfons“, er wies zur Tür, „der Urgroßvater deiner Freundin, war da anders. Ob er Antisemit oder Rassist war, konnte ich nie einschätzen. Nationalist mit Sicherheit. Vergötterte den Hitler und seine Nasi-Bande als Wohltäter.“
Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Antonia hat mir erzählt. Seine Tochter hätte bei ihnen gearbeitet.“
„Nicht nur die Franziska und der Anton, gute Menschen, waren bei mir in Lohn und Brot, sondern ebenso ihre Schwester, die Liselotte.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie hatte mir erzählt, sie hätte Ärger mit ihrem Vater. Ich benötigte jemanden in der Verwaltung.“ Er schloss die Augen. „Es gab Differenzen.“ – „Ich musste sie entlassen.“
Svenja dachte, an die Geschichte die Franziska ihr erzählt hatte.
„Was hat Franziska gesagt, immerhin war es ihre Schwester?“
„Nichts. Lisselotte und ich haben uns im Einvernehmen getrennt. Es sollte niemand etwas erfahren.“

Svenja blättere im Fotoalbum weiter, gespannt der Bilder, dennoch mit einem Gesichtsausdruck voller Gleichmut, um ihre Wissbegier nicht zu verraten. Eine Gier, welche sein Zentrum verlassen hatte, nach Neuen strebte. Lag es an dem Flair der alten Bücher, dessen Duft sie mit jedem Atemzug inhalierte, oder an der Aura des greisen Mannes? Jedenfalls mutierte alles, was in der Vergangenheit verweilte, zur Nebensache, als ginge es ihr nichts mehr an. Sie einzig, wie ein Journalist, die Berichte aufzog.
„Sie haben gewiss die Tütkens öfter getroffen.“ Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Immerhin war Herr Tütken lange auf See. So als Kapitän?“
Aaron van Düwen schlug auf seine Schenkel. „Der Nahne und Kapitän.“ Er schüttelte den Kopf. „Zur See ist er gefahren!“, er schloss die Augen, „aber eher, um seine Schmuggeltouren zu kaschieren.“ – „Kontakt hatten wir, als unsere Kinder klein waren“, er senkte seinen Kopf, „aber nachdem die Sophia verschwunden und …“ Er sah Svenja an. „Hat dir dieses deine Freundin nicht erzählt?“
„Wir kennen uns erst ein paar Monate und sie erzählt nicht viel. Ich habe die Vermutung, sie trägt etwas mit sich herum. Ich will ihr helfen.“
„Du magst sie. Das sehe ich an deinen Augen.“
„Ja.“

„Verschwunden ist ein falsches Wort, eher verschollen. Bei einer dieser Touren ist sie über Bord gegangen. Hörte ich. Sie haben es nie verkraftet. Nicht einmal für Tot haben sie Sophia erklärt, als würde sie die See irgendwann freigeben. Ihre Zwillingsschwester, die Bärbel traf es härter, fast verrückt ist sie geworden. Nach der Schule soll sie ins Kloster gegangen sein. Seitdem hörte ich nichts mehr von ihnen. Nur, das eine oder andere was Carel mir erzählte.“
„Carel?“
„Mein ältester, ein guter Junge, ihn müsste deine Freundin kennen. Er ist Priester. Demnächst Bischof!“
„Bischof?“, wiederholte Svenja und versuchte, verwundert zu klingen.
„Du meinst, weil ich jüdischen Glaubens bin.“ Er grinste. „Meine Frau war Christin und wir haben unsere Kinder glaubensoffen erzogen.“
„Aber die Sophia ist wieder aufgetaucht?“
Die Doppeldeutigkeit ihrer Worte erschauderte Svenja.
„Wie kommst du darauf? Das hätte mir Carel bestimmt erzählt. Diese freudige Nachricht mir nicht verschwiegen.“
„Wieso?“
„Welcher Konfession bist du?“
„Katholisch.“
„Dann solltest du wissen, dass Priester das Beichtgeheimnis waren. Daher erzählt er wenig, wenn wir uns sehen und das ist selten genug. Aber, dass die Sophia wieder da ist, hätte er berichtet. Immerhin hatte er den Tütkens, bei der Trauung meiner Enkeltochter, den Segen zur goldenen Hochzeit gegeben.“
Svenja zog ihren Kopf zurück. „Ihrer Enkeltochter?“
„Josephine!“
Der Name schlug bei Svenja ein wie eine Bombe.
„Josephine Mükke?“
„Du kennst sie?“
„Antonia hat mir knapp von ihr erzählt.“
„Josephine ist die Tochter meines Jüngsten, Joos. Eigentlich ein nettes Kind, aber ihre Großmutter, ein Drachen, eine Hexe. Die haben es auf unser Vermögen abgesehen.“ Er schüttelte sich. „Widerlich! Früher, als sie klein war, verbrachte sie die Sommerferien bei uns. Sie wurde älter und die Interessen, wenn Mädchen in ein gewisses Alter kommen. Du verstehst. Sie kam kurz vorbei, wenn sie ihre Ferien auf einem Reiterhof verbrachte. Anton hatte ihr den Tipp gegeben. Der Sohn seines Bruders ritt dort. Sie hat dort Freundinnen gefunden. Ich kannte sie nicht, aber, das blieb mir im Gedächtnis, dass der Vater der Einen, etwas mit der Mutter der anderen hatte. Gerüchte. Warum nicht, waren beide alleinerziehend. Du bist zu jung, dieses zu verstehen.“

Wieder dieser Reiterhof, der Brief, das Ferienlager in der Nähe, das Wiedersehenstreffen der Freundinnen. Svenja musste sich zurückhalten. Eine der beiden war Klara gewesen, dies war ihr klar. Aber welche? In jenem Moment war es ihr egal. Denn sie wollte mehr vom Admiral erfahren.

„Dann haben sich die Tütkens bestimmt gefreut, dass Bärbel aus dem Kloster ausgeschieden ist und mit ihrer Tochter und Antonia zu ihnen gezogen?“
Van Düwen zog seine schmalen weißen Augenbrauen zusammen. „Wie kommst du darauf? Die Bärbel ist Äbtissin bei den Bernerdinnerin. Ein paar Mal habe ich sie in den letzten Jahren getroffen. Alle Mädchen können wir nicht aufnehmen!“
Diese Aussage schlug in Svenjas Gehirn ein wie eine Bombe. Der Admiral war nicht Sophia, nicht Bärbel oder hatten die Großeltern es einfach nicht erwähnt und sie gar Sophia.
„Vielleicht ist sie doch wieder aufgetaucht?“
„Wer?“
„Sophia.“
Aaron wendete sich ab. „Lass die Toten ruhen.“ Er drehte seinen Oberkörper zurück und tippte auf ein Foto. „Was man alles entdeckt, wenn man mit einem Fräulein in der Vergangenheit schwelgt? Joos und Carel mit ihrer Schatzkiste.“

Svenja betrachtete das Bild. Zwei Jungen, einer hatte den Kopf gesengt, der andere triumphierte und hob eine mit Muschelornamente besetzte Holzkiste in die Höhe.
„Thorben Raubeins Schatz. Eine von Nahnes Geschichten. Verrückt waren sie. Bis Carel Joos bei der Jagd ein Auge ausgeschlossen hatte. Wir haben dieses Ding versteckt. Zumindest ein gutes hatte es gehabt. Nahne schrieb seine Räuberpistolen während seiner Haft auf. Er konnte damit ein wenig Geld redlich verdienen.“
Die zweite Bombe zündete – Nahne in Haft und Schriftsteller?
Svenja stotterte: „Weswegen war er im Gefängnis?“
„Auf einer seiner Tour ist die Sophia über Bord gefallen ist“, er überkreuzte seine Unterarme, „da fasste man ihn auf.“
Svenja spürte, wie dem alten Mann das Erzählen anstrengte. Sollte sie weiter auf Nahne eingehen. Warum? Er war für sie immer der liebevolle, schrullige Opa gewesen. Für sie war im doppelten Sinne. Die Identität des Admirals lag ihr in diesen Augenblick näher.
„Aber Antonias Mutter heiß doch Tütken?“
„Soweit ich gehört habe, adoptierten sie die Tütkens.“
Ein Sachverhalt, den Svenja kannte. Nur hatte Klara ihr berichtet, dass sie vom Admiral …
Geistesabwesend blätterte sie weiter.

Seine Lippen verformten sich zu einem Lächeln. Er streifte über ein Foto. „Schau. Franziska, Anton, Stephen und Josephine.“
Erstaunt der Personen auf dem Bild sah sie ihn fragend an.
„Der Herr ist Anton. War mein Gärtner. Die Frau ist Franziska. Das Mädchen, er tippte auf das größere Kind, ist Josephine und der Junge, auf das Kleinere deutend, ist Stephen.“
„Junge?“, fragte sie, obgleich sie sein Gesicht bereits dreimal in dieser Bibliothek gesehen hatte. Damit stand für Svenja fest, welchen Werdegang er genommen hatte. Spielte es noch irgendeine Rolle?
Er lachte. „Unsere Regeln gelten für alle.“ Er schwang seinen Kopf. „Das einzig Gute, was ich von Alfons gelernt habe. Im Krieg sind alle gleich, tragen die gleiche Uniform. Das hilft unseren Mädchen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.“
„Aber?“
„Ist nur Kleidung, eine Hülle. Ich hatte zuerst Bedenken. Ein Junge unter Mädchen, aber Franziska war überzeugt, er genösse bei uns die beste Ausbildung. Anton war eher der Ansicht, er würde verweichlichen. Aber wer ein paar Tage mit meinen Kindern verbringt, der weiß, dass“, er breitet die Arme aus, „sie stärker sind, als alle chauvinistischen Kerle, die denken, die Welt zu regieren.“
Da belog er sie. Obgleich er diesen Jungen sichtlich in sein Herz geschlossen hatte, spürte sie an seinen zitternden Atem, dass Aaron von Düwen zwar weise, jedoch nicht frei von Vorurteilen war.
Es passte alles zusammen. Die Androgynität von Stephen, sein einerseits männliches Verhalten, anderseits seine weibliche Anmut, wenn er Gefühle zeigte. Sein Auftreten am gestrigen Abend, ganz Frau, ohne Charme, ein Kleid auf dem Körper zu tragen. Er lebte als Kind, wie ein Mädchen unter gleichen, nahm ihr Verhalten an, hatte nicht erlernt, wie ein Junge sich zu gebären. Er war wie Svenja, etwas dazwischen. Nein. Ihnen gleich geworden.

„Herr van Düwen jetzt ist es genug“, gab Nicoletta zu verstehen, nachdem sie die Bibliothek betreten hatte. „Es ist Zeit für ihre Bewegungstherapie.“
„Wie die Zeit vergeht?“, raunte er und stemmte seinen Körper, gestützt auf den Gehstock, aus dem Sessel.
Nicoletta schritt auf Svenja zu. „Das Fräulein kann sich von ihrer Freundin verabschieden und die Heimreise antreten.“
Aaron von Düwen stieß mit dem Stock auf. „Nein!“ Er strich Svenja übers Haar. „Tami ist unser Gast. Ihre Mutter holt sie morgen ab.“
Svenjas hob ihre Augenbrauen. In der ganzen Zeit hatten sie nie darüber gesprochen, wie sie wieder nach Hause kam.
Nicolette zuckte mit den Achseln und grummelte: „Dann sehe ich Mal nach, wo ein Bett frei ist“.
„Nicht nötig. Tami schläft in Seraphine Zimmer“, befahl er.
„Herr van Düwen!“
„Es wird Zeit, mit der Vergangenheit abzuschließen.“ Er reichte Svenja seine Hand. „Wir sehen uns zum Kiddush.“

Svenja trottete Nicolette in den anderen Flügel der Villa hinterher. „Nicolette“, stotterte sie. Es fiel ihr schwer, die angeraute Dame, beim Vornamen zu nennen. Obwohl ihre Haut glatt, wie bei einer jungen Frau und ihre Augen, wie bei einem Mädchen, funkelten.
„Wer ist Seraphine?“
Die Angestellte blieb stehen und wandte sich ihr zu. „Sie ist“, sie stockte, „war Herr van Düwens Tochter. Sie ist vor vielen Jahren in Namibia durch eine Landmine ums Leben gekommen. Danach haben die van Düwens das Internat gegründet.“
„Oh Gott, wie schrecklich.“
„Sie sind darüber nie hinweggekommen, aber die Schule hat ihnen geholfen. Sie waren zu den Mädchen wie fürsorgliche Eltern.“
Das Timbre in ihrer Stimme verführte Svenja. „Waren sie ...“
„Du“, unterbrach Nicolette.
„Warst du hier ebenfalls?“
„Ja! Ich habe meine Eltern nie kennengelernt. Nach vielen Waisenhäusern kam ich hier her.“
„Bist du immer hiergeblieben?“
„Nein!“ Nicolettes Gesicht verfinsterte sich. „Es ist mir eine dumme Geschichte passiert. War meine Schuld. Ich bin dann weg, kam erst vor drei Jahren zurück.“
„Wenn du als Kind hier warst, kanntest du vielleicht Lisselotte?“
Der Aufenthalt von Alinas verschwundenen Tante ging ihr nicht aus dem Sinn.
Nicolettes schüttelte den Kopf. „Sie arbeitete vor meiner Zeit bei den van Düwen.“ Sie deutete auf die Zimmertür. „Sie war Seraphine Kindermädchen und ist, so weit es mir bekannt ist, nie aus Namibia zurückgekehrt.“



Kiddusch

Einerseits war er erschrocken, anderseits erleichtert. Erleichtert darüber, dass die Kinder in Sicherheit waren, obgleich es ihn weniger schockte. Die Verwunderung, sie am Tische seines Vaters zu erblicken, schockierte ihn. Angst hatte er um die Frauen, denn wäre es nur ein Spiel von ihnen, dann hätte er den Kindern nicht ins Anglist sehen können. Befremdet war er davon, die beiden im Esszimmer zu begrüßen.
Klara musste mir ihren Mann gesprochen haben, den Stephen kannte, die sichere Zuflucht. Zumindest hatte er für sich das Rätsel gelöst. Wie bei den meisten Rätseln einfach, wenn man die Lösung erkannte, welche ihm sein Vater präsentierte. Den Wein zum Kiddusch gehoben, freute er sich, alle drei monotheistischen Weltreligionen am Tisch versammelt zu sehen.
Er stellte ihm das Mädchen als Svenja, ferner den Jungen als Antonia vor, welcher in der Dschilbab, wie eine Muslima daherkam. Im roten Kleid, mit schwarzem Kopftuch, sodass einzig das Gesicht von ihm zu sehen war. Sie waren Freunde, Freundinnen, Schwester wie sie sich bezeichneten.
Nachdem sein Vater das Esszimmer verlassen hatte, vertrauten sie sich ihm an. Sie beichteten ihm, Aaron ein wenig beschwindelt zu haben. Den Svenja wäre faktisch Antonia, obwohl sie nicht derart hieß. Stephen glaubte es, da ihre Schwester sie bei der Hochzeit, als ihre Tochter Antonia vorgestellt hatte. Ihr Freimut imponierte ihn, denn sie ahnte nicht, was die Frauen vorhatten. Seine durch die Blume dargestellte Annahme, Antonia sei eher ein Anton, quittierten sie mit einem mädchenhaften Kichern. Sie kannten sich, wie Svenja sagte, vom Ballett. Ihre Tante Bärbel sowie Antons Mutter Olga hatten sich angefreundet.
Seitdem verbrachten sie viel Zeit miteinander. Erst der Nachname von Anton, unterstrich das Geschlecht in dem orientalischen Klang des Namens, welcher ihn stutze. Olga, Olga Hashemi war seine Mutter, ihr Ehemann stammte aus dem Iran oder einem arabischen Land. Anton sagte nichts, aber sein Outfit spiegelte den strikten Glauben seines Vaters wider. Joos hatte kein Problem damit, dass ein Transgender Junge, sogar seinen Glauben als Frau lebte, nur weil er, Joos Probleme mit der Verschleierung hatte. Hieß Maria nicht seit ihrer Hochzeit Hashemi. Der Name prangte an ihrem Briefkasten. Unterumständen von vielen Familien getragenen, ein Allerweltsname, gängig in der Region. Olga? Eher sklavisch! Olga! Marias Nachbarin hörte auf diesen Namen. Zufall? Es gab Millionen Olgas auf der Welt.
Bärbel war, wie er von seinem Bruder erfahren hatte, ein herzensguter Mensch. Eins und eins blieben zwei. Das Zimmer, dass er, Joos in Bärbel Tütkens Wohnung für Klaras gehalten hatte, war das von Svenja, das andere eher jungenhaft, jenes von Anton. Denn abseits ihres Elternhauses konnte er, durfte er sein, wie er sich fühlte. Sogar das Färben der Haare gaben sie preist. Zum Unmut der Mutter wie Anton bestätigte. Obendrein war sein gewählter Vorname plausible, den allein ein I sowie ein A war vonnöten, um aus ihm ein Mädchen zu formen.
Eins wurmte ihn. Warum war Anton als Antonia bei Bärbel gemeldet und warum hatte sein Gehilfe ihm nicht gesagt, dass Svenja dort wohnte? Fehler oder Absicht? Es gab eine logische Lösung. Wenn Svenja ebenfalls Antonia hieß, dann hatten die Mädchen ihn angelogen. Nein. Er hieß ja Anton, obwohl er dieses nicht preisgab.
Sein Vater erschien wieder und er, Joos gab den Kindern den Rat, Aaron reinen Wein einzuschenken, denn es begann der Sabbat.



Der Bluff

Er dachte kurz an seinen Vater geschmückt mit Kippa sowie Tefillin, an Karel in Mönchskutte, der meist auf dem Stuhl saß, auf dem Svenja gesessen hatte. Er sah seine Mutter auf dem Platz von Anton, wie dieser in Dschilbab ihm gegenübersaß. Das Foto von Seraphine stand an Antons Seite und ihm war klar, weshalb sein Vater ihn zum Kiddusch geladen hatte.

„Joos, was störst du mich in meinem Gebet.“
„Ich dachte eher, ich störe dich bei deiner Nachtruhe.“
Karl hob die Arme gen Gewölbedecke, wobei die erdbraunen Ärmel seiner Kutte abwärts schnurrten. „Da ich mit dem Herrn, genügen mir kurze Phasen der Ruhe.“
Am liebsten hätte er ihn aus der Kutte gezogen und in den Schwitzkasten gezwängt, bis er die Taten zugab. Genau wie er es früher getan hatte, als sie Kinder waren. Wut keimte in ihm auf.
„Gib es zu, dass unter deiner Soutane kein Heiliger steckt“, schrie Joos.
Karl senkte die Arme. „Bruder! Wir haben kein Schweigegelübde, dennoch bitte ich dich, in diesen heiligen Gängen deine Stimme zu bändigen.“
Joos senkte sein Kopf und flüsterte: „Pardon“.
„Also, welcher Schandtat bezichtigst du mich?“
„Mit welcher der Frauen hast du alles Kinder: Maria, Bärbel, Sophia oder Lisselotte?“, fragte Joos, wobei er Lisselotto der Vollständigkeit halber mit anführte.
„Komm!“

Sie schritten Seite an Seite den Kreuzgang entlang.
„Ja, ich habe ein leibliches Kind. Einen Jungen, jedoch ist mir sein Aufenthaltsort nicht bekannt.“
Joos öffnete den Mund.
Karl blieb stehen, streckte ihm seine Hand entgegen. „Schweige. Lass mich erzählen.“ Er setzte seinen Gang fort. „Hättest du mich darauf angesprochen, gefragt, dann hätte ich nie geleugnet.“ Er steckte seine Hände in die Ärmel der Mönchskutte. „Es war in einem Seminar, ein paar Monate vor meiner Weihe. Sie war wie ich entbrannt vom Heiligen Geist. Wir diskutierten Tage, Nächte lang.“ Er schmunzelte. „Ein exzellenter Wein. Du kennst mich. Ein Kuss und dann … Am nächsten Morgen bereute ich. Der Teufel wäre in mich gefahren. Dabei war es eine Probe meines Glaubens. Die Nacht war nicht ohne Konsequenz, du verstehst. Sie war eine Novizin.“ Karl hob Haupt und Arme. „Bruder Vincent stand uns bei. Er hatte die gleiche Prüfung absolviert. Bei ihm ohne Folgen, dennoch einschneidend für ihn.“
„Das Kind?“
„Hat gottesfürchtige Eltern.“
„Weggeben?“
„Kennst du die größte Prüfung für einen Vater? Abraham Isaak! Hat der Herr nicht befohlen, seinen Sohn zu opfern.“
„Sie hat abgetrieben!“
„Hörst du nicht zu. Gute Eltern hat er. Lebte Isaak weiter?“
„Wie ein Stück Vieh ausgesetzt?“, donnerte Joos.
„Wir sind alle Kinder des Herrn, egal, bei welchen Eltern wir aufwachsen. Hat nicht Josef Gottes Sohn behütet, beschützt wie sein eigen Fleisch und Blut. War er sein leiblicher Vater?“
„Wer ist das Kind, wer die Mutter?“
Karl schüttelte seinen Kopf, legte den rechten Zeigefinger auf seine Lippen.
Joos war es bewusst. Sein Bruder gab ihm die Namen nie preis. Er musste es ohne seine Hilfe herausfinden, oder war er bereits auf dem Weg?

„Denke an die Geschichten von Nahne, die er uns erzählt hat, als wir noch klein waren. Denke an Bernadette, Thorben, Shila und Fiete. Denke an unsere Schatztruhe.“
„Die du immer versteckt hast und mir dann Briefe gesandt, damit ich sie bei dir finde.“
Karl blieb stehen. „Briefe? Du hast mir immer Nachrichten zugesandt!“
„Nein!“
Er bekreuzigte sich. „Das sehe als Zeichen des Herrn.“
„Eins, dann lasse ich dich wieder in dein Gebet.“
„Bitte. Frage. Entlaste dein Herz, jedoch erwarte nicht eine Antwort von mir.“
„Was hältst du als gläubiger Christ von dem Jungen bei Bärbel?“
Seine Frage, war mit Absicht unscharf gestellt, um Karl nicht Ausflüchte ins Detail zu ermöglichen.
Karl bekreuzigte sich und fiel ins Gebet. „Ich höre, du hast dich informiert, vorbereitet auf, was weiß ich nicht, vielleicht meiner letzten Mahnung dir gegenüber geschuldet. Ich werde Antwort geben, denn über dies, was ich sehe, mit meinen eigenen Augen wahrnehme und mir niemand erzählt, darf ich freisprechen. Aber gewähre vorab mir eine Frage.“
Er musste mit Vorsicht vorgehen, sonst tappte er wieder in eine von Karels Fallen. „Gern.“
„Soll ich dir als zukünftiger Amtsträger oder als Bruder antworten?“
„Was für eine Frage, raus mit der Sprache.“
„Es spielt keine Rolle, wer oder was und wo der Mensch ist, ob er unter den Lebenden oder aufgefahren. Das Einzige, was für den Herrn entscheidend ist, ist Barmherzigkeit.“
Genau diese Art von Antwort hasste er, nichtssagend, leere Hülle. Konnte dieser Mensch nicht einmal präzise sein? Der nächste Satz kam ihm eher aus Zorn über die Lippe.
„Am besten ich fahre zu Bärbel und nehm sie ins Verhör.“
„Du wirst einen weiten Weg auf dich nehmen müssen.“
„Ist sie verreist?“
„Ja.“
„Wohin?“
Karl sah auf zur Gewölbedecke und bekreuzigte sich. „Sie hat ihre letzte Reise angetreten. Sie ist an einem Ort in dem kein Leid, kein Schmerz herrscht, sondern nur Liebe.“
„Aufrichtiges Beileid.“



Seemannsgarn im Märchenland

Das Klingeln seines Telefons schreckte ihn aus seinen Gedanken. „Van Düwen“, brummelte er in den Hörer. „Frank, was gibt es?“
Dubois hatte bestimmt wie oft an seinem Erlenmeyerkolben genippt. Leicht beschwipst, lobte er sich selbst, was für ein Freund er wäre, tagelang hätte er für ihn geschuftet, obwohl er nicht einmal die Muße hatte ihn zurückzurufen. Er wusste von keinem Rückruf, saß knapp eine halbe Stunde erst an seinem Schreibtisch. Obendrein, wie kam er auf die Idee, zu einer Zeit im Dezernat anzurufen, zu welcher er nicht davon ausgehen konnte jemanden zu erreichen.
Joos kratzte sich am Nacken. Es sei den. „De Vries“, schrie Joos und wandte sich erneut dem Gespräch mit Frank Dubois zu.
„Wie neue Erkenntnisse?“
Er schrieb alles mit, was ihm Frank mitteilte, versuchte, Verknüpfungen zu finden. Epilierer, drei Personen, zwei weiblich, einer männlich kritzelte er auf einen abgerissenen Zettel, während de Vries auf ihn zutrat.
Joos legte auf und wandte sich seinem Mitarbeiter zu. „De Vries! Haben wir einen von diesen Ständern mit Papier, welches man umklappen kann?“
De Vries kratzte sich am Ohr. „Meinen sie eine Flipchart Chef?“

In der rechten Hand einen Filzschreiber, in der Linken den Zettel, krakelte er den Namen Tinette auf das jungfräuliche Blatt, zeichnete einen Pfeil und klierte Jannette an sein Ende.
Tinette, er bevorzugte weiterhin den Namen. Außerdem war ihm in Beisein von de Vries der Begriff Ex-Verlobte zu privat, sollte er, davon ging er aus, bei seinen Überlegungen sie in irgendeiner Weise einschließen, da ihr Name bereits auf der Flipchart prangte.
Er hatte sie gebeten, bekniet sich als das Geisterwesen auszugeben, um mehr zu erfahren. Gertrud war eine Verrückte, aber dies hatte er gelernt, etwas Wahres versteckte sich immer hinter verwirrten Geister. War Tinette im Alleingang weitergegangen? Hatte sie Kontakt mit Klara sowie Stephen aufgenommen? Ob sie in die Wohnung eingebrochen war, schloss er aus. Welcher Einbrecher epilierte sich die Beine, denn Frank hatte ihm verklickert, inwiefern die erste Probe, die mit den zerstörten Haaren, mit einer der Neuen übereinstimmte. Die Chance eines zufälligen Besuches strich er ebenfalls.
Er drückte seinen linken Zeigefinger an seine Wange, spreizte den rechten Unterschenkel ab, tippte mit der Schuhspitze auf den Boden und lächelte de Vries an und säuselte er mit weiblich verstellter Stimme: „Besten Dank, dass sie mir beim Reifenwechsel geholfen haben. Dürfte ich mal in ihr Bad und den Epilierer ihrer Frau benutzen“.
„Chef?“

Joos schüttelte den Kopf, schrieb Stephen, Klara direkt unter die ersten beiden Namen, klopfte abwechselnd auf den Männernamen sowie den seiner Verlobten. „Die hatten etwas miteinander!“ Er strich über sein Kinn. „Nein! Sie gab sich als die Schwester aus.“ Er deutete auf de Vries. „Lesbisch!“
De Vries zog seinen Kopf zurück und stotterte: „Ich bitte sie! Wenn überhaupt schwul oder bin ich eine Frau“.
Was man von seinen Untergebenen alles bei einer nächtlichen Diskussion erfährt, schmunzelte Joos in sich hinein. Welcher richtige Mann trinkt Malve-Tee.
Klara als Frau enthaarte sich unter Umständen, möglicherweise, ihre Beine, aber Stephen. Ein einziges Mal hatte er ihn fahrig erblickt, er war kein Bär, eher von zierlicher Gestalt, androgyn, zeugungsunfähig. Trotzdem Körperhaare mit einem Epilierer herausreißen Weiberkram. Das starke Geschlecht, zu dem Joos sich zählte, zu weich dafür, oder ihre Haare zu kräftig, fester verwurzelt. Einmal hatte ihn eine Freundin geärgert und war zu ihrer Freude mit so einem Ding über sein Schienbein gefahren. Tagelang schmerzte ihm seine Haut.

Nach Franks Information waren sie Geschwister, unter Umständen, wie sich der Rechtsmediziner ausdrücke, Cousin und Cousine. Jedoch, dies schwöre er sehr eng verwandt. Seine langatmigen Ausführungen hatte er überhört, denn für ihn zählten die Ergebnisse nicht der Weg. Joos war auf fast allen Wissensgebieten tätig, jedoch Biologie interessierte ihn nicht, außer in der Gestalt eines anständigen Roten.
Cousin, Cousine war kein Hindernis, um zu heiraten. Erstrecht, wenn sie kein Geschlechtsverkehr durchführten, jedenfalls der Mann sich nicht in der Frau ungeschützt entlud. Dazu war Stephen nach seinen Informationen nicht in der Lage.
Joos bezeichnete es als Szenario Eins Cousin-Cousine. Stephen war in Bremen gewesen, hatte seine Haare in einer Bürste zurückgelassen. Tinette hatte seinen Speichel auf den Probenträger übertragen und ein Schauer lief über Joos Rücken, er hatte sich seine Beine epiliert.
Szenario Zwei Bruder-Schwester war für Joos trivialer. Die männlichen Proben waren von Anton, oder Antonia, wie er sich nannte. Weshalb ein Junge sich die Beine epilierte, war ihm schleierhaft, jedoch möglich. Immerhin präferierte Frank es, dass sie Geschwister waren.
Joos blieb zuvor beim ersten Szenario.

Die Namen Loibl sowie Tütken flogen auf seine Flipchart. Tütken strich er durch. Stephen war weiterhin nach seiner Annahme Lisselottes und Carels Sohn. Bestritten hatte sein Bruder es zumindest nicht und soweit er es wusste, gehört hatte, war Lisselotte in einen Orden eingetreten.
Klara war Marias Kind und gab sich als Tanja, Bärbels Nichte aus. Wer war Maria?
„Lisselotte“, murmelte er, schrieb sodann den Namen versehen mit einem Fragezeichen auf das Board. Er kannte die Frau nur aus Antons Berichten.
Er spreizte seine Arme ab. „Warum hat mich Tinette zu Bärbel gelockt und mir den Jungen in Mädchenkleidern gezeigt?“
De Vries schritt auf ihn zu, tippte auf Stephens Namen. „Der?“
„Quatsch!“, zischte Joos und erzählte de Vries die Geschichte von Anton oder Antonia sowie Svenja, ohne zu viel von sich selbst preiszugeben.
„Glaube ich nicht. Die Kinder haben sie belogen.“
„Warum?“
„Chef“. De Vries kratzte sich an der Stirn. „Dass ein Junge Ballett tanzt selten. Jedoch die Tatsache als solche eher nicht beeindruckend.“ Er stellte sich aufrecht hin, hob seine Arme über seinen Kopf, mit denen er einen Kreis formte. „Habe selbst getanzt“. Er benetzte seine Lippen und nahm die Hände hinab. „Als Kind.“ Er verschränkte seine Unterarme „Aber, dass ein Tanzfreund bei der Mutter der Freundin als Mädchen herumläuft, damit sein tyrannischer Vater dieses nicht erfährt.“ Er tippte an seine Schläfe. „Absurd! Wenn ich eine Frau wäre, sogar eine Busenfreundin hätte, die Derartiges von mir verlangen würde? Wissen Sie, was da alles dranhängt. Falls er zum Schluss ein Mädchen werden will, die Untersuchungen, Hormon sowie der ganze Rest. Dann ist der Vater sogar Arzt. Das gibt Ärger. Nee! Die sind verwandt.“ De Vries lehnte sich zu Joos vor. „Blut ist dicker als Wasser.“

Am liebsten hätte er ihn umarmt, geküsst. Er hätte ihm, de Vries bestimmt Freude bereitete. Er hatte für ihn zwei Probleme mit einem Satz gelöst. Nein, drei!
Sein Vater berichtet ihm vor Jahren beim Essen, dass eins der beiden Tütken Mädchens abgehauen wäre. Nahne hatte ihm nie dergleichen erzählt. Fazit. Sie war wieder zurück.
Die Nachbarin von Maria, als er mit ihr verkehrte, hieß Olga, wie die Mutter von Anton. Er blieb bei dem Namen. Das Geschlecht spielte keine Rolle. Dann hatte Maria nicht ihm ihre eigene Adresse anvertraut, sondern die der Freundin. Welchen Grund sie gehabt hatte, schob er erst einmal beiseite.
Oder Olga war Sophia. Nur warum hatte sie ihren Namen geändert? Klara hatte Anton erschossen und sie war auf der Flucht. Die grazile Svenja war somit Tanjas Girl. Dann hatte sie einen Wurm. Sein Kind? Sie war aus dem Wagen gesprungen. Sie waren sich ähnlich. Tanja inhaftierten sie als Klara, davon ging er aus. Klara verzog mit Bärbel sowie der Tochter ihrer Freundin nach Deutschland und lässt ihr Eigenes zurück. Was für eine Mutter?
„Sie glichen sich wie Bärbel und Sophia“, donnerte er de Vries entgegen.
„Wer?“
„Klara und Tanja? Sie haben ihre Rollen getauscht.“ Joos tippte sich an die Oberlippen. „Na ja, sie kennen sich scheinbar aus, ein Mann, welcher eine Frau werden will, somit, wie sie sagten, Hormone schluckt, kann der ein Kind zeugen?“
Er schloss sein Auge. Vaginalabstrich. Nicht notwendig!
Der Vermerk brachte ihn wieder auf diese Annahme. Denn es war absolut unsinnig, bei einem Jungen ein Vaginalabstrich zu nehmen. Außerdem entließ man Stephen aus einem Frauengefängnis.
Total absurd, wenn er nach dem warum fragte. Vernachlässigte er seine Frage nach dem Sinn, konnte er weiter spekulieren.
Die von ihm angenommen Verwandtschaft, erklärten zumindest Klaras und Stephens Ähnlichkeit. Joos schluckte. War dies es, was Tanja alias Stephen ihm in Antons Geländewagen beichten wollte?
„Nee! Aussichtslos. Warum?“, konterte de Vries, worauf Joos nicht weiter einging, denn er hatte seine Annahme bereits revidiert.

Joos klopfte auf den Schriftzug Stephen. „Er epilierte sich die Hachsen! Würden sie, wenn sie immer eine Frau sein wollten, sich aber als Mann ausgeben, sich nicht einmal herausputzen, ein süßes, verführerisches Kleid anziehen, ihre Beine zeigen.“
„Habe mir bis jetzt keine Gedanken darüber gemacht. Was soll die Anmache überhaupt? Glauben sie nur..?“
„Still! Ich muss nachdenken“, fuhr ihn Joos ins Wort.
Aufgewachsen in einem Mädcheninternat, sinnierte er. Gekürt zu einer Prinzessin, dann zum verknöcherten Großvater.
„Alfons hätte ihn verdroschen, wenn er in Mini und High Heels vor ihm getanzt hätte.“
„Alfons ist der Vater von Anton?“, schlussfolgerte de Vries.
„Nein! Aber Anton ist nicht verkehrt. Er ist zu seinem angeblichen Vater nach Lesotho, der wusste, wie er war.“
„Ich verstehe nur Bahnhof!“
„Nur ein kurzer Weg. Stephen trifft wieder auf Tanja. Sieht sie oder hörte von ihr. Sie zeugten ein Spross und erst danach ließ er sich …“ Joos fasste sich instinktiv an den Schritt. „Unser Kind?“
De Vries griente. „Biologisch nicht möglich.“
„Sie hatten die Identitäten getauscht. Sie gab nicht vor Tanja zu sein. Sie war es. Folglich hatte Klara ihr Baby verloren.“
Identität hallte es in seinem Kopf nach. Bezüglich der Haarproben schwang er auf das zweite Szenario. Warum, es sprach für ihn nichts dagegen, außer, dass es unangenehm war. Gab es ein Verbot? Durfte sich ein Jugendlicher nicht die Beine epilieren? Damit trenne er beide Geschichten und er konnte sich auf das Wesentliche konzentrieren.

In Gedanken reiste er erneut in die Scheune. Was hatte er gesehen? Ein blondes Mädchen, gefesselt auf dem Boden liegend. Ihren Namen erfuhr er erst später. Alles andere, was in der Scheune vorgefallen war, hatte ihm Tinette und Klara erzählt. Von wem es Tinette erfahren hatte, denn, und er war sich sicher, schob er erst einmal beiseite. Er verknüpfte erneut Tanja und Jannette. Jannette, das Mädchen, welches nach seiner Annahme, jemand im Internat seines Vaters versteckt hatte. Er hinterlegte keine Namen, um sich nicht abzulenken. Konnte dieses Kind ein unbeschwertes Leben führen? Ja. Ja, es wäre, jemand hätte es enttarnt. Warum?
Er schüttelte sich. Er durfte nicht, nachdem warum fragen. Ihr damaliger Zugriff, um die Mädchen zu befreien, die Hintermänner zu fassen, war der Ansatz. Niemanden würde sich darüber Gedanken machen, wenn ein Kind aus dem Internat zufällig, weil es sich in der Scheune aufgehalten hatte, in die Fänge von Mädchenhändlern geriet. Damit wurde ihr Aufenthalt von vornherein geplant. Deshalb hatte sie niemand untersucht. Alle Beteiligten wussten, dass ihr kein Einziger ein Leid zugefügt hatte. Klara und Josephine waren die Fremdkörper, sie einfach fortjagen, war eine Option gewesen. Er hätte es nicht getan.
Eine Entführung zu inszenieren, um diese im Nachhinein als Kinderspiel auszugeben, ein denkbarer Weg. Ein Weg, den er nie geschritten wäre. Oder? Wie hätte er in dieser Situation reagiert? Sein Magen zog sich zusammen, welches Schwein hatte Klaras Hilflosigkeit ausgenutzt.
Er machte sich Vorwürfe. Hatte er Schuld auf sich geladen?

Joos stürmte zu seinem Schreibtisch, riss die oberste Schublade auf, schleuderte die Mappe mit dem kindlichen Skript neben sein Laptop, fischte einen Zettel heraus und drosch auf ihn ein und grummelte: „Falsche Fragen, falsche Antworten!“
Er hatte Frank gebeten, die Verwandtschaft zu analysieren. Seine Frage war jedoch nicht die Richtige gewesen. Er hatte sie einem Wissenschaftler gestellt, hätte sie präziser formulieren müssen. Inwieweit ist Probe C für ihn Klara, mit Probe A Bärbel sowie Probe B verwandt, zu unscharf. Denn er ging zu dieser Zeit davon aus, dass B der Junge, somit Anton war. Er hatte sich eine Meinung gebildet und verlangte von Frank einzig eine Bestätigung seiner Annahme.
Einen haarsträubenden Ermittlungsfehler hatte er begangen. Wie oft trichterte er den Grünschnäbeln ein, dass, egal welche Vermutung sie hätten, immer nach allen Seite zu ermitteln wäre. Das Positiv hinter C war nur eine Kontrolle. Bei A las er negativ.
Somit war Bärbel, weder mit Klara noch Anton verwandt. Da jedoch Sophia und Bärbel Schwestern waren, war Sophia nicht deren Mutter. Blieb für ihn nur eine Frau übrig. Eine Frau, die er des Öfteren schon im Visier hatte. Liselotte. Sie war die Novizin, mit der Karl ein Kind hatte.
Er musste ein weiteres Mal mit Frank sprechen. Er wählte seine Nummer, aber er ging nicht ran.

Er betrachtet sein Kunstwerk, strich bei Stephens Name das zweite e schrieb ein a hinüber und ergänzte den Namenszug mit einem i, kreuzte Jannette durch und kritzelte den Namen seiner Tochter darüber.
Dann verbannt er Klara sowie Tinette mit einer Linie. „Sie hatte etwas mit ihr.“
Er dachte an Tinettes Illustration des Liebesspiels in der Scheune. Verwandelte Klara mit Josephine. „Sie hat etwas mit ihr.“ Klara und Stephanie verbündeten sich. „Mit ihr.“ Vielleicht hatte sich Tinette gleichermaßen bei Josephine eingeschlichen. „Mit ihr“ – „Mit ihr“- „Mit ihr!“
Er wiederholte es, bis jede mit jeder verbunden.
Joos stieß de Vries an, welcher mit halb geschlossenen Augen auf seinem Schreibtischstuhl langsam wegdämmerte. „Was sagt uns das?“
De Vries stöhnte. „Zickenterror hoch vier. Das wird blutig.“
Er hatte auf einmal nicht nur drei, sondern vier Frauen, eine davon ein einstmaliger Mann. Oder? Josephine, obwohl Blödsinn, schloss er mit ein.

Keuchend stützte er sich auf seinen Schreibtisch ab, trommelte auf der Aktenmappe. Er schlug sie auf und dachte in diesem Augenblick an seinen Bruder. Was hatte er ihm gesagt? Denk an die Geschichten von Nahne, jene er uns erzählt hat, als wir Kinder waren. Denk an Bernadette, Thorben, Shila sowie Fiete.
Entziffern konnte er wenig vom Text. Einzig die Überschrift und einen Namen Bernadette entschlüsselte er.
„Sie kennen sich doch mit Computern aus.“
De Vries gähnte. „Soweit ja.“
„Bekommt man Bücher?“
Es war eine Idee. Sein Vater hatte ihm mal erzählt, Nahne hätte im Knast geschrieben.
„Wo?“
Er klappte den Deckel seines Laptops auf. „Im Internet?“
„Viele ja. Alle nicht.“
„Kinderbücher?“ Er drehte de Vries den Rechner zu. „Fangen sie an?“
De Vries zuckte mit den Schultern. „Titel? Autor?“
„Nahne Tütken.“
„Nee!“
Joos strich mit dem Zeigefinger über die Überschrift des Skriptes. „Flucht über die Nordsee.“
„Drei Treffer.“
„Soll ich ihnen alles aus der Nase ziehen. Details!“, erboste sich Joos.
„Kram – verrissenes Werk nicht verfügbar.“
„Weiter!“
„Aim Hornby“
„Anschauen!“
„Nicht fertig! Schriftstellerportal. Leselupe“
„Nächste.
„Alter Schinken von einer Else von Memmert als E-Book verfügbar.“
„Herunterladen“
De Vries tippte auf den Bildschirm. „Das muss man bezahlen!“
„Tun sie es. Immer weiter klicken. Mache ich genauso.“
Seine Stirn gerunzelt, starrte ihn De Vries an. „Ihre ganzen Kreditkartendaten sind auf ihrem Dienstrechner? Wenn die jemand abfischt, dann sich bei ihnen bedient“, gab er zu bedenken.
Joos schlug mit der Faust auf den Tisch. „Es ist mein Computer und Geld spielt keine Rolle.“
„Bitte, ich wollte sie nur warnen.“
„Hat diese Memmert andere Bücher geschrieben?“
„Ja.“
„Darunter Shila oder Thorben?“
„Nee.“
Joos trommelte auf die Tischplatte. „Suchen sie Shila. Prinzessin Shila!“
„Volltreffer. Ein Roman“, triumphierte De Vries. „Prinzessin Shilas Weltraumabenteuer.“
„Kaufen! Hat der Autor andere Bücher?“
„Paul Krüger“, murmelte De Vries beim Tippen. „Eine ganze Menge.“
Joos fuchtelte mit den Händen. „Etwas mit Thorben dabei.“
„Thorben Raubein. Mehrere Bände. Eins verfügbar.“
„Her damit! Sie kenne sich gut mit Computer aus?“
„Geht so.“

Er musste tiefer bohren, um zu klären, wer Klara war und daraus sein Handeln abstimmen.
„Ist es möglich, um diese Uhrzeit in Erfahrung zu bringen, ob jemand in Belgien geboren ist?“
De Vries reckte sich, wandte seinen Kopf. „Das Netz kennt keine Nachtruhe, dennoch ist es illegal ohne Beschluss.“
„Das ist mir bekannt. Sie kennen meine Ansichten“, zürnte Joos. „Können sie es?“
„Ich kann.“
„Deutschland?“
„Nee!“ Er kratze sich am Hinterkopf. „Aber ich kenne jemanden.“
„Vertrauensvoll?“
„Keinen Schimmer! Ich habe sie in einer Bar kennengelernt.“
Joos zog seine Augenbrauen herauf und er rümpfte die Nase. „Sie!“
„Nur weil ich schwul bin, heißt es lange nicht, dass ich mich nicht mit Frauen abgebe“, erboste sich de Vries.
„Entschuldigen sie. Bitte!“
„Sie ist gut. Haben zwei Nächte im Netz gehackt.“
„Können sie sie anrufen?“
„Um diese Uhrzeit?“
„Sind diese Hacker nicht meistens nachts unterwegs.“
„Wird teuer.“
„Geld spielt keine Rolle.“

Joos klappte seinen Laptop zu, stopfte seine Unterlagen samt Skriptmappe in seine Aktentasche, dann wandte er de Vries seinen Rücken zu. „Rufen sie bitte Wouters an, um sechs Uhr zugriff beim Wehrmachtbunker.“
De Vries zog seinen Kopf zurück und schüttelte sich. „Chef es ist zwei Uhr nachts, außerdem gibt es unzählige von diesen Betondingern.“
Joos drehte sich um. „Anrufen! Das ist ein Befehl. Er kennt den Bunker.“
Die Nase gerümpft, deutete de Vries mit flacher Hand auf Joos. „Sie gehen jetzt Heim ins Bett oder wie?“
Joos streichelte den Laptop. „Nein. Lesen!“



Befreit Alina

„Hier steckst du“, schnaufte Svenja gleich einem Marathonläufer nach dem Zieleinlauf und tappte auf Tami zu. „Ich habe dich bereits überall gesucht. Hier kann man sich glatt verlaufen.“
Tami unterbrach das Striegeln. „War kurz ausreiten.“
Svenja blieb im sichereren Abstand vor dem Pferd stehen. „Du reitest?“
„Du nicht?“
Svenja zog ihren rechten Mundwinkel empor. „Ich kann Pferde nicht ausstehen.“
Tami beugte sich hinab, nahm eine Bürste aus dem Putzkasten und hielt diese ihrer Freundin unter die Nase. „Komm, hilf mit! Dann bin ich schneller fertig.“
Die Augen aufgerissen, wisch Svenja einen Schritt zurück.
„Mayfair beißt nicht“, winkte sie Svenja heran. „Meine Hose steht dir.“
Svenja sah an sich hinab und keuchte: „Na ja! Vielleicht gewöhne ich mich daran“. Dann trat sie zögerlich näher und übernahm die Bürste. „Ich wollte dich zum Frühstück holen!“
„Habe bereits in der Gruppe gefrühstückt.“ – „Ich bleibe!“
„Wie?“
„Ist toll hier! Die Mädchen sind schrill und“, sie hob ihre Schulter, dabei klopfte sie auf das Ross, „ich kann reiten, eine riesige Schwimmhalle, Sportplätze …“
„Aber?“
Tami winkte ab. „Mit meiner Mutter habe ich gesprochen, die hält mich für verrückt …“
„Äh!“
„Herr van Düwen ist einverstanden. Na ja, der Platz war eh an dir vergeben.“ Sie lachte und stieß ihrer Freundin in die Seite.
Tami hob den rechten Zeigefinger.
„Mit Mädchen komme ich zurecht, war ja eh auf einem Mädchengymnasium und die haben hier echt krasse Schicksale. Nicht alle! Laufen auch Normale herum.“ Sie biss auf ihre Unterlippe. „Autsch. Meine, welche nicht aus Kriegsgebieten, solche wie du und ich.“
Svenja senkte den Kopf und zupfte an ihrem Ohrläppchen. Sie hatte ebenfalls mit ihrer Mutter Klara telefoniert, obgleich der Gedanke sie Mutter zu nennen, sie belaste.
Svenja hatte Klara vorgeschlagen, bei ihrer Mutter zu leben sowie auf Tamis Schule zu wechseln. Die Idee erbaute Klara kaum, aber sie versicherte, mit ihrer Mutter zu sprechen. Sie versprach Svenja, dass sie am Nachmittag bei den Düwens ankäme, dann könnten sie über alles, wobei sie alles betonte, reden.
Bevor sie das Telefonat beendet hatte, erzählte ihr Klara sachlich, als gehe es ihr nichts an, dass Karl sie benachrichtigt hätte, Bärbel sei im Krankenhaus verstorben.
Keine Trauer keimte in ihr auf, derart fremd war die Tante ihr geworden.

„Außerdem kann ich ein Jahr eher mein Abitur bauen. Richtig international und so.“
Svenja verkniff sich Tamis Euphorie, durch ihre Pläne zu bremsen. „Dein Freund?“
„Ach der. Der find eine andere. Männer eben. Wollt eh im Herbst nach Leipzig studieren.“
Svenja legte die Bürste zurück und murmelte: „Ich gehe dann Frühstück“, dabei wandte sie sich ab.
„Wir sehen uns später“, rief Tami ihr hinterher, während sie die Mähne des Pferdes kraulte.

Svenja stöberte. Wie ein Museum war Seraphine Zimmer. Als wäre die Zeit stehen geblieben, mit ihrem Tod eingefroren. Ihre Puppen, ihre Teddybären standen in Reihe und Glied auf einem Regal. Ihre Schulbücher, ihre Schreibutensilien ruhten geordnet auf dem Schreibtisch. Die Poster von Agnetha, Frida, Benny sowie Björn hingen, überragt von einem Banner mit der Aufschrift ABBA an der Wand. Die Bravo-Hefte vor dem Bett, in denen Svenja in der Nacht geschmökert hatte, deren Texte abwichen von dem, was sie in modernen Mädchenzeitschrift gelesen hatte, obwohl die Naivität, der Botschaften sich glichen. Keine Frage, ob oder wie sie ihren Freund Oral befriedigen solle, genauer gesagt ein Zungenpiercing die Lust steigerte, dafür eine erflehte Frage, ob ein Girl von einem Zungenkuss schwanger würde.

Zum Schlafen kam sie ohnehin nicht. Dass Nahne gern Seemannsgarn spann, kannte sie, aber er seine Geschichten aufgeschrieben und unter einem Pseudonym veröffentlicht hatte, verwunderten sie. Dann las er ihr die Abenteuer von Thorben Raubein vor. Dies war für sie zu viel des Guten.
Sie grübelte darüber nach, was alles aus seiner Feder stammte. Ihr Smartphone konnte ihr nicht weiterhelfen, der Akku war leer und das Netzteil ruhte auf der Sophia.
Prinzessin Shila war ein Kandidat für sie. Immer wieder las er ihr die Abenteuer vor. War nicht in jeder Seemansgeschichte ein wahrer Kern.
Allein bei dem Gedanken daran lief ihr ein Schauer über den Rücken. Der Admiral Gerana und sie Shila, welche die Tante und Mutter besiegt hatte.

Mehr hingegen als die Gedanken an Nahne quälten Svenja die dauernden Überschneidungen ihrer Vita und ihren Nächsten mit dem Haus van Düwen.
Nachdem Joos fluchtartig das Esszimmer verlassen hatte, klärte Svenja Herrn van Düwen auf, wer sie in Wirklichkeit war. Kein Wort des Zorns kam über seine Lippen, sondern nur ein kindliches Schmunzeln, begleitet von einem Streicheln über Tamis Wange.
Ihre Freundin sengte daraufhin verschämt ihr Gesicht, erklärte Svenja, dass sie nicht das erste Mal auf dem Anwesen wäre. Nie hätte sie Svenja in ein fremdes Haus geführt. Mit ihrer Mutter war sie gelegentlich hier gewesen, sie war meist bei den Pferden, den Olgas Interesse war beruflicher Natur.
Aaron van Düwen erzählte, dass Maria Olgas Freundin vor grauer Zeit eine Liaison, wie er es bezeichnete, mit seinem Sohn Joos hatte. Dieser Bund war nicht auf Dauer. Nach seinen Worten war Joos verbissen der Ansicht, dass Klara seine Tochter war.
Erstaunen zeigte sich in seinem Gesicht, nachdem Svenja ihm berichtet hatte, wer der Vater ihrer Mutter war.

Svenja streifte sich ein luftiges kurzes Sommerkleid über, dessen Farbenfreude den Schuluniformen nahestand, schlang einen handbreiten Ledergürtel um ihre Taille, setzte sich auf das Bett und schlüpfte in die Sandaletten der ehemaligen Bewohnerin.
Herr van Düwen hatte es ihr gestattet, die Kleider seiner Tochter zu tragen. Er hatte sie, Svenja in ihrem Festtagsgewand am gestrigen Abend mit einer Träne im Auge begrüßt.
Sie storchte zum Schreibtisch, verfluchte kurz die Wahl der Schuhe. Mit hochhackigen Festtagsschuhen zu schreiten gelang ihr, aber auf Konservendosen ähnlichen Plateausohlen, eine passable Figur abzugeben, etwas anders.
Es war die Mode der Zeit, in der Seraphine mit dreizehn Jahren die Welt verließ, wie Nicolette ihr gesagt hatte.
Svenja legte eine Kassette in den Walkman, den sie jungfräulich verpackt gefunden hatte. Ein Gerät, welches Seraphine nie gesehen hatte.
Sie fasste an ihr Ohrläppchen, öffnete erneut den Kleiderschrank, zupfte an ihrer Nase. Der gesamte Inhalt typisch Mode Ende der siebziger. Sie schritt zum Bett, durchwühlte die Mädchenzeitungen, studierte die Erscheinungsjahre. Datumsangaben der Siebziger, Achtziger, Neunziger des vergangenen, sowie welche des jetzigen Jahrtausends erblickte sie. Ein weiteres Mal erforschte sie die Musikkassetten Modern Talking ebenso Robbie Williams las sie.
Sie zuckte mit den Schultern und nahm sich vor dieses Paradoxon später mit Tami zu besprechen. Bevor sie das Zimmer verließ, wandte sie sich ein letztes Mal einem Standspiegel zu, ging auf diesen zu und stich über das Glas.
„Seraphine“, flüsterte sie, wobei ihre Finger über ihr Kleid glitten. „Seraphine.“
Sie klickte das Abspielgerät an den Gürtel, klemmte den Kopfhörer über ihren Kopf und drückte die Starttaste.
„Dancing Queen. Feel the beat from the tambourine“, sang sie den Titel mit, tapste in den Flur, tänzelte anschließend in die Küche, in der das Frühstück seit geraumer Zeit auf sie wartete.
Sie biss in ihr Marmeladenbrötchen, sang die Songs mit und schwang ihren Oberkörper im Dancingtakt. Einen Moment fühlte sie sich noch fremd, dann nahm der Geist der Villa sie auf eine Reise. Glück umschmeichelte sie.

Schatten flogen an der geöffneten Küchentür vorbei, spiegelten sich an den Küchenfenstern. Sie schaute über ihre Schulter, nahm den Kopfhörer ab.
Stimmengewirr schlug ihr entgegen. Sie stand auf, schritt in den Flur. Die Stimmen drangen aus der Bibliothek.

Sie verdeckte ihren Mund. „Papa, mon
père!“
Der alte Mann saß, lag im linken Klubsessel, ein Arzt gab ihm eine Spritze und zwei Sanitäter bereiteten eine Trage vor.
Nicolette kniete vor ihm, hielt seine Hand und brummelte: „Sie haben sich zu sehr aufgeregt“. Umgehend wandte sie ihr Gesicht dem Mädchen zu und sah sie unversöhnlich an.
Sie schlich näher.
Nachdem Aaron van Düwen sie erkannt hatte, winkte er sie zu sich. „Seraphine!“
Sie kniete sich zu seinen Füßen nieder, Nicolette zu ihrer Rechten, der Arzt über den Alten gebeugt.
Nicolette zischte: „Ein Herzanfall.“
Svenja schaute zu van Düwen herauf. „
Je suis d’accord.“
„Ich bin nicht senil“, flüsterte er, dabei hechelte er nach Luft. „Du gleichst ihr.“ Er überreichte ihr einen Briefumschlag und stöhnte: „Habe ich gefunden! Ganze Nacht gesucht!“
Svenja erwachte wie aus einer Trance. Sie wusste weder, was geschehen war, noch was sie tat, geschweige warum Nicolette sie derart erbost anstarrte. Eins, nur eins vermochte sie aufzunehmen, dass es dem Herrn van Düwen alles andere als gut ging. Sie faltete den Umschlag, flüsterte dabei: „Sie müssen wieder gesund werden“.
Sie steckte den Umschlag hinter ihren Gürtel und sah den alten Herrn fragend an.
„Wie damals“, ächzte van Düwen. „Alina entführt!“



High Noon mit dem Marshall

Die Sanitäter trugen den auf der Trage liegenden Herr van Düwen die Treppe hinab. Der Arzt mit geschultertem Rucksack folgte, gefolgt von Nicolette sowie Svenja.
Das Rettungsteam verließ die Villa und Svenja packte an den Oberarm von Nicolette. „Alina wurde entführt?“
„Ja!“, schrie Nicolette. „Wie ein Fluch und immer ist ein Tütken dabei.“
„Wie?“
„Erst seine Frau, dann seine Tochter, danach seine Enkeltochter und jetzt …“, schäumte Nicolette.
„Urenkel?“, vervollständigte Svenja den Satz.
„Ja! Nein!“ Nicolette streckte ihre Arme nach oben. „Es war ein Gerücht in der Lehrerschaft.“

Svenja rannte los. Sie braucht Nicolette nicht weiter zuzuhören. Das letzte Puzzlestück passte perfekt. Es ging nie um sie, sondern immer um Alina. Die mysteriöse Jannette, die van Düwens, die Tütkens, sowie die Loibl alles schloss sich zusammen. Sogar Lisselotte Franziskas Schwester flocht sie mit ein. Warum verließ eine Frau das elterliche Heim? Ehre! Matthias' Worte erklangen erneut in ihrem Gehirn. Sie hatte es, weil es derart widerwärtig war, abgetan. Lisselotte war die Mutter und ihr Vater, der Brechreiz schnürte Svenja die Kehle ein, sein Vater. Nein. Sie erwiderte sich, ihr Vater. Stephen war Jannette und sie war ein Mädchen. Klar, dass Lisselotte ins Kloster ging. Die Scham, die unendliche Pein hatte sie getrieben. Franziska nahm das Kind als das ihre an. Nein! Stephen. Stephen. Svenja zermarterte ihr Gehirn.
Alfons und Nahne waren bis zum Tode Freunde und befreundet mit van Düwens.
Sie rannte, stolperte über ihre hohen Absätze, schlug auf dem Weg auf. Obendrein rutschte sie über den Kies, bis ihre Knie bluteten. Sie zerrte die Schuhe von ihren Füßen, warf sie ins Gebüsch, stand auf und stürmte weiter.
Klar! Auf das Einfachste war sie nicht gekommen. Franziska hatte ein eigenes Kind. Einen Jungen. Stephen! Es stand bereits von vornherein fest, dass dieser den Hof erben würde. Dieses Schwein von Alfons lebte in einer Welt, in der allein die Männer das Sagen hatten. Es war in dieser erbärmlichen Weltsicht unmöglich. Keine Frau konnte das Oberhaupt sein. Stephen war tot. Gestorben als Kind. Es existierte kein Erbe mehr, dennoch verlangte Franziska nach ihrem Erbe. Zumindest sollte es in der Familie bleiben. Quatsch! Matthias? Wie sollte Franziska wissen? Keine Frau weiß, ob, wann, oder welches Geschlecht ein weiteres Kind hat. Das Risiko war enorm. Sie gab Stephen als Jannette aus, steckte es in das Internat, in dem sie gearbeitet hatte.
Gleichsam Blödsinn. Die Lehrer mussten es festgestellt haben. Derart blind vermochte niemand sein. War auch niemand. Von wem hatte sie, Svenja es erfahren. Der alte van Düwen hatte sie belogen, wie sie ihn belogen hatte. Er musste die Fassade aufrechthalten. Die Zeitschriften, die Kassetten? Van Düwen empfand mehr für Jannette, als es einem Internatsleiter zukam. Er nahm sie, zumindest zeitweise in seine Familie auf, machte sie, Svenja keuchte, zu seiner Tochter.
Sie schrie: „Blödsinn“, rannte, so schnell sie konnte und versuchte, ihre Gedanken mit ihrem Lauf zu synchronisieren.
Jannette war ein Mädchen. Sie gaben sie nur gegenüber van Düwen als Jungen aus. Nackt hatte er sie bestimmt nie gesehen, das traute sie dem alten Herrn nicht zu.
Dieses bewiesen Svenja die Fotos. Denn weshalb sonst stellte er sie auf die Ebene seiner Enkeltochter. Eins bereite ihr sorgen, krampfte ihren Magen. Bei zwei Fotos posierten drei Mädchen. Eins davon, wie Tami ihr aufgezeigt hatte, ihr, Svenja, wie aus dem Gesicht geschnitten. Hatte ihr Tami nicht gebeichtet, dass sie in der Vergangenheit zusammen mit ihrer Mutter das Internat aufgesucht hatte. Lag es da nicht nahe? Klara.
Das Dritte war Klara, oder Tanja, der Name spielte keine Rolle. Welche Freundinnen reisten nach Afrika, wenn sie nicht ganz dicke waren.
Svenjas Gedanken überschlugen sich wie ihre Beine. Den Grund von Jannettes Reise hatte sie bereits mehrmals in Betracht gezogen. Wieder von diesem widerwärtigen Mann, welcher seine Familie terrorisierte. Konnte ein Mensch derart weit sinken, mit dem Teufel ein Pakt schließen, und gleichfalls seine Enkeltochter. Nein. So weit vermochte sogar nicht einmal sie ihre Fantasie strapazieren. Blieb einzig einer. Valentin. In der Angst seine Schandtat erblickte die Welt, gab es für ihn eine Lösung. Jannette und Tanja waren dahintergekommen, suchten einen sicheren Hort.

Svenjas Gedanken sprangen. Sie dachte an Klara. Wie lange hielt es eine Mutter, getrennt von ihrem Kind, aus. Lisselotte entführte ihre Tochter, ein Unterfangen, welches ihr misslang. Wohin wollte sie ihr Kind verbringen? Weg. Weit weg. Südostasien! Dann war Sophia, Nahnes Tochter, somit Bärbels Schwester lediglich verschollen. Der Tausch der Identität ein Mittel zum Zweck, wie bei Tami und ihr am gestrigen Tag.

Svenja blieb stehen, stützte sich auf ihren blutenden Knien ab. Sie betrachtete ihre blutroten Handflächen.
Zeitfehler! Erst ist Sophia mit Doc nach Südostasien. Obendrein nahmen sie Bärbels Kind als das Ihrige an. Dann drängte es ihr zum eigenen Spross. Sie koren Südafrika zum Fluchtziel aus. Es waren alles Gefühle, das Herz regiert den Verstand.
Karl! Blut ist dicker als Wasser.
Die Annahme des Lehrstuhls, den Karl eher wider fahrig ausgeübt hatte. Die gemeinsame Wohnung in Bremen, nur geplant, damit sich die Familie vereinte.
Svenja strich Alfons als Erzeuger von Jannette, baute dafür Karl ein. Ein Priester und eine Nonne. Ein Priester und die Schwester der Nonne. Ähnlichkeiten. Verwechslungen.
Dann der Unfall. Sophias Tod, Tanja Tod, allein das Enkelkind lebte. Nein! Zwei Enkelkinder lebten. Ein weiteres Mal den gleichen Fehler machen? Nein. Das Kind musste in einen sicheren Hafen. Der sicherste Ort war der von Freunden. Die Oberländer hielten zusammen. Ihrem Dunstkreis entwich niemand, drang einzig der ein, welcher geladen war.
Ihr drehte sich der Kopf. Aufschreiben müsste sie ihre Gedanken. Ordnung hinein bekommen. Dafür hatte sie keine Zeit. Wenn es so war, dann war sie ihre Schwester.
„Alina!“

„Hey, Svenja, willst den Mädchen im Internat die Schau stehlen?“
„Wie?“
„Ey! In den Klamotten aus’nem Museum!“
„Weg“, keuchte Svenja. „Entführt“ – „Alina“
Tami warf die Kadesche in die Putzkiste, trat auf Svenja zu und fasste ihre Hand. „Wie? Wer? Was?“
Svenja berichte ihr knapp, was geschehen war.
Tami schlug sich an die Stirn. „Jetzt versteh ich.“
„Was?“
„Warum Joos so aufgebracht war. Richtig aus dem Häuschen.“
Svenja erfasste Tamis linke Schulter. „Er war bei dir?“
„Eigentlich wollte ich ihm verklickern, dass wir dem Alten alles gesteckt haben und Joos …“
„Ist jetzt unwichtig?“
Tami presste ihre Lippen und nickte. „Hat er ebenso gesagt. Dann mich gefragt, ob ich gut reiten könnte und mich gebeten“, sie klopfte auf den Hals der Stute und murmelte: „mit Mayfair, Thor an eine Brücke bei‘ner Scheune zu bringen“, dabei wies sie gen Horizont.
„Thor?“
„Ein rassiger Araber! Ey! War nicht leicht, den zu bändigen. Ich musste ganze Zeit in Schritt.“
„Wie weit? Wie lange?“
Tami zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, hin Schritt“, sie kreiste mit der Hand um ihren Oberkörper, „zurück nen Ausritt. Na ja, gut zehn Minuten Galopp. Warum? Das ist Sache der Bullen. Joos ist Bulle.“
„Ich habe es im Gefühl, dass etwas Schauderhaftes passiert ist. Wissen seine Kollegen, wo er ist?“
Tami zuckte mit den Schultern.
Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Könntest du ihnen es beschreiben?“
Den linken Mundwinkel emporgezogen, schüttelte Tami ihren Kopf.
„Dein Handy können sie orten?“
„Deins?“
„Ich habe es in meinem Zimmer liegen lassen.“
„Dein Zimmer?“
„Reden wir später drüber.“

Tami sah auf und deutete zum Gatter und bölkte: „Thor!“, während sie zum Pferd rannte.
Svenja hinterher. Ihre Freundin empfing Thor, indem sie seine Mähne streichelte. „Was hat er mit dir gemacht? Bist ja ganz nass.“
Sie nahm ihn am Zügel, führte ihn zum Stall.
Svenja verharrte zuerst, dann eilte sie auf Tami zu, packte sie am Oberarm. „Wir wollten zur Brücke?“
„Erst Thor versorgen.“
„Ich kann mir auch ein Fahrrad holen, dann fahr ich allein, ich hasse ohnehin Pferde“, geiferte Svenja sie an.
„Gut, zumindest nehme ich den Sattel ab, geb Thor Wasser. Du“, sie wies auf eine Decke, „legst Mayfair ne Satteldecke auf.“
„Ich?“, gluckste Svenja.
„Sie beißt nicht!“
Tami sattelte ab, während sich Svenja an Mayfair anschlich.

Tami saß zu Ross. „Komm, gib mir deine Hand?“
„Da hoch?“
„Willst zur Brücke?“, schnauzte Tami und verdrehte ihre Augen. „Stellst dich an. Halt dich an mir fest dann Bein rauf.“
In Positur umklammerte Svenja die Taille der Freunde. Tami schnalzte und drückte ihre Schenkel gegen den Rumpf des Pferdes.
„Aber nicht so schnell“, schrie Svenja mit angsterfüllter Stimme.

Den rechten Arm fest um Tamis Bauch schwang Svenja den Linken wie ein Rodeoreiter. „Schneller!“
Ihr Becken im Takt des trabenden Pferdes wippend, faste sich Tami an den Schritt. „Geht nicht. Ich hab ein Problem.“
„Welches? Schneller. Was machst du da?“
Ihr Gesicht vom Schmerz verzerrt, stöhnte Tami und wandte sich ihrer Freundin zu. „Jetzt gehts“, jubilierte sie, zwinkerte und gab Mayfair die Sporen.

Svenja rutschte vom Pferd. „Ist das Joos Wagen?“
„Ja“, gab Tami zu verstehen und stieg von Mayfair.
„Niemand da.“
Tami schritt, wie John Wayne zum letzten Gefecht, das Ross am Zügel zu einem Baum und band die Stute fest. „Schau mich weiter hinten um. Check die Karre.“
Svenja öffnete die Fahrertür, beugte sich in das Gefährt. Ein Schlag traf sie im Genick, dann schwanden ihr die Sinne.


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Dämon der Finsternis
 
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ahorn

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4. Akt Gestrandet in einer neuen Welt

Getrieben von der Brandung auf den Strand,
gleitet der Entdecker auf den Sand.
Die Sonne trocknet sein Haar, erwärmt seinen Verstand.
Getrieben von der Kraft seiner Arme,
reckt er seinen Oberkörper auf,
sucht mit den Augen ab, den fremden Strandablauf.
Einsam und verlassen ist die neue Welt,
ob sie ihm in der Zukunft gefällt.


12. Kapitel Die Suche nach Überlebenden

Bruder und Schwester

»Na kimmsd a scho!«
»Vada, was machst du hier!«
»War immer an dir ran.« Valentin stand vom Feldbett auf. »Bin vorm Hotel eingenickt. Wusste gleich, wohin du willst.« Mit ausgestreckten Arm kreiste er um seine Achse. »Wohnlich eingerichtet«, grummelte er, machte einen Schritt auf Fridolin zu und packte ihm am Hemdkragen. »Wo ist Alina!«
»Nicht hier«
»Wo?« Er drehte den Kragen, bis dem Sohn der Atem stockte. »Wo?«
»Bei Stephen!«, röchelte Fridolin.
»Der Dahergelaufenen traust du das Kind an.«
»Sie ist keine ...« ,er winkte ab, »sie ist Klara.«
Valentin gab ihm eine Kopfnuss. »Wach auf, war ein Geschicht für Franziska. Sie ist und bleibt eine Hochstaplerin. Franzi hatte es schwer genug gehabt. Erst verschwindet ihr Junge, dann erfahren wir von Fred, er lebt und stellen fest, dass sich dieses falsche Biest als Stephen ausgibt.«

»Immerhin hat sie euch den Arsch gerettet. Oder warum sollte ich sie aus England holen, damit sie Stephen spielt.«
»Weil das Miststück uns in der Hand hatte.« Valentin Faust schnellte durch die Luft. »Sie wollte Stephens Papiere nicht rausrücken. Wie viel Geld sie gekostete hat: Gesichtsoperation, Brustverkleinerung. Waren eh Implantate. Die tut alles für Zaster.« Er hielt sich den Bauch und brach in Gelächter aus. »Haben wir das wiederhergestellt, was vorher war.« Er zwinkerte. »Fast.«
»Wo ist da der Witz?«
»Deine Klara«, bellte Valentin. »Willst du ihren richtigen Namen wissen.«
»Hat sie dir gesagt!«
»Quatsch! Wir haben unsere Quellen.« Valentin streckte ihm den ausgestreckten Zeigefinger entgegen. »Wenn es um die Familie, um die Firma geht, sind Informationen das Wichtigste.«
Fridolin nickte.
»Hast du in letzter Zeit was von Aishe gehört?«
»Wieso ich?«
»Ihr seid verheiratet!«
»Nicht mehr lange – lenk nicht ab! Sag mir deine Lügen.«
Valentins Gelächter echote an den Betonwänden. »Titus de Klandt« – »Titus!« Er hechelte. »Ein Stricher, welcher sich in seinem Beruf verbessert hat.« Er griff an seinen Schritt. »Schnippt, schnapp und ab.«
Fridolin klopfte wie ein Specht gegen seinen Kopf.

»Willst wissen, weshalb sie oder er Stephens Papiere hatte.«
»Auch das wirst du mir gleich erzählt.«
»Zusammen im Knast haben sie gesessen. Stephen soll Anton erschossen haben. So ein Blödsinn! Der arme Junge«, gab er mit einem süffisanten Unterton zu verstehen. »An Lungenentzündung soll er verreckt sein.« Er drohte erneut. »Aber sag dies nicht der Franzi.«
»Du spinnst!« Fridolin wandte sich ab. »Ein Mann, welcher als Frau Anton niedergeknallt hat, sitz mit einer als Junge geboren Frau in einer Zelle. So ein Blödsinn.«
Valentin faste Fridolin an den Schultern und dreht ihn zu sich. »Warum als Frau erschossen?«
»Weil Klara Anton umgebracht hat.« Fridolin rollte mit den Augen. »Tanja hat mir das erzählt.«
»Ach Tanja. Zu der kommen wir später.« Er schürzte die Lippen. »Ich dachte, du wüsstest mehr.«

Fridolin kräuselte seine Stirn. »Was den nun wieder?«
Valentin schwankte mit dem Kopf. »Ich vertrete die Spekulation, dass Stephen nie existiert hat.«
»Soll ich dich einweisen?«
Der Vater schlug dem Sohn an die Stirn. »Denk nach!«. Er tippte an seine Brust. »Ich habe Stephen nie gesehen. Du?«
»Nein.«
»Franzi und ich, haben uns immer hier im Bunker getroffen. Schau nicht dämlich. Ja! Ich betrog deine Mutter. Wir haben nie, das weißt du, aus Liebe geheiratet.« Er drehte den Kopf, sah über seine Schulter. »Dazu später. Gertrud hat mir Franzi Brief gezeigt, in dem sie ihr schrieb, dass sie ein Madel Namens Jannette geboren habe.« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Wo ist dieser Stephen aufgewachsen? In einem Mädcheninternat! Welche Mutter steckt den eigenen Sohn in ein-«.
»Was sagt Franzi zu deiner Fantasie?«
»Nichts! Schwachsinn liegt bei den Loibls im Blut! Alfons war der einzig Klardenkende. Generationen von Matriarchat, da verblöden alle.«
»Ich muss lachen du und Alfons.«

»Wir waren keine Freunde gleichwohl im Geschäft einer Sichtweise. Verschroben, konservativ das war er. Wollte einen Stammhalter. Dann schenkt ihm Franziska ein Mädchen, sie war sicher mit Stolz erfüllt, jene weibliche Linie fortzuführen. Sogar das Häubchen hat sie der angeblichen Tochter ausgesetzt. War zwar nicht da, hab es gehört. Verstehst du«, er tippte an seine Schläfe. »Dieser Weibertrachtenverein hätte nie einem Jungen das goldene Häubchen aufgesetzt. Vielleicht ihn als was Ähnliches wie ihres Gleichen anerkannt, ihm eine Mädchenhaube übergestülpt, aber das Goldene. Einen Mann zu ihrem zukünftigen Anführer gewählt.«

Valentin fiel wieder in sein Gelächter. »Obwohl, doof sind sie. Sind Weiber!«
Fridolin schwoll die Brust. »Was habe ich mit diesem dämlichen Verein zu tun.«
»Eine ganze Menge! Wenn du wüsstest?«
»Was?«
»Die Ontonia hat von Franzi das goldene Häubchen bekommen.« Er zuckte mit den Achseln. »Ist Tanjas Madel. Madel ist gut. Ä Bub ist sie.«
»Hör auf, mir reicht es, was hat Tanja und ihre Tochter damit zu tun und warum Bub.«
»Weiß ich gleichfalls von der Bärbel. Die Antonia heiß Sven-Fiete. Verstehst.«
Fridolin wandte sich ab. »Ich geh!«
Valentin ergriff den Oberarm seines Sohnes. »Bleib! Ich hob dir gesagt, wir kommen auf die Tanja später zurück.«
»Du spinnst. Ob Junge oder Mädchen eins weiß ich, dass die Blutlinie …«
Valentin stupste ihn an. »Blitzmerker! Tanja ist Klara. Hat mir ach die … «
»Bärbel. Oh Gott und wenn«, fiel ihn Fridolin ins Wort.

»Nächst Geschicht.« Valentin setzte sich auf die Klappliege, holte eine Selbstgedrehte aus seinen Janka, leckte sie, steckte sie in den Mund und zündete sie an.
Fridolin wedelte mit den Händen. »Was qualmst du den für ein Kraut.«
Sein Vater betrachtete die Glut. »Was man alles in Holland kaufen kann.« Steckte sich den Stängel zwischen die Lippen und inhalierte. »Es war drei maximal vier Monate, bevor die Ausgeflippten das Dorf belagerten. Da sah ich sie das erste Mal. Ich hatte im Gasthof etwas vorzubereiten. Weißt, hab da früher öfter ausgeholfen. Egal! Da kam mit Wut im Schritt die Amisha hereingestürzt. Hab mich hinter der Tür zum Schankraum versteckt. In ihrem Gefolge der Anton. Sie auf die Zimmer. Anton rief ihr hinterher: Las es, es hat keinen Zweck. Nach einer knappen halben Stunde kam sie wieder herunter gestürmt, zupfte an ihrem Rock, knöpfte sich ihre Bluse zu, rannte heraus und Anton hinter ihr her.«
»Und?«
Valentin schlug seine zur Faust geballte rechte Hand gegen die Linke. »Geschnackselt hat er sie!«
»Wer?«
»Der Alfons wer sonst! Als es dann losging, kam sie wieder. Nicht mehr in feinen Zwirn gekleidet, sondern wie ne Zigeunerin. Machte alle narrisch«, schmachtete er. »Der Alfons hatte nach mir geschickt, sollte für ihn etwas in die Kirch verbringen. Da war sie bei ihm und hat ihm eine Watschen gegeben. Hat geschrien das Luder, dass sie es wegmachen lässt und die Alfons sagte ihr, wenn es ein Madel wird, heirate er sie. Ein schönes Leben könnte sie haben und der Nahne sich freuen.«

Fridolin raufte sich die Haare. »Der Joint macht dich verrückt. Jetzt dieser Nahne.«
»Es ist von Gewicht. Der Alfons und der Nahne wollten, soweit mir bekannt, dass sich die Familien vereinigen.«
»Ich verstehe weiterhin nur Bahnhof.«
»Die Zeit verging. Wir wurden älter. Ich verzog mit dir und deiner Mutter nach Österreich. Franziska und Anton gingen in die Fremde.« Er schwankte den Kopf. »Den einen oder andern Humpen stemmten wir, der Alfons und ich. Bei mir waren es ein paar Zuviel, aber dees ist en gesonderte Geschicht.« Er inhalierte den Rauch. »Da hatten wir die Idee mit dem Testament. Die Gertrud wollte dauernd, dass die Lisselotte die Firma erbt. Obwohl sie sich aus dem Staub gemacht hat, denn sie sei die Auserwählte.«
Fridolin tippte an seine Schläfe.

»Von welcher Firma faselst du immer.«
»Meinst, von eh paar Kühe kann man was werden. Geschäft mit de Zone haben wir gemacht. Waffen vom Osten in alle Welt geschmuggelt. Der Nahne der kont das. Wenn glaubst, gehört die Straß, in der deine Spelunke die Lola ist.« Er legte sich zurück. »Ein Enkelsohn sollt erben. Mit eh Kind überredete Gertrud ihn.«
»Stephen!«
Valentin beugte sich vor, stieß seinen Zeigefinger in Fridolins Becken. »Blödmann! Den gibst net. Du solltest es sein.«
Fridolin zeigte ihm einen Vogel. »Alfons war gar nicht mein Großvater.«
»Trottel. Adoptiert haben die beide der Alfons und sei Weib uns, de Anton und mi, als keine Dankbarkeit – nicht offiziell eher familiär. Hat uns unser Erbe vorab ausgezahlt. Der Anton hat sich sei Farm gekauft und ich meine Kröten angelegt. Die Braut stand gleichfalls fest. Die Enkeltochter vom Nahne, die Tanja kürte Alfons aus.«
»Ich sollte Tanja heiraten?«

»Yup! Es war eher eine Kneippengeschichte, dann hatte Alfons den Anfall. Ich bin zur Bärbel.« Er klopfte auf seine Schenkel. »Man hatte ich mich verjagt. Aber dees ist ach eh ander Geschicht. Sie hatte es mir zwar nicht direkt gesagt, alldieweil ergibt eins und eins zwei.« Er erhob sich und schlug Fridolin auf die Schulter. »Die Tanja also de Klara ist dei Schwester.«
Fridolin schubst Vale zur Seite, sodass er auf die Liege fiel, welche unter seinem Gewicht zerbrach. »Wie soll das denn gehen.«

Valentin rappelte sich auf. »Hallt die Schnauze, hör zu, grübeln kannst später, wenns überhaupt denkst. Treibst mit der eigenen Schwester!« Er staubte seine Hose ab. »Versteh di, ist ja gelenkig die Kleine und blasen kann’s.«
»Du hast mit …«
»Hab sie bezahlt die Schlampe.«
»War mein Geld!«
»Dein Problem.«
Fridolin trommelte auf seine Brust. »Ich habe nie was mit ihr gehabt. Wir sind Freunde!«
Valentin zielte mit Zeige- und Mittelfinger auf seine Augen. »Freunde! Ich hab es beäugt.«

»Nichts hast du gesehen.«
»Nicht alles. Das, was ich sah, hat gereicht. Bin weder blind noch blöd. Ihren blanken Arch am Schlafzimmerfenster habe ich erblickt. Dich danach mit nackten Beinen im Wohnzimmer beobacht. Sie?« Er nickte. »Gibt dir dei Hos mit den Worten, des kann jedem Mann passieren.«
Fridolin krümmte sich vor Lachen. »Das ist dein Beweis. Kartons habe ich ihr aus dem Keller hochgetragen, dabei meine Hose zerrissen. Dann sind wir in ihr Schlafzimmer, damit ich mir von ihr eine ausleihen konnte. Waren mir alle zu eng und ein Rock wollte ich mir nicht überziehen.«
Valentin grinste. »Bist dann nackend Heim.«
»Nee! Wir fanden eine Umstandshose, die ihr Franziska geschenkt hatte. Das ist meine Geschichte und die geht dir nichts an.«
»Warum war sie nackt?«
»Umgezogen hat sie sich. War ein heißer Nachmittag. Sie ist nicht prüde.«
Valentin verschränkte die Arme und legte den Kopf zur Seite. »Von wen ist sie schwanger?«, triumphierte er.
»Von mir nicht! Womöglich von dir?«
»Bin sterilisiert.«
»Man hört viel schwafelnder Schwachkopf. Wenn Tanja meine Schwester ist, dann bist du ihr Vater und hast mit deiner eigenen Tochter …«

»Wo ist Alina?«
»Bei Klara!«, log er, denn er dachte wieder an seine Verlobte, jene von Josephine verschleppt, in Holland schmorte.
»Weils deine Tochter ist und du nicht mein Sohn!«, donnerte Valentin aufbrausend. »Wie wir dich angenommen haben, haben Franzi und ich das Madel aufgezogen.«
»Zugekiffter Alter. Wo soll dieses passiert sein?«
»Im Internat von den Düwen. Auswahl hattest du.«
»Ich weiß von keinem Kind.«
»Geschämt hat sie sich, abtreiben wollte sie, hat sich Aaron anvertraut und wir die Verantwortung übernommen. Kannst dich nicht an sie erinnern, hattest zu viele.«

»Ja! Ich gebe es zu. Hatte meinen Spaß. Es war Josephines Idee, turnte sie an. Blind-Dates nannte sie es. Beide mit Augenbinden, einer gebunden, geknebelt, fiel der andere über den Gefesselten her. Josephine? Was weiß ich, was sie dabei tat. Sah ja nichts.«
Valentin schlug ihm ins Gesicht. »Wusste immer, du bist pervers. Wie gut, dass du nicht mein Sohn bist.«

Fridolin rannte aus dem Verlies, knallte die Stahltür zu und schloss den Riegel.
Weg, weg von dem in seinem Wahn, Josephine anrufen, dass sie Klara brachte, dann sich nach all den Jahren bei Josephine bedanken. Wie sie es verdiente.

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