A'isha

Hudriwurz

Mitglied
A’isha

aus einem Traum…

Hudriwurz (Emanuel W. Kury)


[ 3][ 3]Ich, als Franzose, will nicht gegen England kämpfen.
Seit beinahe zwanzig Jahren spiele ich hier täglich das gleiche Theater. Ein anachronistisches Schauspiel für ein kleines Publikum und man denkt nicht daran, darauf zu verzichten. Die paar Kopeken, die diese lächerliche Show kostet, scheinen bei den beiden Ländern nicht ins Gewicht zu fallen. Keines der beiden Länder will „das hier“ zuerst beenden. Könnte für mich, bei genauer Betrachtung, einen zukunftssicheren Arbeitsplatz darstellen.

[ 3]Eine kleine Staubwolke steigt auf, als ich auf den Boden spucke. Seit Monaten schon hat es hier keinen Tropfen geregnet.

[ 3]Links und Rechts der Straße, reicht der Grenzzaun etwa hundert Meter weit in die Landschaft. Eine Armee von vertrockneten Pflanzenskeletten reicht braun, gelb, verdorrt bis zum Horizont und nichts bewegt sich. Maispflanzen hätten es werden sollen, aber so...
Die Welt macht hier nicht den Eindruck, als wäre sie bewohnbar.

[ 3]Wenigstens etwas Wind würde dabei helfen, das Sein hier erträglicher zu empfinden und Säugetiere halten sich vernünftiger Weise hier nicht freiwillig auf.
[ 3]Meine Armbanduhr liegt entspannt zu Hause neben meinem kühlen Bett; ich brauche sie nicht, um zu wissen, wann die Sache startet.

[ 3]Wenn die beiden Staubwolken, diesseits und jenseits des Grenzzaunes auftauchen, dann ist es Viertel vor Sechs.
[ 3]Das ist heute nicht anders und lässt an beiden Seiten der Grenze Konvois heran rollen, die jeweils aus etwa zehn Fahrzeugen bestehen. Geparkt wird etwas abseits und die Besucher stellen sich links und rechts der Straße auf. Das passiert auf beiden Seiten der Grenze und ich verstehe die Beweggründe nicht, die die Menschen hier in die staubige, trockene Einöde führt. Zwei Drittel der Besucher sind weiblich und stimmen sich damit ein, in die Richtung der jeweils gegenüber liegenden Grenzseite zu schimpfen.

[ 3]Die schöne Frau, die mir schon mehrmals aufgefallen war, ist ebenfalls wieder hier. Sie ist groß gewachsen und ihre Bewegungen erinnern mich an die grazile Art, mit der sich Giraffen bewegen.
Das Schlimme daran: Die Frau trägt ein blaues Kreuz auf ihrer Stirne, das bedeutet in der französischen Kultur, dass sie von ihren Eltern einem Ehegatten versprochen, aber noch nicht verheiratet wurde.

[ 3]Unsere Blicke treffen sich; Ihr Blick wirkt traurig auf mich. Ich sehe Sehnsucht und Verzweiflung in den Tiefen ihrer Augen. Ich erkenne, dass sie nicht wegen dem Theater hier ist.

[ 3]Ich schrecke kurz auf, weil mir klar wird, dass es langsam Zeit für mich wird, mich für das Theater vorzubereiten. In der kleinen Grenzhütte ziehe ich mich um. Ich ziehe die lächerliche Uniform an, die ich schon so oft an gehabt hatte und die, an vermutlich nur mir bekannten Stellen, fahrlässig verschlissen ist. Bei den üblichen Bewegungsabläufen sind diese Stellen zum Glück nicht sichtbar, wie ich vermute. Ich habe kein Interesse daran, etwas an dem Kostüm zu erneuern. Ich bin der Meinung, dass die Zeit für sie genau so abgelaufen sein soll, wie sie es für das ganze Theater hier ist. Der verschlissene blaue Samt der Hose wirkt besonders im Bereich der Knie mittelalterlich, jedenfalls nicht aus dieser Zeit stammend.
[ 3]Es geht los: In überakzentuiertem Stechschritt stolziere ich auf das Grenztor zu; der Jubel der Zuseher brandet auf. Gleiches passiert auf der anderen Seite und ich nähere mich meinem englischen „Tanzpartner“ bis auf wenige Schritte und lese seinem Gesicht ab, dass die Sache hier für ihn nicht weniger lächerlich ist, als für mich. Der Blick wirkt müde und seine Tränensäcke verraten übermäßigen Alkoholkonsum, Trauer und Depression. Es fühlt sich an, als würde ich in einen Spiegel sehen. Gerne würde ich mit ihm ein paar Worte zu dem Theater hier wechseln; eine Flasche Sake mit ihm leeren; Aber die Rollen, die wir hier spielen, verhindern das. Mit einem lauten Klappern, das das Gejohle des Publikums erneut aufflammen läßt, schließen wir gemeinsam das Grenztor. Ich bin der grazilen Dame ganz nahe und sehe, wie sie ein Taschentuch fallen lässt.
[ 3]Im Stechschritt, unter frenetischem Jubel gehe ich wieder zum kleinen Grenzhäuschen zurück. Die Show ist vorbei und das Publikum löst sich rasch auf. Ich wechsle schnell meine Kleider und eile zu dem Platz, an dem das Taschentuch der Dame zum Glück noch liegt.

[ 3]„0324 433 674 58 A’isha“ steht darauf. A’isha - was für ein Name. Er zergeht in mir, wenn ich ihn gedanklich ausspreche.
Telefonieren war noch nie meine Sache. Es geht mir zu schnell und Details dabei lenken mich zu sehr ab. Ich stottere dann irgendwas und ärgere mich gleichzeitig über mich selbst. Nein. Zum Glück gibt es Kurznachrichten.

[ 3]Ich hole mir ein eisiges Bier aus dem Kühlschrank und setze mich in den Schatten der kleinen Grenzhütte. Ich schreibe eine gefühlvolle Textnachricht und wundere mich über mich selbst. Ich beschreibe, wie gut ich sie fühlen kann, wenn sie hier ist, und wie es mich innerlich zu ihr hin zieht. Ich signiere abschließend mit meinem Namen.
[ 3]Textnachrichten vertragen nicht besonders viele Wörter und so, nachdem ich die paar Sätze etwa hundert Mal gelesen habe und mir vorstelle, wie sie zu ihr hin fliegen werden, nachdem ich den Sendeknopf gedrückt habe, sende ich. Sie hat ja die Nummer für mich hinterlassen und wartet vermutlich auf eine Nachricht. Wo wird sie die Nachricht ereilen? Nun, ich hoffe, dass sie die Nummer für mich hinterlassen hat. Für wen auch sonst? Ist ja niemand hier, außer mir. Oder ist ihr das Taschentuch versehentlich aus der Hand gerutscht und war für jemand anderen, an einem ganz anderen Ort bestimmt?

[ 3]-DING- Eine Antwort. Die Aufregung bringt mein Herz dazu, 120 Mal in der Minute zu schlagen.

[ 3]«Liebster Ivan. Mein Herz bebt vor Aufregung und Glück. Deine Worte sind auch meine Worte. Ich trage brennende Sehnsucht in meinem Herzen und zähle die Stunden b»
[ 3]Mein Herz macht jetzt bestimmt 140. Wie lange schafft das Organ das? Gleichzeitig fällt etwas von mir ab, befreit mich von nagendem Zweifel. Für die vergebens unterdrückte Liebe in mir bedeutet das eine Explosion. Die Staumauer, die aus Angst vor Enttäuschung, dem Abgewiesen werden, der Einseitigkeit, so viele Gefühle zurück gehalten hatte, berstet nun und plötzlich kann alles ungehindert strömen.

[ 3]Es wird nicht leicht, beinahe unmöglich sein, sich abseits dieses Ortes hier zu treffen. Doch ich muß sie sehen und mit ihr sprechen; es muß einen Ort für uns geben, an dem wir gemeinsam sein können. Ganz losgelöst von gesellschaftlichen Konventionen und blauen Kreuzen. Ich überlege angestrengt und finde nur radikale, irreversible Wege. Aber ob die Verzweiflung groß genug ist, um sie einzuschlagen? Bei genauer Betrachtung kennen wir uns ja gar nicht und hatten bisher noch kein einziges Wort, abgesehen von den beiden kurzen Nachrichten, gewechselt. Da ist einzig das unbeschreibliche Gefühl, das drängt, das Durst auf Erfüllung macht. Woher kommt das und was genau will da erfüllt werden?

[ 3]-DING- »Ich komme am Abend wieder zum Grenzzaun. Das ist der einzige Ausgang, den mir meine Eltern, aus patriotischen Gründen, gewähren. Wir werden uns sehen. Mein Herz «

[ 3]»brennt vor Sehnsucht nach Dir. Wir müssen Wege für uns finden. Während der Zeremonie werden wir nicht sprechen können, doch Deine Nähe wird Balsam für mich sein«
[ 3]Mein Herz droht zu bersten; meine Brust bebt. Sie erwidert meine Sehnsucht; unsere Liebe sucht Erfüllung.

[ 3]Ich zähle die Stunden bis zum Abend und bisher nie gefühlte Vorfreude auf das „Theater“ erfüllt mich.

[ 3]Endlich tauchen die Staubwolken am Horizont auf und ich ziehe mir eilig mein Kostüm über. Der Geruch des alten, verschwitzten und verschlissenen Samtgewandes widert mich erstmals beim Anziehen nicht wie üblich an. Die Zuseher nehmen ihre Plätze ein und ich verstehe erstmals, warum der Frauenanteil so hoch ist. Die Grenzstation war ein Fluchtpunkt für verzweifelte Frauen mit ihren düsteren Zukunftsperspektiven und Träumen.
[ 3]A‘isha ist da und hat sich ganz am Grenzzaun positioniert. Ich sehe ihren schweifenden, suchenden Blick, der nur mir gilt. Unsere Blicke treffen sich und für eine kurze Ewigkeit versinken wir gegenseitig in unseren sehnsüchtigen Blicken.

[ 3]Für mich wird es Zeit. Alle erwarten das übliche Schauspiel und mir wird erstmals klar, dass es gar nicht darum geht. Die Anwesenheit der Männer hatte ich noch nicht durchblickt, vermutete aber doch, dass wohl alle hier mehr oder weniger hoffnungslosem Verliebtsein ergeben waren. Es gab mir Hoffnung, dass nicht, wie jahrelang vermutet, verbissenes Patriotentum der Beweggrund für die regelmäßige Versammlung hier war, sondern Sehnsucht nach Liebe, die auch wenn sie unerfüllt bleiben mochte, für einen kurzen Moment aufleben darf.
[ 3]Ich stolziere wie üblich. Meiner Meinung nach enthusiastischer als sonst und versuche A‘isha im Augenwinkel zu behalten.
[ 3]Plötzlich ein lauter Knall, gefolgt von einem enormen Windstoß, der meine Kappe weit von mir trägt und mich beinahe umwirft. Jenseits des Grenzzaunes hat ein Zuseher vermutlich aus Liebeskummer oder aus welchen Beweggründen auch immer, eine Bombe gezündet.
[ 3]Alle rennen ohne Ziel und Sinn kreuz und quer. Ich höre einen hohen Pfeifton, sonst nichts. Die völlige Geräuschlosigkeit der Szenerie, die nur von dem Pfeifton begleitet wird, lässt das Geschehen unwirklich erscheinen.
[ 3]Was war passiert? Ein englischer Attentäter hat sich in der Zuschauermenge in die ewigen Jagdgründe katapultiert und Zaungäste mitgerissen. Instinktiv sehe ich zu dem Platz, an dem A‘isha gestanden hatte. Sie war nicht mehr dort. Dunkle Blutflecke lassen böses erahnen. Jemand hatte es geschafft, Rettung und Polizei beider Nationalitäten zu verständigen und so rasen Konvois mit Polizei- und Rettungsfahrzeugen diesseits und jenseits der Grenze auf den Tatort zu.

[ 3]Ich versuche im Chaos irgendwo Hinweise auf den Verbleib A‘ishas zu finden und versage. Ich finde sie nirgends.

[ 3]Die Polizei richtet sich in meinem Grenzhäuschen ein und vernimmt die Überlebenden und es wird zur Gewissheit, dass die Frau, die ganz am Grenzzaun stand ihr Leben verloren hatte. A‘isha war dort in der Hoffnung gestanden, mir während des Schauspiels besonders nahe sein zu können.

[ 3]Ich beobachte die Einvernahmen und finde heraus, dass sie mit ihrem Bruder und ihren beiden Schwestern zur Grenze gekommen war. Ich versuche bei einer ihrer Schwestern etwas über sie zu erfahren und sie erzählt mir ganz aufgelöst, dass sie aus Montivilliers stammte und einem wohlhabenden Käsehändler aus Mandanghar versprochen war, den sie schon in zwei Wochen heiraten sollte.
[ 3]So war das Glück dann auch schon zu Ende, bevor es überhaupt für mich begann. Drei Textnachrichten und ein riesiger Haufen unerfüllter Phantasien und Träume bleiben mir. Ich glaube, mein ganzes Leben hätte eine sinnvolle Wendung nehmen können. Jetzt war alles mit einem Knall zerborsten. A‘isha war neben dem Attentäter das einzige Opfer gewesen und ich kann nicht nach dem „Warum“ fragen. Mein Denken scheint sich generell auf Null zu reduzieren. Ich falle. Zurück in das finstere Loch meiner kläglichen Existenz, aus dem ich Lichtstrahlen gesehen und aus dem ich die kurze Hoffnung hatte, entfliehen zu können.

[ 3]Ich gehe meiner gewohnten Beschäftigung als sinnloser und nutzloser Grenzwärter weiter nach und spaziere drei Tage nach dem Attentat die Grenze entlang. Ich finde etwas glänzendes am Boden liegen. Es ist ein Ohrring, der in der Sonne schimmert und an ihm hängt ein blutverschmiertes Ohr. Ich hebe es rasch auf und eile damit zurück zu meiner Hütte. Ich spüle den Sand und das getrocknete Blut ab und es wird mir immer klarer: Es ist das Ohr meiner Geliebten. Das ist alles, was mir von A’isha blieb.
 

Wipfel

Mitglied
Hallo Hudriwurz, deine Art zu schreiben erinnert mich an die Geschichten von 1000 und einer Nacht. Das soll keine Wertung sein, eher eine Einordnung. Dein Plott gefällt mir - da sind schön viele Leerstellen enthalten, die in mir die Geschichte lebendig werden lassen. Bei einigen Beschreibungen würde ich jedoch nicht so dick auftragen. Oder kann sich eine Armbanduhr ausruhen? Dann wäre sie ja stehen geblieben, oder?

Die paar Kopeken, die diese lächerliche Show kostet, scheinen bei den beiden Ländern nicht ins Gewicht zu fallen.
Russland grenzt an Frankreich?

Grüße von wipfel
 

Hudriwurz

Mitglied
Danke 'Wipfel', für die Kritik. Ich freue mich immer sehr darüber. Das mit der Uhr ist mir leider nicht aufgefallen. Russland grenzt natürlich an Frankreich. So wie Indien halt. ...und England kann man am Landweg erreichen.
 



 
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