AIDS - Der Tod kam früh (1984)

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Im Mai lernt Svoboda die neue Frau seines geschiedenen Vaters kennen. Sie ist wegen einer Familienfeier nach Wien gekommen und mustert ihn kritisch. Denkt sie schon ans Erben, als sie fragt: "Und Sie, denken Sie gar nicht ans Heiraten? Sie sind doch schon vierzig ..." - "Nein, überhaupt nicht, ich bin ja schwul." - "Mein Gott, Sie sind homosexuell? Was für ein Unglück!" - "Für mich nicht, Frau Svoboda, für mich ein Glück. Damit Sie es wissen!" Nun ist er doch laut geworden.

Im Sommer ist er so oft wie möglich im Prater oder in der Lobau, allein oder mit dem Amerikaner, der schon zum zweiten Mal hier ist. Sie reden auch über die neue Krankheit. Svoboda sagt, er verwende schon lange Pariser, wegen der Hepatitis. Und jetzt beschränke er sich ohnehin auf die Stammkundschaft. Im Herbst sagt er: "Schön war der Sommer, aber auch schnell vorbei ..."

Im September ruft ihn einer dieser Stammkunden wieder mal an. Er ist Eisenbahner und hat da unten in Kärnten Frau und zwei Kinder. Der Dienstplan verlangt es ab und zu, dass er in Wien übernachtet. Er meldet sich nur in großen Abständen. Nachher sagt er tief befriedigt immer dasselbe: "Und es ist doch gegen die Natur." Das rundet für ihn die Sache erst ab. Svoboda lacht dann und sagt: "Alles ist Natur, wir alle sind Natur. Wir sind von Erde genommen ..."

Im März ist der Eisenbahner wieder einmal in Wien. Seit dem Herbst hat er Svoboda nicht mehr gesehen. Svoboda meldet sich nicht am Telefon. Um diese Zeit hat er ihn sonst immer erreicht. Svoboda ist auch nicht im Esterhazy-Park. Der Eisenbahner nimmt sich vor, beim nächsten Mal früher anzurufen.

Es ist Mai. Unter Svobodas Nummer ist niemand mehr zu erreichen. Der Eisenbahner nimmt die Trambahn und findet heraus, was er schon vermutet hat: Das Klingelschild mit Svobodas Namen ist durch ein anderes mit einem anderen Namen ersetzt. Da geht das Haustor auf - ist das nicht seine Nachbarin? Sie sagt: "Svoboda? Der ist im März gestorben. Diese neue Seuche, Sie wissen schon? Und man hat es ihm nicht angesehen. Ich glaube, er hat es selbst nicht gewusst ... Waren Sie mit ihm befreundet?" - Der Eisenbahner sagt: "Ich hab ihn flüchtig gekannt."

Als sein Zug am anderen Morgen in den Semmering-Tunnel einfährt, denkt er: In Wien ist es jetzt auch dunkel geworden - und es wird nie wieder hell.
 
D

Dominik Klama

Gast
Na ja.

Schön karg geschrieben. Ich bewundere so was, weil ich selbst meine Klappe ja nie halten kann.

Geschehen (wie zugehöriger Titel) sind inzwischen einigermaßen veraltet. So schnell sterben heute die Leute nicht mehr, die gestern noch völlig gesund ausgesehen haben. Aber die Jahreszahl steht ja dabei. Und es ist keineswegs vorgeschrieben, dass ein Text zu einem "aktuellen Thema" nicht auf dessen Stand von vor 25 Jahren eingehen dürfte.

Siehst du das übrigens auch so, dass seinerzeit, so zweite Hälfte achtziger bis erste Hälfte neunziger Jahre diese "Schon-fünfzig-von-meinen-Freunden-sind-tot"-Bücher und die autobiografischen Berichte von jungen Männern, die bald nach der Publikation dann auch starben, richtig ins Kraut schossen, während heute, obwohl heute bestimmt mehr Leute AIDS haben als damals, anscheinend kein Verlag mehr ein Buch mit diesem Thema machen will, weil es anscheinend "durch" ist? Ist wie Waldsterben.

Rein, wie es geschrieben oder gemacht ist, finde ich es gut. Bisschen Anstoß nehme ich aber schon daran, dass in einem dermaßen kurzen Text zu Beginn aus der Innensicht eines Mannes ("Nun war er doch laut geworden."), am Schluss aus der eines anderen geschrieben wird ("Es wird nie wieder hell").

Was du da hast, ist genau, was in "Brokeback Mountain" angedeutet wird (im Film entschieden mehr als im Text): dass etwas, was "normalen" Menschen wie nichts weiter als geiles Vögeln vorkommt, sich am Ende als die eine große Liebe des Lebens herausstellt.

Das ist ein Problem oder eine Fragestellung, die mich ziemlich interessiert, darum drehen sich auch etliche meiner eigenen schwulen Texte. Ich weiß aber keine Antwort darauf. Ganz ehrlich, ich hab keine Ahnung, ob ich selbst nur dumm rumbumse oder irgendwie liebe dabei.

Leute, die bislang mit schwulem Leben kaum etwas zu tun hatten, dürfte ja brennend interessieren, was du mit diesem "Kundschaft" andeuten willst. Primär versteht man das so, als sei Svoboda eben ein Stricher oder Callboy gewesen. Ich bin mir da aber nicht ganz sicher. Kann sein, dass das in Österreich ein üblicher Begriff für einen "Fickbekannten" ist: "Holla, da kommt ja der Kunde mit dem Hammerteil wieder!"

Oder er stricht tatsächlich und der Kärtner muss immer bezahlen. Gerade dann wäre es ja ziemlich interessant, wenn er sich, ohne es selber wohl richtig zu wissen, sehr verliebt hätte in Svoboda. Was ich real für durchaus möglich halte.

"Und es ist doch wider die Natur!" Ja, da schmunzelt man. Ich erlebe, dass manche, die es tun, es mit dem Gefühl tun, dass es sich eigentlich überhaupt nicht gehört, andere mit dem Gefühl, dass es eine ganz normale, übliche Sache ist, wieder andere mit dem elitären Bewusstsein, Gott habe sich das Beste eben nur für die Besten einfallen lassen. Aber was sie dann tatsächlich machen, ist bei allen eigentlich dasselbe.
 
Erfreut, Dominik ...

... übers Lob. Und danke für die beiden Hinweise auf mögliche Mängel. Ja, der Perspektivenwechsel kann in einem derart kurzen Text als störend empfunden werden. Als mildernden Umstand will ich nur anführen: Dem Erzähler ist mitten im Text die Figur A mit Tod abgegangen, so dass er die Fackel an Figur B weiterreichen musste.

Zu "Kundschaft": Aufschlussreich für mich, zu welchen Missverständnissen der Ausdruck führen kann. Es handelt sich um ein Originalzitat der Person, die für Svoboda Modell gestanden hat. Er war kein Stricher, übte einen bieder bürgerlichen Beruf aus. Es ist auch kein Austriazismus, sondern einfach 70er Jahre-Jargon. In der Szene benutzten damals viele spezielle Ausdrücke, die ironische Distanz im Sinne von Konsumismuskritik andeuten sollten. Andere Beispiele: "Das Material sichten", wenn man auf der Suche nach "Frischfleisch" war, und wenn kein verlockendes in Sicht, hieß es: "Alles Schwund!" Diese Selbstpersiflage war natürlich nicht sehr aufrichtig. Sie diente dazu, den Sprecher als auf der Höhe der Zeit darzustellen, und erlaubte ihm gleichzeitig, zynisch fortzufahren wie bisher.

Ja, das ist wohl so, dass Aids schon lange keine Konjunktur mehr in den Medien hat. Ich führe das primär darauf zurück, dass viel weniger gestorben wird. Nicht nur Sex sells, auch der Tod, eine Langzeitbehandlung ist dramaturgisch unergiebig.

Die Frage nach dem seelischen Gehalt von sexuellen Handlungen verwirrt mich ein bisschen, und zwar deshalb weil sich mir die Frage kaum je gestellt hat. Ich verstehe, dass Außenstehende unsicher bis verständnislos sein können, aber die Hauptbeteiligten? Ich nehme mir vor, einige deiner Texte einmal speziell unter diesem Aspekt zu lesen. Interessant, dass du meinen Text mit dieser Frage in Verbindung bringst. Das Gefühl, das der Kärntner am Schluss ausdrückt, könnte auch einfach nur Frustration und Panik ausdrücken. Er kann und will sich weitere Abenteuer in Wien nicht mehr leisten und hat Angst, dass er seine Frau angesteckt haben könnte.

Dieser Aids-Text von mir war nur eine flüchtige Gelegenheitsarbeit fürs Internet. Svoboda kommt allerdings als Nebenfigur in dem von mir veröffentlichten Roman gleich zweimal vor, und die Wohnung seines Vorbilds habe ich dort zu der des Helden gemacht.

Schönen Abendgruß
Arno
 



 
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