Abbey Road

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Raniero

Textablader
Abbey Road

Ich hatte die elektrische Gitarre angelegt und schlug ein paar Akkorde.
Seit einigen Tagen beschäftigte ich mich damit, ein Musikstück, einen song im Original nachzuspielen. Vor längerer Zeit hatte ich bereits versucht, dieses Stück einzustudieren, aber sehr schnell warf ich enttäuscht das Handtuch.
Einen song, eines der ganz großen Lieder einer ganz großen noch heute aktiven Rockband:
‚Honky Tonk Woman‘ von den Rolling Stones.
Um ein wenig in Bewegung zu bleiben, schritt ich während der Übungen mit der
E-Gitarre durch den Raum, einer Art kleines Musikstudio, das Kabel hinter mir herziehend.
Das kleine Musikstudio diente gleichzeitig als Gästezimmer; ein Mehrzweckraum.
Eine Couch zum Ausruhen gehörte ebenso dazu wie einige Wandregale
und -schränke für Noten und Musikliteratur; an der Wand ein großes Poster mit einer weltberühmten Photographie:
Das sogenannte Abbey Road Photo.
Diese Photographie, aufgenommen in den sechziger Jahren in London, zeigt alle vier Mitglieder der Beatles, wie sie im Begriff sind, einen Zebrastreifen zu überqueren; einen Zebrastreifen an der Abbey Road.
Als ersten sieht man auf dem Poster den 1980 ermordeten John Lennon, oftmals als der Kopf der Beatles bezeichnet, gefolgt von Ringo Starr, dem Schlagzeuger. Diesem folgt als dritter Paul Mc Cartney, das geistige und künstlerische Pendent zu John Lennon. Als letzten sehen wir George Harrison, den Leadgitarrist der Beatles, für lange Zeit musikalisch unterschätzt und leider auch viel zu früh verstorben.
Eine Eigenart, um die sich seit eh und je Gerüchte ranken, kennzeichnet darüber hinaus noch dieses berühmte Photo; während John Lennon, Ringo Starr und George Harrison Schuhe an den Füßen tragen, schreitet Paul Mc Cartney barfuss über den Zebrastreifen.
Während ich so weiter auf meine Gitarre einschlug und an ihr herumzerrte, um ein wenig den wilden originären Klang des Stones hits zu imitieren, wurde ich von einer merkwürdigen Unruhe erfasst.
Irgend etwas Drohendes, Irreales lag in der Luft. Ich versuchte, mich abzulenken und beschäftigte mich weiter mit meinen Spielübungen.
Plötzlich wurde ich durch ein Geräusch im Raum aufgeschreckt, eine Art knarrender Ton.
Erschreckt sah ich mich um; kam das Geräusch aus diesem Zimmer?
Ich wollte mich wieder der Gitarre widmen, als mir der Atem stockte!
Ich schaute zum Abbey Road Poster hinüber.
Alle vier Beatles starrten mich an, empört.
Normalerweise sind auf der Photographie nur die Konterfeis der Bandmitglieder zu sehen, doch nun blickten sie mir ins Gesicht, alle vier.
Ich erstarrte zur Salzsäule.
Was war geschehen? Was hatte ich getan?
Mein Schrecken steigerte sich ins Unermessliche, als ich bemerkte, dass sich der erste Beatle auf dem Photo bewegte; langsam und gelassen trat John Lennon aus dem Poster heraus, auf mich zu.
„Mann, ich bin ja schon lange tot. Aber was du hier spielst, ist mehr als tot. Du wagst es, hier vor uns ein Lied unserer größten Konkurrenz zu spielen. Einen song von Mick und Co?“
Ich erholte mich ein wenig von meinem Schrecken und flüsterte.
„Es tut mir leid, John. Es war unbedacht von mir, vollkommen unbedacht“.
Um ihn ein wenig versöhnlicher zu stimmen, zupfte ich die ersten Akkorde von „Imagine“.
„Lass das!“, herrschte John mich an, „das kann ich nicht mehr hören“.
„Aber John“, sagte ich kleinlaut, „das war doch dein Lied. Das größte Lied, was du jemals geschaffen hast, und zwar du ganz allein“.
John blickte mich düster an und schwieg.
Ich nahm all meinen Mut zusammen:
„John, wo bist du jetzt, drüben? Bist du im....?“ Ich wage es nicht auszusprechen und zeige mit dem Finger nach oben.
„Du meinst im heaven?“ lachte John spöttisch, „nein, mein Freund, weißt du, wo ich bin? Ich bin im tiefsten Kreis des Läuterungsberges, ihr nennt das, glaube ich, Fegefeuer. Fegefeuer, was für ein komischer Ausdruck“.
„Du bist im Fegefeuer, John, ich meine im Läuterungsberg. Nicht in der ...?“ ich wagte das, was ich fragen wollte, erst recht nicht auszusprechen.
John Lennon lacht breit.

„Du meinst in the hell? Nein, da bin ich nicht, in der Hölle. Da sind ganz andere Typen drin. Die meisten von denen, die in der Hölle sind, waren früher Politiker. Aber da, wo ich zur Zeit bin, ist es auch nicht gerade angenehm. Aber ich habe praktisch keine Möglichkeit, nach oben aufzusteigen“.
„Warum nicht, John“, fragte ich entsetzt, „meinst du nicht, dass du in einiger Zeit, sagen wir mal, so in ein-zweitausend Jahren, höher rücken könntest?“
„Hey, Mann“, bekomme ich zur Antwort, „wenn ich wollte, könnte ich sofort nach oben, sogar nach ganz oben. Sie warten schon alle auf mich, außer dem großen Vorsitzenden, weil da oben Langeweile herrscht, ohne mich, pure Langeweile“.
„Und woran scheitert es, dass du nicht in den heaven kommst?“
„Das ist einfach erklärt. Dann müsste ich das Lied, das du eben angespielt hast, vergessen, oder mindestens komplett ändern, im Text“.
‚Imagine, there“s no heaven...‘., das hören die da oben nicht gerade gern, und auch nicht ‚and no religion, too.‘ Aber ich will und werde den Song nicht umschreiben,
verdammt“.
John wendet sich ab, entrüstet, und tritt einen Schritt zur Seite.

Erneut hörte ich das knarrende Geräusch.
Als ich zum Poster schaute, sah ich gerade noch, wie George Harrison aus dem Rahmen stieg.
Auch ertrat auf mich zu und blickte mir in die Augen.
„Ich bin auch gestorben. Ich bin zwar noch nicht so lange tot wie John, aber immerhin, ein paar Jahre ist es auch schon her“.
Ich fragte George mit bebender Stimme.
„Und wo bist du jetzt, George ? In der Nähe von John ? Oder bist du vielleicht im heaven?“
„Da war ich kurz“, antwortet er, „aber dann haben sie mich da rausgeschmissen. Derzeit bin ich auch im Läuterungsberg, wie John, nur zwei Etagen höher“.
„Du warst im heaven“, fragte ich bestürzt, „und sie haben dich daraus geschmissen? Warum nur, George, warum?“
„Ja, weißt du, ich habe da oben einen Song gespielt, ein kleines Lied nur. Allen hat es gefallen, nur der große Chef wurde sauer; und dem mussten sich alle schließlich fügen. Zum Schluss waren die anderen auch sauer“.
„Was war das für ein Lied, das du im heaven vorgetragen hast?“
„My sweet Lord, natürlich, Mann!“
Auch George wandte sich ab, erbost.

Gleichzeitig mit dem nächsten knarrenden Geräusch blickte ich zum Poster.
Ringo Starr verließ den Rahmen.
„Hello, boy, ich lebe noch. Aber ich habe trotzdem immerfort Kontakt mit John und George, in Form von spiritistischen Sitzungen. Sie streiten sich beide, George und John, über meine Zukunft“.
„Sie streiten sich über deine Zukunft, Ringo?“
„Meine Zukunft im Jenseits, boy, in den ewigen Jagdgründen. John sagt, da ich fast kein einziges Lied geschrieben habe, in der Beatle-Ära bin ich auch nicht vorbelastet, nicht versaut genug; deshalb gäbe ich für ihn ein lupenreines Engelchen ab. George glaubt jedoch, dass ich damals ein ziemlich schlechter Schlagzeuger war. Er meint ich sollte lieber noch eine Zeitlang üben, im Fegefeuer. Dabei übe ich täglich, hier, auf Erden, um mich zu verbessern“.
Ringo tat einen Schritt auf George zu und schaute ihn böse an, bitterböse.

Als letzter sprang, das knarrende Geräusch war noch nicht ganz verklungen, Paul Mc Cartney aus dem Poster.
„Hello, wie geht’s, mein Herr, hat John dich schon ordentlich
zusammengestaucht? Da hast du eine Todsünde begangen, mit dem Honky Tonky!“ grinst Paul mich an.
„Er hat mich zusammengestaucht, und wie, Paul“, musste ich zugeben, „ich gelobe Besserung“.
„Ja, weißt du, ich bin schon sehr lange im Jenseits, viel länger noch als John, deswegen bin ich froh, dass ich so ab und zu mal Kontakt mit dem Diesseits bekomme, auf diese Weise“.
„Du bist schon lange tot, Paul?“ fragte ich erschüttert, „aber wie ist das möglich, ich habe dich doch erst kürzlich bei MTV gesehen, life!“
„Das war mein Double. Du weißt doch, seit der Sache mit dem Abbey Road Photo lass ich mich immer doubeln“.
„Und wo befindest du dich, drüben, oben oder unten?“ zeigte ich in die entsprechenden Richtungen.
„Ich bin auch im Fegefeuer. Sozusagen auf dem Treppenabsatz zwischen John und George, doch die beiden wissen gar nicht, dass ich da bin“.
„Und was ist dein problem, Paul? Was hindert dich, in den heaven zu kommen?“
„Oh, die Erklärung ist einfach. Man wirft mir vor, dass ich zu oft im Fernsehen zu sehen bin, im deutschen Fernsehen!“
„Im deutschen Fernsehen, Paul?“ rief ich erstaunt aus.
„Ja, bei Gottschalk, Mensch, bei Wetten dass“.

Ein knarrendes Geräusch weckte mich.
Es war die Tür. Meine bessere Hälfte betrat das Studio.
„Jetzt schläfst du schon beim Gitarrespielen ein“, lachte sie.
Ich blickte vorsichtig in die Richtung des Wandposters.
Alles wie immer, das Photo stand vor meinen Augen, unverändert, wie all die Jahre.
Selbst Paul Mc Cartney hatte noch immer keine Schuhe an.

Ich werde nie mehr ein Lied von den Rolling Stones spielen, zumindest nicht in diesem Raum.
 

Raniero

Textablader
Hallo Marius,

diesen 'erfrischend anderen' Text habe ich vor über vier Jahren, im November 2002, geschrieben.(Als Paul Mc Cartney damals relativ häufig durch die deutsche Fernsehlandschaft huschte)
Es gibt noch mehr von diesen Zwiegesprächen mit den Fab Four, da ich seinerzeit die Absicht hatte, ein ganzes Buch damit zu füllen, doch ich persönlich finde diese weiteren Storys noch zu dürftig und habe daher das Projekt erst einmal aufgeschoben.
Gleichwohl freut es mich, dass Dir diese Story gefallen hat, obgleich ich in meinem Leserkreis aufgrund mangelden Insiderwissens über die Beatles und ihre Musik niemanden damit begeistern kann.
Das noch einmal zur Bandbreite des Humors.

Gruß Raniero
 



 
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