Abendstunden

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Woodbrick

Mitglied
Abendstunden

Regentropfen prasselten an die Fensterscheiben von Jennas Haus, als sie gedankenverloren in ihren flackernden Kamin starrte. Auf dem Couchtisch stand eine Tasse frisch aufgebrühten Tees und auf ihren Beinen lag ein aufgeschlagenes Buch. Sie hatte es aus dem Regal genommen, ohne den Titel zu betrachten. Sie wollte es noch nicht einmal lesen, fühlte sich jedoch weniger unproduktiv oder gar verrückt, wenn sie sich selbst immer wieder sagen konnte, dass sie es gleich tun würde, während sie mit ihren Gedanken überall und nirgendwo war. Sie tendierte dazu, abzudriften, in Sphären, die nur ihr gehörten und in denen sie alles sein konnte, was sie wollte. Einmal mehr versank sie in ihrem eigenen Kopf, ein wohliges Gefühl der Vertrautheit und Wärme umfing sie und ließ sie träumend auf ihrem Sofa zurück. Wo waren nur diese wunderbaren Abende so lange geblieben?

Gestern hatte sie noch ihre Runde am See gedreht und bereits gespürt, dass der Sommer bald vorbei sein würde. Der Wind war kühl gewesen, als er um ihre Beine wehte und es lag der Duft des herannahenden Regens in der Luft. Sie war heimgegangen und hatte ihren olivgrünen Parka aus dem Schrank geholt, den sie an der Garderobe bei der Haustür aufhing, gleich neben ihrem geliebten, rot weiß gepunkteten Regenschirm.
Jenna mochte den Herbst. Sie liebte den frühmorgendlichen, eiskalten Hauch, der in ihr Schlafzimmer strömte, wenn sie das Fenster kurz nach dem Aufstehen öffnete. Er jagte ihr immer eine Gänsehaut über den ganzen Körper und sie fröstelte, doch der Geruch des ersten Nachtfrostes, der sich mit dem des gefallenen Laubes und dem des Regens vom Vortag mischte, machte das allemal wett.

Das Feuer knisterte beruhigend und Jenna konnte endlich auch die letzten Gedanken des Tages loslassen.
Hatte ihr der süße Typ vorhin im Bus zugelächelt? Bestimmt. Ihr huschte ein Lächeln über das Gesicht. Es war immer schön, wenn jemand an einem Interesse zeigte, dachte sie sich und legte ihr inzwischen zusammengeklapptes Buch von ihrem Schoß auf den kleinen Couchtisch zu ihrer linken. Jetzt war sie allein. Das wollte sie so. Sie brauchte ihre Abende jetzt für sich.

Der Regen war stärker geworden. An ihr Wohnzimmerfenster brandeten nun riesige Wassermassen und aus dem leichten Prasseln von vorhin ging ein nunmehr konstantes Plätschern hervor, das sich mit dem knistern der Scheite im Kamin mischte.
Es geht mir so gut, dachte sie sich und schloss ihre Hände, die sie in den Ärmeln ihres Pullovers vergraben hatte, um ihre dampfende Tasse Tee. Ein wohliger Schauer rann ihr über den Rücken und Wärme flutete ihren Körper, als sie ihre Augen schloss.

Nach und nach tauchten nun die Bilder vor ihren Augen auf:
Sie lief auf einer regennassen Straße durch einen wunderschönen, aus gelb und rot belaubten Bäumen bestehenden Wald. Ein feiner Windhauch strich ihr über die Wange und wehte ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Sie lief ruhig und bedächtig, lauschte dem Wind und den zwitschernden Vögeln, als von der rechten Seite der tiefschwarzen Asphaltdecke mit den gelben Markierungen ein Eichhörnchen über ihren Weg lief. Es hielt kurz inne und sah ihr direkt in die Augen, bevor es sich langsam abwandte und seinen Weg fortsetzte.
Jenna, die kurz stehen geblieben war, tat es ihm gleich und wanderte weiter auf der Landstraße, die sich mit bedächtigen Kurven durch die Hügel ihres Traumlandes schlängelte und sie immer tiefer in ihren Geist führte.

Als Sie aus ihrem Traum wieder erwachte, war der Kamin bereits erloschen und der Tee in ihrer Tasse längst kalt. Sie stand auf und machte sich schlurfend auf den Weg zu ihrem Schlafzimmer, wo sie unter ihre Decke schlüpfte und sofort einschlief.
Es war der erste Tag im Herbst.
 



 
Oben Unten