Aber Glauben?

Catweazle

Mitglied
Aber Glauben?

Ärgerlich zog Paul sich die Ringe von den Fingern. Dann griff er sich an den Hals und versuchte den Knoten des Lederhalsbandes zu öffnen. Als es ihm nicht gelang, riss er kurz daran und schmiss die Kette samt Anhänger auf das Bett. Mit zwei schnellen Schritten war er am Fenster, öffnete es und atmete tief ein.
Er wollte mit dem ganzen Kram nichts mehr zu tun haben. Schutzamulette zum Chakrenausgleich, Ringe gegen schlechte Energien! Er fuhr mit der Hand in die Tasche. Heilsteine für neue Kraft und eine stärkere Libido! Wütend warf er den Bergkristall zu dem Schmuck aufs Bett. Er hatte den ganzen Kram satt.
„Alles Aberglaube“, dachte er. Es war höchste Zeit gewesen, dass er sich mal frei machte von alledem. Frei machen von Glaubenssätzen, einengenden Vorstellungen und dem ganzen Beziehungskram.
Warum musste Sigrid auch ausgerechnet mit dem Yogalehrer fremdgehen? Ihrem „spirituellen Meister“!
„Der ist wahrscheinlich beweglicher, als ich“, seufzte Paul. Die Schwingungen zwischen ihnen wären so richtig gewesen, hatte sie gesagt. Er schnaubte. Das konnte er sich vorstellen. Schwingungen!
Paul besah sich im Spiegel. Auch Vollkorn machte dick, dass musste er sich eingestehen. Er zog den Bauch ein. Es nützte nichts. Er würde sich einfach mehr bewegen müssen. Und aufhören zu rauchen.
Er wischte die Gedanken bei Seite. Jetzt war er am Meer und wollte das auch genießen. Ein langer Spaziergang am Strand würde ihm und seiner Figur gut tun.
Kurz darauf betrat Paul die Kneipe.
Fröstelnd schritt er durch den Raum und setzte sich an die Theke. An der Wand hinter ihm hingen Bilder von Seemannsknoten, gegenüber ein altes und unglaublich großes Holzsteuerrad, in dessen Mitte ein Spiegel eingesetzt worden war. Paul bestellte ein großes Bier und einen heißen Tee, um sich aufzuwärmen.
Draußen tröpfelten der erste Regen des aufkommenden Sturms gegen die Scheiben, als sein Blick auf die Vitrine am anderen Ende der Theke fiel. Tote Vogelaugen starrten ihn an. Ein gutes Dutzend ausgestopfter Möwen standen dort hinter Glas und beobachteten die Gäste beim Trinken.
Paul lächelte über den ganzen Kitsch und fühlte sich wohl. Alles war so bodenständig.
Nach einem großen Schluck Bier holte er sich eine frische Packung Zigaretten aus der Innentasche. Da er kein Feuer dabei hatte, zog er eine Kerze zu sich heran und zündete die Zigarette an der Flamme an.
"Bei jeder Zigarette, die Sie an einer Kerze entzünden, stirbt ein Seemann!"
Mit diesen Worten schob sie Paul eine Schachtel Streichhölzer hinüber. Die Frau wuchtete ihren Körper auf den Barhocker und löste mit einer Handbewegung den Gummi aus ihrem Haar. Mit einem Kopfschütteln fielen die rotbraunen Locken bis auf ihre Schultern.
Paul lachte verlegen. Die Frau war ihm direkt unsympathisch.
"Auch das noch", dachte er. "Da flüchte ich aus der Stadt, um mich am Meer von allem zu erholen und meine Freiheit zu genießen, und dann so was. Eine neue Frau, neue Regeln. Von wegen."
Er lächelte sie etwas gekünstelt an.
"Das ist wohl so ein Aberglauben hier, oder? Ein Seemannsgarn, oder wie heißt das?"
"Wenn Sie meinen." Sie lächelte ihn an.
Paul wandte sich wieder seinem Buch zu und signalisierte damit, dass für ihn die Unterhaltung beendet sei.
"Wissen Sie", fuhr sie unbekümmert fort, "hier gibt es viele Witwen."
Sie schwieg einen Moment lang, um die Worte sacken zu lassen. Offensichtlich erwartete sie, dass er sie auf ein Bier einlud. Oder sogar den Abend mit ihr verbrachte.
„Ich bin auch alleine, seitdem mein Mann auf dem Meer geblieben ist.“ In ihrer Stimme schwang eine gewisse Sehnsucht mit, als sie verträumt zu ihm herüber sah.
Paul grunzte kurz, gab noch vor, ein paar Zeilen zu lesen und zündete sich dann erneut eine Zigarette an. An der Kerze.
Wütend stand sie auf und ging.

Als Paul am nächsten Morgen den Frühstücksraum seiner Pension betrat, war ihm schlecht. Er hatte die halbe Nacht in der Kneipe verbracht und getrunken. Er zog das Päckchen Zigaretten hervor.
"Schnell eine rauchen", murmelte er und ging durch auf die Terrasse. Von der frischen Luft musste er husten. Ein Blick in die Packung offenbarte ihm, dass er das ganze Päckchen verqualmt hatte.
"Und alle zwanzig Kippen hab ich an der Kerze angemacht", dachte er boshaft, als er sich an die dicke Frau erinnerte. „Blöder Aberglaube.“
Seine Pensionswirtin trat zu ihm.
"Haben Sie es schon gehört?", fragte sie mit Grabesstimme.
"Nein." Er zuckte kurz die Schultern. „Was denn?“
"Heute Nacht ist vor unserer Küste die MS Marlboro" gesunken."
Ihm wurde schlecht. Doch sie fuhr fort.
"Zwanzig Seeleute fanden im Sturm den Tod."
Paul war der Appetit vergangen. Auf seinem Zimmer setzte er sich aufs Bett und zog sich die Ringe auf die Finger.
Er hatte ein verdammt schlechtes Gewissen.
 

Wipfel

Mitglied
Hallo Catweazle,

Hab sie gern gelesen, Deine Geschichte. Bis zu dem Punkt, als dein Prot in den Frühstücksraum tritt. Und da sind dann genau 20 Matrosen auf einer "MS Malb." (den Namen brauchst du erst recht nicht...) gewesen. Ach nö. Das ist mir zu platt. Gib der Geschichte eine andere Wendung - und sie wird richtig gut!

Grüße von Wipfel
 

Catweazle

Mitglied
Hallo Wipfel,

danke fürs Lesen und Deinen Kommentar.
Ok. MS Marlboro fand ich witzig... hast aber Recht, das ist zu platt (meine Güte ich überteib es manchmal)

FIndest Du den Schluß insgesamt nicht passend? Oder einfach nur "zu dick" aufgetragen?

Danke und Gruß

Catweazle
 

Wipfel

Mitglied
zu dick aufgetragen. Oder zu direkt. Die meisten Witwen leben nicht an der Küste, weil die meisten Seemänner aus dem Landesinneren kommen, wenn ich nicht irre. Aber das nehme ich Dir noch ab. Das mit den Toten... naja. Das eigentlich Interessante ist ja die Begegnung der zwei in der Kneipe, da würde ich ansetzen, weitermachen. Du hast ein gutes Sprachgefühl!
 

Catweazle

Mitglied
Danke für das "Sprachgefühl".... :)

Über den Rest werde ich mal sinieren

Vielleicht also einfach die Begegnung der beiden ausbauen? Das ist ja quasi der Konflikt, den ich mir überlegt hatte...
 

Catweazle

Mitglied
Aber Glauben?

Ärgerlich zog Paul sich die Ringe von den Fingern. Dann griff er sich an den Hals und versuchte den Knoten des Lederhalsbandes zu öffnen. Als es ihm nicht gelang, riss er kurz daran und schmiss die Kette samt Anhänger auf das Bett. Mit zwei schnellen Schritten war er am Fenster, öffnete es und atmete tief ein.
Er wollte mit dem ganzen Kram nichts mehr zu tun haben. Schutzamulette zum Chakrenausgleich, Ringe gegen schlechte Energien! Er fuhr mit der Hand in die Tasche. Heilsteine für neue Kraft und eine stärkere Libido! Wütend warf er den Bergkristall zu dem Schmuck aufs Bett. Er hatte den ganzen Kram satt.
„Alles Aberglaube“, dachte er. Es war höchste Zeit gewesen, dass er sich mal frei machte von alledem. Frei machen von Glaubenssätzen, einengenden Vorstellungen und dem ganzen Beziehungskram.
Warum musste Sigrid auch ausgerechnet mit dem Yogalehrer fremdgehen? Ihrem „spirituellen Meister“!
„Der ist wahrscheinlich beweglicher, als ich“, seufzte Paul. Die Schwingungen zwischen ihnen wären so richtig gewesen, hatte sie gesagt. Er schnaubte. Das konnte er sich vorstellen. Schwingungen!
Paul besah sich im Spiegel. Auch Vollkorn machte dick, dass musste er sich eingestehen. Er zog den Bauch ein. Es nützte nichts. Er würde sich einfach mehr bewegen müssen. Und aufhören zu rauchen.
Er wischte die Gedanken bei Seite. Jetzt war er am Meer und wollte das auch genießen. Ein langer Spaziergang am Strand würde ihm und seiner Figur gut tun.
Kurz darauf betrat Paul die Kneipe.
Fröstelnd schritt er durch den Raum und setzte sich an die Theke. An der Wand hinter ihm hingen Bilder von Seemannsknoten, gegenüber ein altes und unglaublich großes Holzsteuerrad, in dessen Mitte ein Spiegel eingesetzt worden war. Paul bestellte ein großes Bier und einen heißen Tee, um sich aufzuwärmen.
Draußen tröpfelten der erste Regen des aufkommenden Sturms gegen die Scheiben, als sein Blick auf die Vitrine am anderen Ende der Theke fiel. Tote Vogelaugen starrten ihn an. Ein gutes Dutzend ausgestopfter Möwen standen dort hinter Glas und beobachteten die Gäste beim Trinken.
Paul lächelte über den ganzen Kitsch und fühlte sich wohl. Alles war so bodenständig.
Nach einem großen Schluck Bier holte er sich eine frische Packung Zigaretten aus der Innentasche. Da er kein Feuer dabei hatte, zog er eine Kerze zu sich heran und zündete die Zigarette an der Flamme an.
"Bei jeder Zigarette, die Sie an einer Kerze entzünden, stirbt ein Seemann!"
Mit diesen Worten schob sie Paul eine Schachtel Streichhölzer hinüber. Die Frau wuchtete ihren Körper auf den Barhocker und löste mit einer Handbewegung den Gummi aus ihrem Haar. Mit einem Kopfschütteln fielen die rotbraunen Locken bis auf ihre Schultern.
Paul lachte verlegen. Die Frau war ihm direkt unsympathisch.
"Auch das noch", dachte er. "Da flüchte ich aus der Stadt, um mich am Meer von allem zu erholen und meine Freiheit zu genießen, und dann so was. Eine neue Frau, neue Regeln. Von wegen."
Er lächelte sie etwas gekünstelt an.
"Das ist wohl so ein Aberglauben hier, oder? Ein Seemannsgarn, oder wie heißt das?"
"Wenn Sie meinen." Sie lächelte ihn an.
Paul wandte sich wieder seinem Buch zu und signalisierte damit, dass für ihn die Unterhaltung beendet sei.
"Wissen Sie", fuhr sie unbekümmert fort, "hier gibt es viele Witwen."
Sie schwieg einen Moment lang, um die Worte sacken zu lassen. Offensichtlich erwartete sie, dass er sie auf ein Bier einlud. Oder sogar den Abend mit ihr verbrachte.
„Ich bin auch alleine, seitdem mein Mann auf dem Meer geblieben ist.“ In ihrer Stimme schwang eine gewisse Sehnsucht mit, als sie verträumt zu ihm herüber sah.
Paul grunzte kurz, gab noch vor, ein paar Zeilen zu lesen und zündete sich dann erneut eine Zigarette an. An der Kerze.
Wütend stand sie auf und ging.

Als Paul am nächsten Morgen den Frühstücksraum seiner Pension betrat, war ihm schlecht. Er hatte die halbe Nacht in der Kneipe verbracht und getrunken. Er zog das Päckchen Zigaretten hervor.
"Schnell eine rauchen", murmelte er und ging durch auf die Terrasse. Von der frischen Luft musste er husten. Ein Blick in die Packung offenbarte ihm, dass er das ganze Päckchen verqualmt hatte.
"Und alle zwanzig Kippen hab ich an der Kerze angemacht", dachte er boshaft, als er sich an die dicke Frau erinnerte. „Blöder Aberglaube.“
Seine Pensionswirtin trat zu ihm.
"Haben Sie es schon gehört?", fragte sie mit Grabesstimme.
"Nein." Er zuckte kurz die Schultern. „Was denn?“
"Heute Nacht ist vor unserer Küste ein Schiff gesunken."
Ihm wurde schlecht. Doch sie fuhr fort.
"Zwanzig Seeleute fanden im Sturm den Tod."
Paul war der Appetit vergangen. Auf seinem Zimmer setzte er sich aufs Bett und zog sich die Ringe auf die Finger.
Er hatte ein verdammt schlechtes Gewissen.
 



 
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