Aber das Glück kann nie kommen

Steven Omen

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Er hatte die Badewanne mit extra warmen Wasser volllaufen lassen und gab die Kräutermischung „Badetraum“ hinzu, abschalten, entspannen, die Welt da draußen vergessen. Kein Internet, Fernseher, nicht einmal Radio. Die Welt konnte ihm gestohlen bleiben. Genug CD’s hatte er, von Klassik, über alte Hits von vor 20-30 Jahren wie Bon Jovi oder Depeche Mode, bis hin zu Jazz. Überall in der Wohnung Kerzen, er hatte sogar Patchouli-Räucherstäbchen gefunden, das Handy war aus. Nachdem er noch schnell an der Tankstelle das Nötigste gekauft hatte, inklusive einer Flasche akzeptablen Wein, war er durch den immer stärker werdenden Schnee nach Hause gestapft. „My home is my castle, ich glaube das nennt man heutzutage ‘Cocooning'.” Beim Stöbern durch seine Büchersammlung hatte er eine alte Ausgabe der Recherche von Proust gefunden, “genau das Richtige!”. Er liebte diese Endlosschleife aus Beschreibungen, Nabelschau und scheinbar unwichtigen Details aus dem Leben eines gelangweilten Dandys zu Beginn des Zwnzigsten Jahrhunderts in Frankreich. „Das wäre ein Leben, ohne finanzielle Sorgen in den Tag hineinleben, sich um scheinbar unwichtige Dinge kümmern, vom Leben dahintreiben lassen, bis hin zur Lebenssinndepression. Ja, das so müsste das sein.” Inzwischen war das Badewasser soweit abgekühlt, dass es weder zu heiß noch zu kalt war. Ludger schwebte geradezu im Wasser, ein süß-harziger, fein-hölzerner und balsamischer Duft lag in der Luft, die Stereoanlage spielte “Marconi Union” mit “Weightless”, seine Gedanken schweiften ab zu seinen letzten Urlauben. Formentera, Lombok, Diani Beach in Kenia, er mochte Strände, möglichst unberührt. Fast konnte er das Wellenrauschen dort hören, den Sand an seinen Fußsohlen spüren, das Salzwasser schmecken, eine tiefe Ruhe und Geborgenheit überkam ihn, er fühlte sich mit sich und der Welt eins.
„Aber das Glück kann nie kommen. Sind die Umstände endlich gefügig gemacht, so verlegt die Natur den Kampf von außen nach innen und bringt allmählich in unserm Herzen eine Wandlung hervor, so daß es etwas anderes wünscht, als was ihm zuteil werden wird.” Ludger legte die Recherche zur Seite und dachte über diesen Satz nach. Er hatte es sich inzwischen auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich gemacht, eingemummelt in seinen weißen Bademantel und einer flauschigen Decke, das Buch vor sich liegend, die Ellenbogen bequem aufgestützt auf einem weichen Kissen, er naschte Erdnüsse. „Natürlich ist das Glück nie vollkommen, liegt ja auch in der Natur des Menschen, immer fehlt etwas, stets sucht man das noch Bessere. Äußere Umstände verändern natürlich das Herz, die Gefühle, ja, man kann schlechte Sachen erleben und trotzdem Gutes wünschen, das macht Sinn, so ist der Mensch.” Ludger nahm wieder eine Handvoll Erdnüsse und schob sie sich in den Mund. Er ging in die Küche, um im Kühlschrank zu schauen, ob etwas Essbares darin war. Bis auf ein Glas mit Salz-Dill-Gurken und eine halbvolle Tube Senf war der Kühlschrank leer. „Na, dann eben der unvermeindliche Bringservice”, fantasielos bestellte er sich eine Quattro Stagioni. Nachdem er die Pizza gegessen hatte, lümmelte er wieder auf der bequemen Couch, diesmal ließ er Klassik (Schubert) laufen. Durch das Wohnzimmerfenster konnte Ludger schemenhaft erkennen, dass es schneite. Er machte das Fenster auf, holte sich ein Kissen und rauchte eine Zigarette. Ja, er hatte eigentlich aufgehört, aber seit einiger Zeit rauchte er wieder ab und zu eine. Er atmete weißen Atem aus, der sowohl von seiner Zigarette als auch von der Kälte kam. Melancholisch schaute er zu, wie der Schnee langsam das Gras vor seinem Fenster immer weißer werden ließ. Es war trockener Schnee, kein Pappschnee, der leise knisterte, wenn er auf dem Boden fiel. Eine schwarze Katze lief schnell über die Wiese, scheinbar suchte sie einen Unterschlupf oder ihre Wohnung. Ihn fröstelte, obwohl mit knapp 0 Grad es nicht zu kalt war. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und schloss das Fenster. „Jetzt könnte ich wieder baden”, dachte er. Früher hatte er intensiv Russisch gelernt, sogar einen Kurs an der Volkshochschule hatte er belegt. Aber nach einiger Zeit hatte er es einschlafen lassen. Warum Russisch? Er hatte noch einmal eine linguistische Herausforderung gesucht. Er blieb bei Chinesisch oder Russisch hängen, da ihm das Russische nicht ganz so fern erschien (man konnte wenigstens einige Buchstaben lesen), entschied er sich für Russisch. Außerdem hatte er Russisch an der Schule in Dresden gehabt. Er schaute sich auf Youtube einige kostenlose Lektionen an und nahm sich vor, wieder intensiver zu lernen, wenigstens 10 Minuten pro Tag. „Nicht für die Schule lernen wir, sondern für das Leben”, hatte ein Lehrer immer gesagt, „das stimmt!”, stellte er mal wieder fest und nahm einen Schluck Rotwein. Er erinnerte sich an seine Kindheit, an seine Schulzeit, frei und unbeschwert war sie gewesen. Das Schöne an den Erinnerungen ist, das man die schlechten vergisst und sich oft nur noch an das Gute erinnert. Der Kiosk, an dem er sich immer Süßigkeiten für ein paar Pfennige geholt hatte, oder die Eislaufbahn, auf der er im Winter mit seinen Freunden Schlittschuh gelaufen war. Wie in Glasdosen lagen sie in seinem Gedächtnis und wurden zu speziellen Gelegenheiten wieder hervorgekramt. Die Bücherei, ja dieser scheinbar langweilige und verstaubte Ort, hier hatte er das erste Mal Comics gelesen und ausgeliehen, später war sie zu einer Schatzkammer seiner Leseleidenschaft geworden. In den Glasdosen waren aber auch Gefühle und Empfindungen, wie z.B. der erst Kuss eines Mädchens oder die Freude, als Dynamo Dresden im Europapokal gegen eine westdeutsche Mannschaft gewonnen hatte. Er liebte es, diese Erinnerungen hervorzuholen, sie noch einmal nachzuempfinden, um sie dann erfreut zurückzustellen. Aus Langeweile schaltete er den Fernseher an und fing an herumzuzappen. In schneller Folge wechselte er die Programme, teilweise ohne sie richtig anzuschauen, ab und zu blieb er hängen, mal bei einer Doku mal bei einem Nachrichtensender, alles fügte sich zu einem Brei aus Farben, Tönen und Werbeeinblendungen. Er schaltete wieder aus. Nach einer Gutenachtzigarette (er stellte fest, dass er heute mehr als eine halbe Schachtel geraucht hatte), ging er schlafen, wälzte sich aber lange Zeit nur im Bett hin und her. Schließlich gab er es auf und machte das Licht an, “dann lese ich in der Recherche noch ein wenig”, dachte er sich und holte das Buch aus dem Wohnzimmer. Er war immer noch bei Swanns Welt, dem ersten Teil, er hatte also bei insgesamt sieben Bänden noch einiges zu lesen. Nach einer Weile lesen versuchte er es wieder, auch diesmal konnte er nicht einschlafen. „Was ist denn los?” Er stand auf und lief ruhelos durch die Wohnung. Seine Gedanken kreisten immer häufig um den Psychiatrieaufenthalt, um Prinz Caro, ab und zu dachte er sogar noch an Frida, obwohl die Sache schon Jahre zurücklag, „ich werde sie nie vergessen.” Auf der Wohnzimmercouch fand er Ruhe und verfiel in einen schlafähnlichen Zustand. Als er auf die Uhr schaute, erschrak er: “Schon fünf Uhr! Jetzt brauche ich auch nicht mehr schlafen!” Er zog sich an und holte am Ostbahnhof die Süddeutsche und beim Bäcker ein süßes Stück (Nussschnecke), machte sich Kaffee und las in aller Gemütsruhe die Zeitung. “Die Araber sollten sich das Leben des Brian anschauen, die Judäische Volksfront soll nicht gegen die Volksfront von Judäa kämpfen, sondern gegen die Römer”, stellte er beim Lesen fest. Komischerweise machte ihn der Kaffee nicht wach, im Gegenteil, er wurde so müde, dass er sich nur noch angezogen auf das Bett legen konnte und sofort einschlief. Erst spät am Nachmittag, die Sonne ging bereits unter, wachte er aus einem traumlosen Schlaf auf. Er rasierte sich, putzte sich die Zähne, spülte mit Mundwasser nach und klatschte zum Schluss After Shave auf die rasierte Haut.
 



 
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