Abgelaufen

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Abgelaufen


Sie war vielleicht ein bisschen zu spät gekommen. Vielleicht hatte es an dem Bus gelegen. Sie fuhr immer Fahrrad.
Vielleicht hatte es an dem Regen gelegen. Den hatte sie noch nie ausstehen können.
Als sie ankam, war die Wohnung leer. Ein paar Minuten früher und dann, dachte sie.
Die Küche sah genauso sauber und aufgeräumt aus wie immer.
Langsam strich sie mit dem Finger über den kleinen, roten Tisch an der Wand. Ein kleiner Brotkrümel blieb an ihrem Finger kleben. Sie leckte ihn ab.
Kümmelbrot.
Im Flur das gleiche. Alles ordentlich eingeräumt und geputzt.
Nichts für mich zu tun, sagte sie laut und erschreckte sich über ihre eigene Stimme, die von den hohen Wänden leise zurück hallte.
Die Schuhe waren fein säuberlich an der Wand aufgereiht.
Die braunen, die schwarzen, dann die blauen und dann die anderen braunen. Das System erschien ihr sinnlos, jetzt erst recht.
Ordnung im Haushalt macht erst Sinn, wenn man sie braucht, als Ausgleich, hatte sie immer gesagt.
Sie brauchte sie nicht. Ihr Leben schien geordnet genug.
Doch jetzt war sie vielleicht ein bisschen zu spät gekommen.
Der Zettel lag im Schlafzimmer auf dem kleinen Tisch, direkt neben dem Reiseführer.
Das war nicht fair und genau das dachte sie auch, das ist scheiße unfair.
Der Reiseführer war zerlesen, hunderte Male durchgeblättert und wieder zurück gelegt worden, nichts hatte sich verändert.
Jetzt lag da der Zettel.
Mara, stand da, ich werde auf dich warten. Um halb sieben an der Brücke an dem Schild,
das mit dem albernen Männchen drauf. Du weißt ja wo.
Ich warte dort eine halbe Stunde. Mara, nicht länger.
Also komm. Bitte.
Im Hintergrund hörte sie die Uhr an der Wand ticken, tick tock, tick tock.
Zu spät, zu spät.
Mara wollte sich nicht umdrehen, sie wusste es bereits.
Langsam drückte sie ihre Hand zu, immer fester.
Als sie die Hand wieder öffnete, war Zettel darin ein pflaumenkerngroßer Klumpen geworden.

Und er wartete und sie kam nicht.
Die Sonne ging unter, Dunkelheit legte sich langsam über die Stadt, nahm ihm die Sicht, nahm ihm die Luft.
Sie kam nicht.
Die Tasche lag schwer auf seiner Schulter, er wollte sie einfach fallen lassen. Aber der Boden war nass und aufgeweicht vom Regen, also blieb die Tasche wo sie war.
Er steckte seine Hände tief in die Taschen seiner Jeans, er wusste nicht, wo sonst hin mit ihnen, sie schienen nur nutzlos an seinen Armen zu kleben.
Hinter ihm schlug die große Kirchturmuhr, sie schlug zu oft, er wollte es nicht hören.
Er begann zu zählen, eins zwei drei, dann lief er los.
Er drehte sich nicht nochmal um.
Langsam bewegte er sich in Richtung Innenstadt, die Menschen um ihn herum wurden mehr, es wurde lauter, enger.
Noch eine Stunde Zeit, das wusste er, er könnte nochmal zurück gehen, vielleicht.
Vor einem Café blieb er stehen, jemand prallte gegen ihn, die Tasche rutschte von seiner Schulter.
Verdammt, pass doch auf wo du stehen bleibst. Er sagte nichts.
Die Tasche war jetzt voll mit Matsch und er fluchte, weil er jetzt in das Café gehen musste, um sie sauber zu bekommen.
Nachdem er das getan hatte, kaufte er sich einen Kaffee, schwarz bitte, und setzte sich an einen kleinen Tisch in die hintere Ecke des Raumes.
Noch fünfzig Minuten, dachte er, und eigentlich müsste sie doch hier vorbei kommen. Falls.
Der Kaffee schmeckte grauenhaft.

Dass sie ihre Jacke vergessen hatte, merkte sie erst, als sie schon auf der Straße stand.
Vereinzelte Regentropfen klatschten gegen ihr Gesicht, doch jetzt war es zu spät.
Sie lief schnell, sie wusste, wo sie hin wollte, sie wusste wo er hin gehen würde.
Die Stadt war viel zu voll an diesem Abend, zu viele Menschen, die sich wie wild auf die Sonderangebote stürzten.
Auf einer Bank am Straßenrand sah sie eine Jacke hängen, sie zögerte nicht, schaute sich nicht um.
Die Jacke roch erstaunlich angenehm und wärmte ihren Oberkörper, schütze sie vor dem aufkommenden Nieselregen.
Sie hörte eine Kirchturmuhr schlagen, irgendwo, und dachte, ich müsste es schaffen.
Die Züge fuhren immer zur gleichen Zeit, auch heute und sie wusste, welchen Zug er nehmen würde.
Andere Gedanken ließ sie nicht zu, zerdrückte sie.
Zerdrückte sie in ihrem Kopf wie zuvor den Zettel in ihrer Hand. Bis sie nur noch pflaumenkerngroß waren.
In einiger Entfernung sah sie die hellen Lichter des Bahnhofs und ihre Mundwinkel verzogen sich unweigerlich zu einem Lächeln.
Sie würde es schaffen, nicht mehr weit, nicht mehr lange.
In ihren Gedanken tauchte ein Bild auf. Ein Bild von ihm, am Bahnsteig stehend, wie er umher schaute, wie er sie erblickte und wie sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.
Ihr war nicht mehr kalt.

Der Kaffee hatte es nicht besser gemacht und jetzt musste er wirklich los.
Der Riemen seiner Tasche drückte sich erneut tief in seine Schulter und feiner Nieselregen wehte ihm entgegen, er wollte umkehren, doch er wusste, es war schon zu spät.
Etwas in seinem Hals schmerzte ihn, vielleicht sollte er am Bahnhof noch ein paar Halstabletten besorgen.
Die Menschenmassen wurden weniger, je näher er dem Bahnhof kam.
Die Leute mieden die Nähe des Bahnhofs, soweit sie konnten, heute konnte er nicht.
An einer roten Ampel blieb er stehen.
Noch konnte er wieder zurück, noch blieb Zeit, vielleicht wartete sie ja dort oder irgendwo.
Doch die Tasche wurde immer schwerer, die Ampel sprang auf grün und der Bahnhof lag schon kurz vor ihm.
Sie ist nicht gekommen, sagte er sich, sie hätte kommen können.
Du bist jetzt hier und sie ist nicht da.
Vor ihm tat sich der große Eingangsbereich des Bahnhofs auf und er erblickte die große Uhr, die thronend darüber hing.
In einer halben Stunde ging der Zug.

Noch zwanzig Minuten, dachte sie und wünschte den Bahnhof näher herbei, wünschte die restlichen hundert Meter einfach zu überspringen.
Ihr Schlüssel bohrte sich beim Laufen tief in ihren Oberschenkel und sie dachte nur, wie gerne sie jetzt in dem Café auf der anderen Straßenseite sitze würde, irgendwo in der hinteren Ecke, einen heißen Tee trinkend. Und mit ihm, der wie immer schwarzen Kaffee trinken würde.
Plötzlich kam ein Hund von der Seite her angerannt, sprang kläffend an ihr hoch und drückte seine schmutzigen Pfoten an ihre Jacke, die nicht mal ihre eigene war.
Susi, komm sofort hier her!, rief eine Frauenstimme.
Sie schüttelte den Hund ab, ignorierte die Entschuldigung der Frau und lief weiter in Richtung Bahnhof.
Vielleicht wartet er auch dort, dachte sie, er kennt mich doch, bestimmt wartet er.
Gleichzeitig war der andere Gedanke, sie wollte ihn beiseite schieben, doch er war zu stark und sie wusste, dass er wahr war.
Er kennt dich, aber er wartet nicht, dachte sie. Nicht mehr.
Vor ihr tat sich der Eingangsbereich des Bahnhofs auf und sie sah die große Uhr.
Sie wusste, wo sie hin musste.

Der Zug stand schon auf dem Gleis als er dort ankam, im Mund den frischen Geschmack von Pfefferminze.
Das komische Gefühl im Hals noch da.
Er blickte sich um, hoffend. Es waren nicht viel Menschen am Gleis, aber sie war nicht dabei.
Er hatte noch ein paar Minuten Zeit, also stellte er sich in den abgegrenzten Bereich und zündete sich eine Zigarette an.
Kurz dachte er daran, was sie jetzt sagen würde, wegen der Halsschmerzen und sowieso.
Er ignorierte den Gedanken.
Obwohl ihm nur noch fünf Minuten blieben, rauchte er langsamer als sonst. Wegen dem Genuss, sagte er sich, schließlich sitze ich jetzt lange im Zug.
Als er beim Filter angelangt war, gab er auch. Es war zu spät.
Bitte steigen Sie ein, der Zug fährt in wenigen Augenblicken ab.
Langsam ging er auf die noch offene Tür zu, die Tasche war immer noch zu schwer.
Gleich, im Zug, konnte er sie abstellen.
Er vermied es einen letzten Blick den Gleis entlang zu werfen.
Es war zu spät.

Sie kam auf den Gleis gelaufen, der Zug stand noch da.
Wo ist er, dachte sie, er ist hier, und hastete den Gleis entlang.
Plötzlich sah sie ihn an der Tür kurz vor den Stufen, ein paar Meter weiter und ihre Schultern, die sie beim Laufen hochgezogen hatten, fielen langsam herunter, als sie ihre Schritte verlangsamte.
Philipp, sagte sie leise. Er blieb stehen.
Es tut mir leid, dass ich zu spät bin, sagte sie. Du kennst mich doch.
Er drehte sich nicht um.
Ja, sagte er. Ich weiß.
 

IDee

Mitglied
Finde ich super spannend geschrieben, den Schluss finde ich hingegen ein wenig traurig. Da fehlt mir die Emotion.

Beste Grüße

IDee
 

Ofterdingen

Mitglied
Hi,

Deine Geschichte ist sehr viel besser als der Durchschnitt der Texte in der LL, liest sich wirklich großartig. Besonders gelungen der schnörkellose Stil und der Perspektivwechsel zwischen den zwei Protagonististen. Angenehm auch, dass du nicht zu den Analphabeten gehörst, sondern in Orthographie und Interpunktion fit bist. Ein paar kleine Fehler sind dir unterlaufen: So ist z.B. "der Gleis" falsch, es müsste "das Gleis" heißen. Aber ich will hier keine Erbsen zählen, sondern dir lieber zu diesem Text gratulieren. ¡Felicitaciones!

LG,

Ofterdingen
 
U

USch

Gast
Hallo Alice,
eine wunderbar geschriebene Geschichte. Ein paar kleinere Fehler und Anregungen im folgenden zur Anregung, wenn du sie ändern magst.

Langsam strich sie mit dem Finger über den kleinen, roten Tisch an der Wand. Ein kleiner Brotkrümel blieb [blue]dar[/blue]an kleben.

Als sie die Hand wieder öffnete, war [blue]der [/blue]Zettel darin ein pflaumenkerngroßer Klumpen geworden.

Ihr Schlüssel bohrte sich beim Laufen tief in ihren Oberschenkel und sie dachte nur, wie gerne sie jetzt in dem Café auf der anderen Straßenseite sitze[blue]n[/blue] würde, irgendwo in der hinteren Ecke, einen heißen Tee trinkend.

Als er beim Filter angelangt war, gab er [red][strike]auch[/strike][/red] [blue]auf[/blue].

Er vermied es[blue],[/blue] einen letzten Blick [red][strike][strike]den [/strike][/strike][/red] [blue]das [/blue]Gleis entlang zu werfen.

Sie kam auf [red][strike]den [/strike][/red] [blue]das [/blue]Gleis gelaufen, der Zug stand noch da.
Wo ist er, dachte sie, er ist hier, und hastete [red][strike]den [/strike][/red][blue]das [/blue]Gleis entlang.

LG Uwe
 
P

Paul Schubert

Gast
Hallo Alice,

gut geschrieben! Gute Idee gut umgesetzt. Der Perspektivwechsel hat etwas Filmisches. Auch das gefällt mir.

Auch die Sprache gefällt mir. Sie ist so ganz und gar unpretentiös. In diesem einfachen Stil gelingt es Dir, den Charakter der Geschichte rüberzubringen, das Atemlose, das Festhalten an der Hoffnung, doch noch einen Weg zu finden.

Manch alter Hase kann bei Dir in die Lehre gehen.

Gruß, Paul
 



 
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