Abschiednehmen

4,50 Stern(e) 6 Bewertungen

Anna Osowski

Mitglied
Dein Blick ist wie geronnene Milch. Fast möchte ich mich abwenden, wenn ich in Deine Augen sehe. Doch sie sind mir so vertraut, dass ich gebannt und doch fassungslos das Blau in ihnen suche, das ich einst kannte. Dein Kopf hängt müde. Leblos liegt Deine bleiche Hand auf dem Tisch und ich ertappe mich zum tausendsten Mal, wie ich alles an Dir beobachte. Die Hand, welche sich vor langer Zeit auch manchmal gegen mich erhob. Ich hatte Angst vor ihr und doch war sie immer so etwas wie ein Zuhause. Sie gab mir stets das Gefühl, dass sie immer eine Lösung findet. Doch jetzt liegt sie da und weiß von keiner Lösung. Mag nicht einmal mehr die Frage hören, welche der Augenblick oder der Tag oder die Jahreszeit stellt.

Was hat das Leben Dir versprochen, was es nicht halten konnte? Oder hast Du etwas falsch verstanden? Manchmal möchte ich das Leuchten in Deinen Augen wieder anzünden, das ich einst so liebte. Vielleicht ist es auch so, dass ich darauf lauere, dass sich ein Leuchten hinein schleicht. Oder nur ein Glitzern. Doch ich warte vergebens. Ich habe nicht einmal eine Ahnung, ob Du Dich einsam fühlst. Oder müde. Oder nicht mehr fühlst.

Es ist schon seltsam. Über viele Jahre hast Du mein Leben begleitet und erst jetzt, im Nachhinein, bemerke ich das. Bemerke ich Dich, denn Du warst so selbstverständlich da, dass ich nie richtig hinsah. Mir nie ein Bild von Dir zeichnete. Jetzt schaue ich auf das, was von Dir übrig ist. Ein erschütternder, trauriger Moment. So wie man das Welken einer Blume nicht aufhalten kann, so ist es auch mit einem Menschenleben. Nur wird die Vergänglichkeit mir schlagartig bewusst. Versetzt mir einen Tritt in die schweigende Seele. Weckt etwas in mir auf, das so herrlich geschlummert hatte. Reißt mich aus dem watteweichen Traum.

Ich frage mich, ob ich mir alles, das Leben, ohne Dich vorstellen kann. Ob ich mir vorstellen kann, dass Du nicht mehr da bist, nie mehr da bist. Nie mehr die Stirn runzelst, nie mehr lachst, nie mehr klagst, nie mehr kopfschüttelnd auf den Boden schaust. Dabei ist es seit vielen Jahren eher selten, dass wir uns sehen. Es vergehen Wochen, ohne dass wir miteinander sprechen. Kann ich Dich nicht einfach weiter in meinem Leben denken. Abwesend denken. Vater bist Du mir und wirst es mir immer bleiben.
 
Hallo Anna Osowski,

ein sehr schöner Text, der gerade am Anfang durch die genauen Beobachtungen und treffenden Beschreibungen besticht. Mir persönlich gefallen die zwar gut beschriebenen, aber doch weniger spezifischen Reflexionen in den letzten beiden Abschnitten teils nicht ganz so wie der Anfang:

„Über viele Jahre hast Du mein Leben begleitet und erst jetzt, im Nachhinein, bemerke ich das. Bemerke ich Dich, denn Du warst so selbstverständlich da, dass ich nie richtig hinsah.“

Das sind zwar gute Sätze, andererseits hat die Aussage nicht das Spezifische und Charakteristische des Anfangs. Diese Sätze treffen eigentlich mit genau diesen allgemeinen Worten auf sehr, sehr viele Beziehungssituationen zu, dabei fehlt hier aber für mich das Typische, Atmosphärische, was den Aussagen auch etwas Unverwechselbares gibt, das man genau diesem Text, dieser Situation zuordnet.

Überlegen würde ich - bitte betrachte immer alles nur als Ideen, die man aufgreift oder verwirft - , ob es sinnvoll ist, das Du groß zu schreiben. Aus zwei Gründen: Nach den neuen Rechtschreiberegeln wird das Du als Anrede generell, also auch als Anrede in Briefen, nicht mehr groß geschrieben. Zweitens: Ein Du in einem Prosatext, selbst wenn ein unsichtbarer Zweiter angesprochen wird, ist für mich nicht mit dem Du eines Briefes identisch. Es ist nur ein stilistisches gesetzte Du, das würde ich eher klein schreiben, wenn es kein ausdrücklicher Brief ist. Und selbst für Briefe gilt Punkt eins.

Noch zwei Punkte, die für mein Stilgefühl geprüft werden könnten.

Die Hand, welche [[Ich halte diese Relativpronomen für veraltet und geschraubtes Deutsch, warum nicht „die“?]] sich vor langer Zeit auch manchmal gegen mich erhob. Ich hatte Angst vor ihr und doch war sie immer so etwas wie ein Zuhause [[Dass eine Hand „so etwas“ wie ein Zuhause ist, scheint mir im Bild etwas überdehnt]].

Dagegen ganz wunderbar:

„Manchmal möchte ich das Leuchten in Deinen Augen wieder anzünden…“

Der Text ist wirklich schön zu lesen und erscheint mir als echte Bereicherung für unsere Kurzprosa.

Beste Grüße

Monfou
 



 
Oben Unten