Abtrocknen

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minitaurus

Mitglied
Abtrocknen

Nach dem gemeinsamen Mittagessen war es ungeliebte Pflicht, dass einer der drei Söhne abtrocknete, wenn die Mutter das Geschirr abwusch. Es gab jedoch kein klares System, wer genau gerade dran war, und so gab es des öfteren Diskussionen darüber. Es musste der Tag kommen, an dem eine solche Diskussion ohne Ergebnis blieb, und als es dann soweit war, ärgerte sich der Vater darüber so, dass er mit allen Anzeichen von Zorn aufstand, alles abräumte und, die Türe hinter sich verschließend, in der Küche verschwand, um alles im Alleingang zu erledigen.
Im Esszimmer machte sich beklommenes Schweigen breit, und nach und nach verschwand einer nach dem anderen; zuerst die Mutter, dann die beiden Brüder. Der Kleine aber, der nicht sehen konnte, dass er etwas falsch gemacht hätte, wollte so das Feld nicht räumen, und harrte aus, auch wenn sich die Sache doch ganz schön in die Länge zog. Als der Vater schließlich mit seinem Werk zu Ende war, ins Zimmer zurück kam und knurrte: „Du kannst auch verschwinden“, protestierte er. Hätte man ihm gesagt, er sei heute dran, dann hätte er natürlich …
Und damit schlug er den Vater in die Flucht, der wortlos seinen Spazierstock nahm und das Haus verließ. Der Kleine sah ihm bedrückt durch das Fenster nach und fühlte sich ratlos. Es wurde nie wieder darüber gesprochen.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Sehr schön.
So etwas triviales aufgebaut wie eine kleine Tragödie.
Alltags und Küchentragödien haben denn auch die schöne Eigenschaft interpretiert und weitergedacht werden zu können, weil sie so unaufdringlich und humorvoll rüberkommen.
Gefällt mir!

Eine Kleinigkeit:

"das er etwas falsch gemacht hatte"
wenn mich nicht alles täuscht.

L.G
Patrick
 

Wipfel

Mitglied
Hi minitaurus, ich kann die Begeisterung von Patrick nicht teilen. Kurzprosa lebt von der treffsicheren Platzierung der Wörter. Der hier eingestellte Text wirkt auf mich unreif, sprachlich unausgewogen:
Nach dem gemeinsamen Mittagessen war es ungeliebte Pflicht, dass einer der drei Söhne abtrocknete, wenn die Mutter das Geschirr abwusch. Es gab jedoch kein klares System, wer genau gerade dran war...
Geplapper, kein wohlkomponierter Text. Daher bleibt der Text für mich in der Alltagssprache, wirkt belanglos und flach. Ja klar, so mag es sich in Familien zutragen. Doch als Kurzprosa bist du hier zu kurz gesprungen - finde ich.

Grüße von wipfel
 

minitaurus

Mitglied
Danke schön, lieber Patrick, für die lobenden Worte
Was das hätte betrifft: Grammatikalisch ein berechtigter Einwand.
Der Konjunktiv sollte aber unterstreichen, für wie unwahrscheinlich er das hielt. Vertretbar?

LG Hermann
 

Willibald

Mitglied
Mir scheint, diese Miniatur mit ihren Leerstellen funzt, wenn der Leser sich darauf einlässt.

Der Konjunktiv "hätte" ist möglich, er unterstreicht einfach noch einmal, was der Indikativ schon sagt: Die geregelte Absprache hat nicht gefunzt.
 

minitaurus

Mitglied
Natürlich hätte man das fetziger aufbauen können, lieber Wipfel, aber danach war mir nicht, bei diesem Text jedenfalls nicht. Ich hab's mehr mit den leisen Tönen. Oder verstehe ich damit Dein "wohlkomponiert" falsch?
Dir, lieber Willibald, danke für die Schützenhilfe.
 

Wipfel

Mitglied
dann eben nochmal ins Detail:
Nach dem gemeinsamen Mittagessen war es ungeliebte Pflicht, dass einer der drei Söhne abtrocknete, wenn die Mutter das Geschirr abwusch. Es [blue]gab[/blue] jedoch kein klares System, wer genau gerade dran war, und so [blue]gab[/blue] es des öfteren Diskussionen darüber.
Der erste Satz ist umständlich und schwach formuliert. Mach zwei Sätze draus - von mir aus auch zwei leise - und der Einstieg mag gelingen. Es braucht nicht viel, um herauszufinden, dass auch im zweiten Satz zumindest Oberflächlichkeit in der Platzierung von ohnehin schon schwachen Verben aufscheint - usw.

Grüße von Wipfel
 

Willibald

Mitglied
Tja, da kann man sich wohl nach einem vorausschauenden Blick auf den jetzt folgenden Textumfang fragen: Was soll denn das? Länger als die Vorlage. Rum-Eiern der selbstverliebten Art?
Und so ist es ja irgendwie auch. Vertrackt.

(1) Alleingang

Die Bewertung dieses Textes ist offenkundig strittig. Wipfels Anmerkungen sind plausibel. Derüberlange Anfangssatz, die Repetition von "gab".Anderes. Und das deutet auf eine grundlegende Schwierigkeit der Textorganisation hin: Es fehlt auf den ersten Blick an einem klaren Erzählprofil, die Akteure kommen nicht direkt zu Wort, das Geschehen wird in einer eher neutralen Perspektive in seinem fast zwanghaften Ablauf geschildert. Eine Innenperspektive, eine interne Fokalisation ist kaum vorhanden.

Und damit auch kein vertrauenswürdiges oder verlässliches Orientierungszentrum, weder auf der extradiegetischen Ebene (der überschauende Erzähler in der Kontaktaufnahme mit seinen Lesern/Hörern) noch auf der intradiegetischen (eine verlässliche, belastbare, ernst zu nehmende Durchblickerfigur innerhalb der Ereigniswelt).

Nicht zuletzt ist der Schluss-Satz von der Art, dass hier Ratlosigkeit konstatiert wird, die der Leser wohl teilt. Und das Ausklammern einer Hintergrunderkundung. In der Familie „wurde nie wieder darüber gesprochen“. Fast ein Deutungsauftrag für den Leser, wenn er sich denn überhaupt auf die Geschichte einlässt. Eine eher spröde Geschichte, die ein Alltagsritual und eine besondere Situation unspektakulärer Art präsentiert. Aus dem inneren einer Familie. Und doch irgendwie „außen vor“.

Dann gibt es da noch eigentümliche Codierungen in der Sprache. Zu Beginn eine Vorankündigung mit Hochwörtern wie „Pflicht“, dann erst deren Inhalt, ein fast schon komischer Kontrast, da es nur um das „Abtrocknen“ geht. Dann das vielleicht ärgerliche (Variatio delectat, aber hier wird dieses Gebot eben nicht vom Autor befolgt) das ärgerliche Wiederholen von „es gab“. Vielleicht dadurch zu retten, dass die Nichtexistenz von Klarheit die serielle Existenz nervender Diskussionen generiert.

Dann das eher düster-dunkle fast schon melodramatische „Es musste der Tag kommen“, das an Missgeschick, böses Schicksal, Fatum, Verhängnis und ähnliches andockt. Dann ein Partizipialausdruck „verschließend“ in einem fast schon kleistisch anmutenden Langsatz, der mit dem „Alleingang“ endet.

Kurz: Hier ist etwas mit sehr viel Bedeutung aufgeladen. Und je nach Stimmungslage und Sozialisationserfahrung mag der Leser das alles als irgendwie komisch oder wichtigtuerisch ernsthaft oder belanglos empfinden und werten. Dann befinde(t) sich der Autor eben in einem Alleingang, man kann den Text mit einem Achselzucken beiseite lassen und ihn und den Textraum verlassen.

(2) Nahaufnahmen

Das Verb „Abtrocknen“ öffnet als Überschrift den Sinnbezirk „Tätigkeit in der Küche“, oft – wenn auch heute immer weniger – eine eher „niedere“ Arbeit. Der Hausfrau überlassen, weil nicht „männlich“ genug. Umgekehrt, und das bestätigt das Vorige: Wenn ein Mann einer Frau beim Abtrocknen oder überhaupt beim Geschirr hilft, dann gilt er entweder als Softie und Pantoffelheld. Oder als einer, der reguläre, konventionelle Normen für gering erachtet, aber doch eine Art positiver Grenzüberschreitung leistet, indem er einer unmännlichen Tätigkeit nachgeht. Ein Bonus, den er sich da bei vielen Frauen verdient. So war es jedenfalls vor einiger Zeit. Wohl auch hier in der dargestellten Szene. Oder? Eine Kleinfamilie mit Mutter, Vater, drei Söhnen. Wohl eine Zeit, in der Spülmaschinen kaum vorzufinden sind:

Ein Minidrama. Offensichtlich ist das Geschirr-Behandeln annähernd geregelt. Die Mutter spült. Die Jungen sind dann jeweils mit dem Abtrocknen dran. Die Kinder, männlich, sind verpflichtet, zu helfen. Die Regulierungssituation ist jedoch ausgefranst. Die Nichteindeutigkeit in der aktuellen Abtrockensituation erzeugt ein Patt bei den Brüdern und ein Stopp in der Arbeitsteilung und Arbeitsleistung der Familie.

Es gibt kein Nachgeben und es gibt kein „Nicht so genau nehmen“ und dann eben einfach mal helfen. Offensichtlich beharrt man in einem Rechthabediskurs auf seinen Positionen. Die Sache, so gering sie ist, wird aufgebläht ausgefochten, und das Ergebnis ist die Nichtaktivierung der Söhne und das resignativ-wütende Aktivwerden der Vaterfigur.

Die männliche Rollenfigur Vater, qua konventioneller Normlage den Söhnen übergeordnet, sie spricht kein Machtwort. Vielleicht akzeptiert die Vaterfigur die diffuse Seite der heutigen Pflichtverteilung. Vielleicht hat er aber auch nur das Gewese und die Rechthaberei satt. Auf jeden Fall wird er wütend selber aktiv, betritt den Küchenraum, schließt ihn vom Wohnzimmerraum mit Frau und drei Kindern ab. Und tut, was ansteht.

Diese Aktion mag eine gewisse Beschämung hervorrufen, auf jeden Fall wird so etwas wie Verlegenheit sichtbar. Die Restfamilie „verdrückt“ sich aus dieser seltsamen Zwickmühlenlage von Aktivität und Passivität, Solidarität mit dem Vater, Loyalität .... Nur der Jüngste bleibt.

Es wird nicht ganz klar, was nun in der Tiefenstruktur der Geschichte passiert: Der abweisende Kommentar des Vaters „Du kannst auch verschwinden“ signalisiert, dass die Familie sich in Vaters Perspektive bis zu einem gewissen Grad deklassiert hat. Vielleicht auch deswegen, weil hier immer alles abgewogen und gerecht zugehen muss, selbst wenn es sich um Kleinigkeiten handelt.

Wenn das so ist, dann ist das „Protestieren“ des Kleinen eben auch nur mit dem Kontroll- und Gerechtigkeitszwang dieser Familie vernetzt, er hat den familiären Diskurs als machtvoll internalisiert. Immerhin: Eine klare Anweisung - es bleibt offen, ob die dann der realen bisherigen Arbeitsteilung entspricht oder nicht - die wäre hinreichend gewesen, einzuspringen und zu helfen und dem Vater die Wut und die eher unwürdige Arbeit zu ersparen. Auf jeden Fall – so scheint es - will der Kleine signalisieren, dass er seine Abtrockenabstinenz angesichts der ungeklärten „Rechtslage“ nicht als Unrecht empfindet und dass er daher den Anblick des Vaters nicht zu scheuen braucht. Kombiniert mit dem gewissen Mit-Leid und dem Gefühl der Mitschuld (?), was da die Familie als Verhängnis über den Vater gebracht hat.

Auffällig, dass es in der ganzen Angelegenheit keine Spontanaktion gibt. Der Vater könnte in verschiedenen Codierungen die Angelegenheit ordnen. Auch könnte die Mutter etwas befehlen oder humorvoll erbitten, aber wahrscheinlich ist der Gerechtigkeitsdiskurs auch für sie etwas Verbindliches, mag er auch noch so starr sein. So bildet sie (plötzlich) mit den drei Verweigerungssöhnen eine lose Einheit. Die gewisse Peinlichkeit dieses Bildes ist es, die dann zwei der drei Söhne samt der Mutter zum Ausblenden der Situation und dem Verlassen des Esszimmers veranlasst.

(3) Darüber sprechen

Das „Hätte man ihm gesagt“ samt der weiteren Elemente steht vielleicht für die bisher und immer weiter geltenden Familienwerte und ihr davon ableitbares Verhaltensszenario. Der Diskursversuch des kleinen Sohnes scheint jedenfalls die Stärke der Familiengerechtigkeitsnorm zu bestätigen: Da die gerechten Voraussetzungen für eine klare Arbeitsanweisung nun mal fehlen und der Vater diesen Mangel wohl als Mangel anerkennen muss, wird er „in die Flucht geschlagen“.

Es bleibt offen, ob dass auch aus seinem Überdruss und wegen der vielleicht von ihm schon öfter als starr und zu starr empfundenen Familienethik geschieht. Es bleibt offen, ob er sich bisher mit dem Hinweis auf die Möglichkeit weicherer und flexibler Normen nicht durchsetzen konnte. Dann wäre der „richtige“ Adressat seiner wütenden Reaktion wohl die Mutter, seine Frau. Und kaum die drei Söhne, die ja wohl internalisiert haben, was bisher – im Sinne der Mutter (?) - als Regel und Gesetz galt.

Und der Jüngste ist wohl am wenigsten an all diesen Abläufen, ihrer gewissen Mechanik schuld. Bei ihm findet sich Empathie mit dem Vater, bei ihm findet sich – er ist der Jüngste und Kleinste – wohl am wenigsten das Vermögen, die ganze Sache für sich oder mit dem Vater zu hinterfragen. Und da ist sogar das Angebot eines Kontaktversuches mit dem Vater durch Verbleiben im Esszimmer. Aber – und die Geschichte ist nun auffällig genug – „es wurde nie darüber gesprochen“, bis – so können wir ergänzen – diese Geschichte geschrieben und gelesen wurde.

(4) Textur

Der Text steht in einer Tradition von Kurztexten, Skizzen und „short cuts“. Minitaurus mag nicht zuletzt deswegen auch den Begriff „Miniaturen“.

Allerdings nicht die kurzen Segmente mit der fast zufälligen Abfolge in den Handlungen verschiedener Figuren und dann folgenden Überschneidungen und Knoten. Hier vielmehr eine Kurzskizze mit der Einheit von Ort, Zeit, von einem Figurenverbund. Eine „Esszimmerszene“, anskizziert, fast „nur“ rudimentär „ausgeführt“.

Positiver formuliert: Weg vom Ausstattungstext, von Dekor, von Poetisieren. Eher unartifizielle Formulierungen. Ein direktes, aber beschränktes Angehen von Beziehungen in ihrem Umfeld.

Und gleichzeitig durchsetzt mit sorgfältigeren Formulierungen in Syntax und Lexematik, die ohne Glättung auskommen, und so Gewichtung in die scheinbare Nebensächlichkeit der Sache bringen. Bedeutungsschwerleichte Texturen eigener Art.
 

minitaurus

Mitglied
Abtrocknen

Nach dem gemeinsamen Mittagessen war es ungeliebte Pflicht, dass einer der drei Söhne abtrocknete, wenn die Mutter das Geschirr abwusch. Es gab jedoch kein klares System, wer genau gerade dran war, was immer wieder zu verquälten Streitereien führte. Es musste der Tag kommen, an dem eine solche Diskussion ohne Ergebnis blieb, und als es dann soweit war, ärgerte sich der Vater darüber so, dass er mit allen Anzeichen von Zorn aufstand, alles abräumte und, die Türe hinter sich verschließend, in der Küche verschwand, um alles im Alleingang zu erledigen.
Im Esszimmer machte sich beklommenes Schweigen breit, und nach und nach verschwand einer nach dem anderen; zuerst die Mutter, dann die beiden Brüder. Der Kleine aber, der nicht sehen konnte, dass er etwas falsch gemacht hätte, wollte so das Feld nicht räumen, und harrte aus, auch wenn sich die Sache doch ganz schön in die Länge zog. Als der Vater schließlich mit seinem Werk zu Ende war, ins Zimmer zurück kam und knurrte: „Du kannst auch verschwinden“, protestierte er. Hätte man ihm gesagt, er sei heute dran, dann hätte er natürlich …
Und damit schlug er den Vater in die Flucht, der wortlos seinen Spazierstock nahm und das Haus verließ. Der Kleine sah ihm bedrückt durch das Fenster nach und fühlte sich ratlos. Es wurde nie wieder darüber gesprochen.
 
A

aligaga

Gast
Zu dieser deiner Exegese, lieber Willibald, über eine Situation, wie sie heut im Zeitalter der Spülmaschinen und Wäschetrockner wohl nicht mehr vorkommen kann (und in der Mutti eine recht sonderbare, scheinbar niemandem auffallende, aber tragende Rolle spielt), hier noch die Melodie zum Text.

Viel Spaß damit!

Heiter

aligaga
 

molly

Mitglied
Spülmaschine ausräumen ist genau so unbeliebt wie das frühere Abtrocknen. Diese Geschichte sagt mir "Jungs, beibt sitzen, der Vater wirds schon richten." ;)
 
A

aligaga

Gast
Der Vater hat hier gar nichts gerichtet, o @molly, sondern seiner Gattin vor Dritten gezeigt, dass er sie für eine VersagerIn hält. Statt die Blagen anzuweisen, ihrer Mutter zu helfen, wie sich's (damals) gehörte, hat sich der Typ erst wichtig und dann einen auf Leberwurst gemacht.

Nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern auch in Bezug auf die elterliche Autorität (an der grundsätzlich ja nichts Schlechtes ist), scheint @ali das hier beschrieb'ne Verhalten durchaus fragwürdig.

Dass man dünn geratene Texte überinterpretieren kann, sollte das von @ali verlinkte Beispiel zeigen. Hast du's dir angesehen und dich auch totgelacht?

Wenn die besagten Söhne sowas wie ein Hirn haben, würden sie konsequenter Weise nie wieder abtrocknen. Der Alte wird's schon machen ...

Amüsiert

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Er schnitt eine dicke Scheibe von dem Filet ab, ließ sie fünf Sekunden auf jeder Seite zischen und kam damit zu ihr an den Tisch. „Mahlzeit!“ rief er vergnügt und begann zu säbeln. Ina hatte von der Aprikosenmarmelade genommen und noch ein bisschen Zucker dazu gestreut, den Pfannkuchen mit den Fingern eingerollt und aß ihn nur mit der Gabel. Sie sah ihm zu, wie er aufrecht und gerade am Tisch sitzend, die Ellbogen angelegt, geräuschlos mundgerechte Stücke abschnitt und mit geschlossenem Mund kauend das innen noch völlig rohe und gewiss kalte Fleisch verzehrte. „Er ist keine Maschine, er ist ein Raubtier“, dachte sie, während sie die herbsüße Marmelade auf ihrer Zunge zergehen ließ. „Ein Weißer Hai, ein Killerwal, der mit den Robben noch spielt, bevor er sie bei lebendigem Leib auffrisst. Dem sieht man auch nichts an, während er durch die Weltmeere schwimmt“.

„Oh, entschuldige!“ Er sprang auf und griff in eine der Schubladen des Küchenschrankes, „Servietten!“ Ina nahm eine und wischte sich den Mund und die Finger ab. Sie war sehr oft mit Jungs beim Essen gewesen. Die meisten hatten keine Manieren gehabt, waren am Tisch gelümmelt, hatten mit vollem Mund geredet und manchmal wie Schweine geschmatzt. Aber keiner hätte das Fleisch so roh gegessen wie er. „Ist etwas?“
Nun, wenn man diese Szene und ihre unmittelbare Nachbarschaft liest, so zeigt sich vieles, sehr vieles, was den Witz einer Parodie auf RRs Deutung von „Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen“ (Thomas Freitag) keineswegs widerlegt, aber vielleicht auch deswegen nicht widerlegt, weil sich hier bei aligagas Kipper wahrhaftig ein Deutungsangebot auftut, das man exuberant, durchaus exuberant genießen und auch ausformulieren kann.

Bevor wir dieses Kommunikationsspiel in der Festmahldarstellung, die Opposition von „Roh“, „blutig“ vs „Eier/Mehl“, rohe Jungs vs manierlicher Kipper, monopolorientierter Gastgeber vs differenzierender Gastgeber ausleuchten, doch noch ein paar Bemerkungen zur Sache „Essen“, die eine „Sache“ ist und die man nicht bloß isst:

Grimmelshausen, Moritz, Goethe, Heine, Gottfried Keller, Thomas Mann, Günter Grass, Friedrich Dürrenmatt und all die anderen: Was bliebe von ihren Werken, wenn man sie um die kulinarischen Szenen brächte?
Ob Chaplins Goldrausch oder Der diskrete Charme der Bourgeoisie, ob La Grande Bouffe oder Heimat, ob Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber oder Der Pate: Was wäre der Film ohne die ihm spezifische voyeuristische Gastrosophie, die uns am Paradigma erst prächtig geschmückter und reich gedeckter, dann sich unordentlich leerender Tische profane Erleuchtung über die Geheimnisse von Sein und Nichts und über zunehmende Entropie zu vermitteln weiß?

Die differentia specifica des „animal edens, nonnumquam devorans“, die „Genußfähigkeit als Gastlichkeits- und Friedensfähigkeit" , das Essen als interkulturelle Differenz- und Friedensfeier so lauten in der soziokulturellen Forschung die Leitmotive. Sind Tafelszenen doch Knoten im kulturellen Gewebe, wo Essakt und Sinnstiftung einander besonders innig berühren, wo Reproduktion des Körpers und Produktion von Sinn ineinander übergehen, wo „Aroma und Memoria" ihr magisches Rendezvous haben, wo im Verzehr von Seiendem das größte Geheimnis menschlicher Kultur, das Geheimnis der Bedeutungs-Stiftung" offenbar wird, wenn man es recht liest und recht genießt.

Literarische Werke und natürlich auch Filme dienen dem delectare, weil sie dem prodesse verpflichtet sind. Das Wissen von Literatur über die Logiken von Kultur, über den Geist der Küche und über die Küche des Geistes ermöglicht ihr, wenn sie denn die Zusammenarbeit mit anderen Humanwissenschaften sucht und findet, einen Zugang zu den Tiefenstrukturen, die Kulturen und Mentalitäten formieren.

Ein solches Thema und solche Methodik berührt/berühren sich mit Aromaharmonie und dem Fluidum eines vielgängigen Essens. Das spendet Verstand, Kraft und Lust. Und es macht Appetit auf mehr. Und aligaga hat es angerichtet. Nun also in medias res medium und auch durch ….

Molly:
Was man auch alles sehr kurz sagen kann, jedenfalls mir kommt es so vor: "Liebe geht durch den Magen“.

Aligaga:
Das (d a s) ist nicht überinterpretiert, o @molly
.
Im übrigen memoriert unser guter @willibald Filme und Bücher aus Olims Zeiten. Keiner, kaum einer wird und will und würde (Potentialis) hier allzulange weiterlesen. Sondern quietschvergnügt das herrliche
Oktober ...
 

molly

Mitglied
Hallo Willibald,

"Liebe geht durch den Magen“.

Da stimme ich Dir voll und ganz zu. Aber selbst ein einfaches Essen wird in einer entspannten Gemeinschaft genossen.
Ich habe sogar einmal eine Geschichte, allerdings eine weniger harmonische, geschrieben. Titel: Das Mittagessen.

Was diese Geschichte vom "Abtrocknen" betrifft, über die in der Familie nie wieder geredet wurde, glaube ich, dass es keinen Streit mehr um diese ungeliebte Arbeit mehr gab, jedenfalls nicht, wenn der Vater Zuhause war.

Über den Link von ali habe ich deshalb gelacht, weil ich diesen Vortrag nicht kannte. Ich wäre froh, ich könnte so aufschlussreich eine Geschichte interpretieren, wie du.

Frohe Herbstgrüße

molly
 

Willibald

Mitglied
Übrigens aligaga.
Am Donnerstag kommt neu von Sönke Wortmann Film "Der Vorname". Themaverwandt mit Essen und Abspülen.
Getrennte Doppelrezension?
Greetse
ww
 
A

aligaga

Gast
In dem Zitat aus @alis Stückerl geht's nicht um die Mahlzeit eo ipso oder um die Raffinesse ihrer Zubereitung, auch nicht um den späteren Abwasch, sondern darum, wie der Drill eines überkommenen Erziehungssystems selbst Ungeheuer wie Kipper zu dressieren wusste und ihnen beibog, wie man rohe Fleischfetzen nicht gierig verschlang, sondern manierlich mit Messer und Gabel zum Munde führte.

Ina Divina lässt sich davon nicht täuschen. Sie schaut von Anfang an hinter diese Maske und erkennt den Leviathan, fühlt sich aber stark genug, es mit ihm aufzunehmen. Letztlich ist sie es auch.

Aber das nur ganz nebenbey. Das mit Wortmanns Remake können wir machen, liebster @Willibald, vorausgesetzt, die hohe Geistlichkeit entsperrt dem böhsen @ali den Zugang zu der Rubrik "Essays, Rezensionen, Kolumen" wieder. Er wurde ihm schon vor Jahren zugemauert, als er sich zu heftig über die Hetztiraden eines ehemaligen NVAlers und dessen stalinistische Gesänge empörte.

Vielleicht hat die Moderation ja ein Einsehen und es kommt zu einer Amnestie? Mal sehen ...

Heiter wieder weiter

aligaga
 

minitaurus

Mitglied
Dass Willibald und Aligaga eine besondere Beziehung zueinander haben, hatte sich mir schon an anderer Stelle der Leselupe erschlossen. Offenbar profitiere ich hier davon.
Natürlich ist man bauchgepinselt, wenn man für eine so kurze Geschichte eine so umfangreiche und detaillierte Analyse erhält, noch dazu als Anfänger. Das mag Willibald einen Extrabonus bei mir eingebracht haben. Es war jedenfalls ein Vergnügen, diesen Text mit den vielen offenen und versteckten Hinweisen immer wieder zu lesen, und ich finde ihn, auch nachdem die erste Euphorie verflogen ist, immer noch sehr gut. Ich habe wenig Ahnung von der Materie Literaturwissenschaft und finde viele nützliche Hinweise. Insofern halte ich einen Vergleich mit RR, bzw. der verlinkten Parodie für vollkommen abwegig; erklärbar eigentlich nur als schamlose Ausbeutung der selbstkritischen Vorbemerkung Willibalds .
Auch Aligaga hat allerdings, auch wenn ich ihm sonst wenig zustimmen kann, einen sehr hellsichtigen Hinweis auf die starke Rolle der Mutter gebracht, der womöglich ausbaufähig ist.
Nicht zuletzt auch vielen Dank an Molly für die Rückenstärkung, die dem Anfänger sehr gut tut.
 
A

aligaga

Gast
Die uns hier dargebotene Mutter ist nicht stark, wie der Autor glauben machen will, sondern sie findet, wie zu Olims Zeiten üblich, gar nicht statt. Einer Zeit weit vor den heutigen, täglichen Kochsendungen, wo man die Küchen noch nicht offen ließ und nicht mit ihrer Einrichtung protzte. Die Kochstellen lagen damals versteckt am Rande des Alt- oder Nachkriegsplattenneubaus und hatten keine Verbindung zur Außenwelt; wenn doch, dann nur in Form einer schmalen "Durchreiche".

Die Hausfrau hatte, so wie in dieser impressio (eine "Geschichte" ist es ja nicht), nichts zu melden und zu maulen. Ohne das schriftliche Einverständnis des Ehegatten durfte sie nicht mal arbeiten; wenn sie im Ehebett an der falschen Stelle seufzte, wurde sie schuldig geschieden und stand danach vor dem Nichts.

@Ali fühlt hier nicht mit dem lührischen Ich und schon gar nicht mit dem beschriebenen pater familias, sondern mit der Mutti. Wie sie wohl den Knaben begegnete, während ihr HErr sich im Freien erging?

Richtig - es wurde und wird nichts gesprochen. Die Mutti bügelt und stopft still die Socken, die Knaben nutzen die Abwesenheit des Vaters und machen alles Mögliche, nur nicht ihre Hausaufgaben.

Heiter

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Ob unser @aligaga einmal parallel, nein abwechslungsweise, aus dem stracksen Ruck-Zuck-Levi-Athan-Modus in den behutsameren, detailobservierenden Bluefinmodus umschalten könnte?

Manchmal, nein meistens, ist ein Mehrfachbefund zu einem Text der bessere Fund.

vergnügt und geharnischt

ww
 



 
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