Tja, da kann man sich wohl nach einem vorausschauenden Blick auf den jetzt folgenden Textumfang fragen: Was soll denn das? Länger als die Vorlage. Rum-Eiern der selbstverliebten Art?
Und so ist es ja irgendwie auch. Vertrackt.
(1) Alleingang
Die Bewertung dieses Textes ist offenkundig strittig. Wipfels Anmerkungen sind plausibel. Derüberlange Anfangssatz, die Repetition von "gab".Anderes. Und das deutet auf eine grundlegende Schwierigkeit der Textorganisation hin: Es fehlt auf den ersten Blick an einem klaren Erzählprofil, die Akteure kommen nicht direkt zu Wort, das Geschehen wird in einer eher neutralen Perspektive in seinem fast zwanghaften Ablauf geschildert. Eine Innenperspektive, eine interne Fokalisation ist kaum vorhanden.
Und damit auch kein vertrauenswürdiges oder verlässliches Orientierungszentrum, weder auf der extradiegetischen Ebene (der überschauende Erzähler in der Kontaktaufnahme mit seinen Lesern/Hörern) noch auf der intradiegetischen (eine verlässliche, belastbare, ernst zu nehmende Durchblickerfigur innerhalb der Ereigniswelt).
Nicht zuletzt ist der Schluss-Satz von der Art, dass hier Ratlosigkeit konstatiert wird, die der Leser wohl teilt. Und das Ausklammern einer Hintergrunderkundung. In der Familie „wurde nie wieder darüber gesprochen“. Fast ein Deutungsauftrag für den Leser, wenn er sich denn überhaupt auf die Geschichte einlässt. Eine eher spröde Geschichte, die ein Alltagsritual und eine besondere Situation unspektakulärer Art präsentiert. Aus dem inneren einer Familie. Und doch irgendwie „außen vor“.
Dann gibt es da noch eigentümliche Codierungen in der Sprache. Zu Beginn eine Vorankündigung mit Hochwörtern wie „Pflicht“, dann erst deren Inhalt, ein fast schon komischer Kontrast, da es nur um das „Abtrocknen“ geht. Dann das vielleicht ärgerliche (Variatio delectat, aber hier wird dieses Gebot eben nicht vom Autor befolgt) das ärgerliche Wiederholen von „es gab“. Vielleicht dadurch zu retten, dass die Nichtexistenz von Klarheit die serielle Existenz nervender Diskussionen generiert.
Dann das eher düster-dunkle fast schon melodramatische „Es musste der Tag kommen“, das an Missgeschick, böses Schicksal, Fatum, Verhängnis und ähnliches andockt. Dann ein Partizipialausdruck „verschließend“ in einem fast schon kleistisch anmutenden Langsatz, der mit dem „Alleingang“ endet.
Kurz: Hier ist etwas mit sehr viel Bedeutung aufgeladen. Und je nach Stimmungslage und Sozialisationserfahrung mag der Leser das alles als irgendwie komisch oder wichtigtuerisch ernsthaft oder belanglos empfinden und werten. Dann befinde(t) sich der Autor eben in einem Alleingang, man kann den Text mit einem Achselzucken beiseite lassen und ihn und den Textraum verlassen.
(2) Nahaufnahmen
Das Verb „Abtrocknen“ öffnet als Überschrift den Sinnbezirk „Tätigkeit in der Küche“, oft – wenn auch heute immer weniger – eine eher „niedere“ Arbeit. Der Hausfrau überlassen, weil nicht „männlich“ genug. Umgekehrt, und das bestätigt das Vorige: Wenn ein Mann einer Frau beim Abtrocknen oder überhaupt beim Geschirr hilft, dann gilt er entweder als Softie und Pantoffelheld. Oder als einer, der reguläre, konventionelle Normen für gering erachtet, aber doch eine Art positiver Grenzüberschreitung leistet, indem er einer unmännlichen Tätigkeit nachgeht. Ein Bonus, den er sich da bei vielen Frauen verdient. So war es jedenfalls vor einiger Zeit. Wohl auch hier in der dargestellten Szene. Oder? Eine Kleinfamilie mit Mutter, Vater, drei Söhnen. Wohl eine Zeit, in der Spülmaschinen kaum vorzufinden sind:
Ein Minidrama. Offensichtlich ist das Geschirr-Behandeln annähernd geregelt. Die Mutter spült. Die Jungen sind dann jeweils mit dem Abtrocknen dran. Die Kinder, männlich, sind verpflichtet, zu helfen. Die Regulierungssituation ist jedoch ausgefranst. Die Nichteindeutigkeit in der aktuellen Abtrockensituation erzeugt ein Patt bei den Brüdern und ein Stopp in der Arbeitsteilung und Arbeitsleistung der Familie.
Es gibt kein Nachgeben und es gibt kein „Nicht so genau nehmen“ und dann eben einfach mal helfen. Offensichtlich beharrt man in einem Rechthabediskurs auf seinen Positionen. Die Sache, so gering sie ist, wird aufgebläht ausgefochten, und das Ergebnis ist die Nichtaktivierung der Söhne und das resignativ-wütende Aktivwerden der Vaterfigur.
Die männliche Rollenfigur Vater, qua konventioneller Normlage den Söhnen übergeordnet, sie spricht kein Machtwort. Vielleicht akzeptiert die Vaterfigur die diffuse Seite der heutigen Pflichtverteilung. Vielleicht hat er aber auch nur das Gewese und die Rechthaberei satt. Auf jeden Fall wird er wütend selber aktiv, betritt den Küchenraum, schließt ihn vom Wohnzimmerraum mit Frau und drei Kindern ab. Und tut, was ansteht.
Diese Aktion mag eine gewisse Beschämung hervorrufen, auf jeden Fall wird so etwas wie Verlegenheit sichtbar. Die Restfamilie „verdrückt“ sich aus dieser seltsamen Zwickmühlenlage von Aktivität und Passivität, Solidarität mit dem Vater, Loyalität .... Nur der Jüngste bleibt.
Es wird nicht ganz klar, was nun in der Tiefenstruktur der Geschichte passiert: Der abweisende Kommentar des Vaters „Du kannst auch verschwinden“ signalisiert, dass die Familie sich in Vaters Perspektive bis zu einem gewissen Grad deklassiert hat. Vielleicht auch deswegen, weil hier immer alles abgewogen und gerecht zugehen muss, selbst wenn es sich um Kleinigkeiten handelt.
Wenn das so ist, dann ist das „Protestieren“ des Kleinen eben auch nur mit dem Kontroll- und Gerechtigkeitszwang dieser Familie vernetzt, er hat den familiären Diskurs als machtvoll internalisiert. Immerhin: Eine klare Anweisung - es bleibt offen, ob die dann der realen bisherigen Arbeitsteilung entspricht oder nicht - die wäre hinreichend gewesen, einzuspringen und zu helfen und dem Vater die Wut und die eher unwürdige Arbeit zu ersparen. Auf jeden Fall – so scheint es - will der Kleine signalisieren, dass er seine Abtrockenabstinenz angesichts der ungeklärten „Rechtslage“ nicht als Unrecht empfindet und dass er daher den Anblick des Vaters nicht zu scheuen braucht. Kombiniert mit dem gewissen Mit-Leid und dem Gefühl der Mitschuld (?), was da die Familie als Verhängnis über den Vater gebracht hat.
Auffällig, dass es in der ganzen Angelegenheit keine Spontanaktion gibt. Der Vater könnte in verschiedenen Codierungen die Angelegenheit ordnen. Auch könnte die Mutter etwas befehlen oder humorvoll erbitten, aber wahrscheinlich ist der Gerechtigkeitsdiskurs auch für sie etwas Verbindliches, mag er auch noch so starr sein. So bildet sie (plötzlich) mit den drei Verweigerungssöhnen eine lose Einheit. Die gewisse Peinlichkeit dieses Bildes ist es, die dann zwei der drei Söhne samt der Mutter zum Ausblenden der Situation und dem Verlassen des Esszimmers veranlasst.
(3) Darüber sprechen
Das „Hätte man ihm gesagt“ samt der weiteren Elemente steht vielleicht für die bisher und immer weiter geltenden Familienwerte und ihr davon ableitbares Verhaltensszenario. Der Diskursversuch des kleinen Sohnes scheint jedenfalls die Stärke der Familiengerechtigkeitsnorm zu bestätigen: Da die gerechten Voraussetzungen für eine klare Arbeitsanweisung nun mal fehlen und der Vater diesen Mangel wohl als Mangel anerkennen muss, wird er „in die Flucht geschlagen“.
Es bleibt offen, ob dass auch aus seinem Überdruss und wegen der vielleicht von ihm schon öfter als starr und zu starr empfundenen Familienethik geschieht. Es bleibt offen, ob er sich bisher mit dem Hinweis auf die Möglichkeit weicherer und flexibler Normen nicht durchsetzen konnte. Dann wäre der „richtige“ Adressat seiner wütenden Reaktion wohl die Mutter, seine Frau. Und kaum die drei Söhne, die ja wohl internalisiert haben, was bisher – im Sinne der Mutter (?) - als Regel und Gesetz galt.
Und der Jüngste ist wohl am wenigsten an all diesen Abläufen, ihrer gewissen Mechanik schuld. Bei ihm findet sich Empathie mit dem Vater, bei ihm findet sich – er ist der Jüngste und Kleinste – wohl am wenigsten das Vermögen, die ganze Sache für sich oder mit dem Vater zu hinterfragen. Und da ist sogar das Angebot eines Kontaktversuches mit dem Vater durch Verbleiben im Esszimmer. Aber – und die Geschichte ist nun auffällig genug – „es wurde nie darüber gesprochen“, bis – so können wir ergänzen – diese Geschichte geschrieben und gelesen wurde.
(4) Textur
Der Text steht in einer Tradition von Kurztexten, Skizzen und „short cuts“. Minitaurus mag nicht zuletzt deswegen auch den Begriff „Miniaturen“.
Allerdings nicht die kurzen Segmente mit der fast zufälligen Abfolge in den Handlungen verschiedener Figuren und dann folgenden Überschneidungen und Knoten. Hier vielmehr eine Kurzskizze mit der Einheit von Ort, Zeit, von einem Figurenverbund. Eine „Esszimmerszene“, anskizziert, fast „nur“ rudimentär „ausgeführt“.
Positiver formuliert: Weg vom Ausstattungstext, von Dekor, von Poetisieren. Eher unartifizielle Formulierungen. Ein direktes, aber beschränktes Angehen von Beziehungen in ihrem Umfeld.
Und gleichzeitig durchsetzt mit sorgfältigeren Formulierungen in Syntax und Lexematik, die ohne Glättung auskommen, und so Gewichtung in die scheinbare Nebensächlichkeit der Sache bringen. Bedeutungsschwerleichte Texturen eigener Art.