Abweichung

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Justina

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Johanna war schon seit vier Jahren alleine, und von einem fröhlichen Single-Leben konnte keine Rede sein. Im Gegenteil; das Leben ohne Partner erschien ihr trist und langweilig. In den letzten Monaten war ihr dieser beziehungslose Zustand besonders unerträglich vorgekommen. Ihre Wünsche nach Zweisamkeit, nach dem Berühren nackter Haut, nach Hingabe und Sex waren so übermächtig geworden, daß sie über jeden Mann, der ihr nur annähernd attraktiv erschien, hätte herfallen können. Doch niemand schien an ihr interessiert. Jedenfalls kein Mann, der in ihren Augen akzeptabel war. Für sie kam nur ein Partner in Frage, der intelligent, einfühlsam, leistungsorientiert und an Kino und klassischer Musik interessiert war. Dann gab es natürlich die äußerlichen Attribute, die stimmen mußten: ein sympathisches Gesicht, das nicht verlebt wirkte, war von Vorteil und ein schlanker, durchtrainierter Körper ein absolutes Muß.

Johanna selbst konnte mit all diesen Eigenschaften aufwarten, doch eine kleine Abweichung lag vor: sie war nicht schlank. Nein, als dick hätte sie wohl auch niemand bezeichnet, doch würde man wohl von einer sehr weiblichen oder stattlichen Figur sprechen, wenn man sie beschreiben sollte. Aber seit einiger Zeit schien sie im Kampf gegen das Übergewicht eine Schlacht nach der anderen zu gewinnen. Sie hatte sich abgewöhnt, ihre Trauer über das Alleinesein durch übermäßiges Essen von Schokolade und Chips zu betäuben, sie kochte und aß nur noch fettreduziert und trieb seit einiger Zeit dreimal wöchentlich Sport in einem Fitneßstudio – und das, obwohl sie derartige Einrichtungen eigentlich verabscheute. Diese Mühen wurden mit einem Gewichtsverlust von bislang 13 Kilogramm belohnt. Sie wußte, das war noch nicht genug, aber sie fühlte sich wieder wohl und hatte den Eindruck, sie sei ja doch ganz attrakttiv.

An einem Tag, an dem sie sich besonders schlank, hübsch und begehrenswert fand, faßte Johanna den Mut, sich bei einer Kontaktbörse im Internet anzumelden. Gerne hätte sie ein Foto eingestellt, damit der geneigte Leser auch einen ersten optischen Eindruck gewinnen konnte, doch leider hatte sie keine aktuelle Aufnahme. Bei den Angaben zum Persönlichkeitsprofil korrigierte sie ihr Gewicht ein wenig nach unten. Mehrmals hatten ihr Freundinnen bestätigt, wie schlank sie wirke, und Männer hatten ohnehin kein Augenmaß für solche Dinge. Als sie am nächsten Tag ihre e-mails abrief, hatte sie bereits Post von einem Interessenten. Ein zwei Jahre jüngerer Mann, der ganz in ihrer Nähe wohnte, zeigte sich von ihren Angaben angetan. Als sie sein Profil einsah, war sie angenehm überrascht: ihr lächelte ein sympathisch aussehender, attraktiver Mann im Business-Look zu. Und dann trug er noch eine dieser unglaublich intellektuell wirkenden randlosen Brillen! Das also war Konrad, ein vierundreißigjähriger Polizeibeamter im gehobenen Dienst. Er liebte Literatur und Klaviermusik und war auf Johanna aufmerksam geworden, weil sie in der Rubrik Lieblingsbuch "Der Untergeher" eingetragen hatte. Johanna fühlte sich schwindlig: wieviel übereinstimmende Hobbies sie doch hatten, angefangen beim Klavierspielen bis hin zur Vorliebe für das Minigolfen.

Sie schrieb umgehend zurück und es entstand ein reger schriftlicher Austausch. Jeden Abend saß sie nun vor dem Computer und wartete ungeduldig auf Post von Konrad, oder sie schrieb selber eine e-mail an ihn. Nach zwei Wochen telefonierten sie zum ersten Mal miteinander. Das Telefonat erstreckte sich über 4 Stunden, so viel hatten sie sich zu sagen. Von nun an sprachen sie jeden Abend miteinander und es wurde immer deutlicher, daß sie in vielen Lebensbereichen übereinstimmende Interessen und Positionen hatten. Konrad sprach einmal sogar davon, daß ihm das geradezu unheimlich sei; noch nie habe eine Frau so vieles mit ihm geteilt. Das seien doch die idealen Bedingungen für ein harmonisches Miteinander. In diesem Telefonat sprach er auch das Thema "Erstes Treffen" an. Er wolle sie nicht bedrängen, doch glaube er, es sei an der Zeit, sich persönlich kennenzulernen. Er habe den Eindruck, schon Jahre in Johanna verliebt zu sein und sehne sich so sehr danach, sie leibhaftig in seine Arme schließen zu können. Johanna, die gleichzeitig überglücklich und verunsichert war, gab seiner Bitte nach, und sie verabredeten sich für den darauffolgenden Sonntag. Als sie den Hörer auflegte, beschlich sie ein mulmiges Gefühl. Sie war so verliebt in Konrad, ihre Mails waren so innig, die Telefonate so voller Harmonie, Witz und Zuneigung. Was, wenn sich all das nach dem ersten Treffen verflüchtigen würde?

In den darauffolgenden Tagen aß sie noch weniger und kam kaum noch zur Ruhe, doch dem Treffen sah sie immer positiver entgegen. Ja, Konrad war der Mann fürs Leben, das wußte sie. Am Sonntag machte sie sich gut gelaunt auf, um Konrad in einem Bistro am Rhein zu treffen. Sie hatte wegen der Kleiderfrage Stunden vor dem Spiegel verbracht und sich am Ende für ein schwarzes Kleid entschieden, das ihren schönen Busen betonte und sie schlanker wirken ließ. Als sie das Lokal betrat, entdeckte sie Konrad zunächst nicht, fand ihn dann aber in einer stillen Ecke mit Blick auf die Rheinwiesen. Der Mann sah in Wirklichkeit noch besser aus als auf dem Foto! Er hatte sie auch schon entdeckt, war aufgestanden und lächelte ihr entgegen. Als sie sich gegenüberstanden, sagte er "Wie schön Dich zu sehen" und drückte ihr ein wenig verlegen, aber herzlich die Hand.

Der Rest des Tages war für Johanna wie ein wunderbarer Traum. Sie aßen zunächst eine Kleinigkeit, unterhielten sich dabei über Literatur und Musik, alberten herum und gingen anschließend spazieren. Während des Spaziergangs nahm Konrad sie sogar einmal kurz in den Arm. Danach war Johanna so verwirrt, daß sie nur noch mühsam ein Gespräch zuwege brachte. Konrad hingegen schien zunehmend Gefallen an seinen eigenen Ausführungen zu finden und erzählte viel und ausführlich. Irgendwann, es dämmerte schon, schaute er erschrocken auf die Uhr und meinte, er müsse nun schleunigst nach Hause fahren; am nächsten Morgen habe er einen sehr wichtigen Termin. Als sie den Parkplatz vor dem Bistro erreicht hatten, hauchte Konrad zum Abschied einen Kuß auf Johannas Wange und versprach, er werde sie in den kommenden Tagen anrufen. Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr hupend los. Johanna blieb noch stehen. Niemals, dessen war sie sich sicher, hatte sie sich bei der ersten Begegnung so sehr in einen Mann verliebt. Vollkommen verwirrt vor Glück fuhr sie nach Hause.

Am nächsten Abend wartete sie auf Konrads Anruf. Doch er schien verhindert zu sein, und als er sich um Mitternacht immer noch nicht gemeldet hatte, ging sie etwas enttäuscht ins Bett. Auch am darauffolgenden Tag wartete sie vergeblich. Am Ende der Woche saß sie schließlich verheult und enttäuscht auf dem Sofa, stopfte Chips und Schokolade in sich hinein und überlegte, was wohl passiert sein mochte. Irgendwann setzte sie sich an den Computer und loggte sich in die Kontaktbörse ein, um noch einmal Konrads Profil anzuschauen. Aber was war das? Er hatte es geändert. Unter der Rubrik "Wie stellst Du Dir Deine Traumfrau vor", hatte er bislang ein Fragezeichen eingetragen, doch nun war dort in Großbuchstaben " SCHLANK UND SPORTLICH " zu lesen. Wie betäubt starrte sie auf den Bildschirm. Nachdem sie minutenlang so gesessen hatte, schaltete sie vollkommen erschöpft den Computer aus und ging ins Bett. Von Konrad hörte sie nie wieder.
 

Hieronymus

Mitglied
Hallo Justina,

ich finde Deine Geschichte wirklich gelungen. Sie ist psychologisch eindringlich; einige realistische Details (z. B. die randlose Brille) geben ihr Profil. Der Ablauf der Handlung bis zum bitteren Ende ist zwingend. Er wird durch das dreimalige Auftauchen des Motivs der "Abweichung" gegliedert.
Bitte mehr davon!

lg
Hiero
 

zola

Mitglied
Gute Idee und gutes Ende, dazwischen aber dröge erzählt, weil der Bezug zu den Frauenzeitschriften und Websites fehlt, über deren Beschreibung man schmunzeln (oder erschrecken) könnte. Ein Webflirt darf nicht so privat verlaufen. Als ich 1998 zum ersten Mal mit einer Amerikanerin chattete, rief sie mich zwanzig Minuten später am Telefon aus Orlando an und faxte mir ein Bild von sich!
Was hat Deine Protagonistin erlebt?
 

Justina

Mitglied
Ursprünglich veröffentlicht von zola
.....Was hat Deine Protagonistin erlebt?
Genau das beschreibe ich ja. Meine Protagonistin verliebt sich; zunächst aber nur virtuell. Kein Bildertausch, kein sofortiges Abfragen von Körpermaßen und kein Telefonsex! Stattdessen romantisches Verliebtsein, schüchternes Zaudern, innerliches Beben, Schreiben und Reden über Musik, Literatur, Kino...

Eine Frau glaubt, die fehlende Hälfte gefunden zu haben. Das passiert hier. Und das ist etwas sehr Privates, wie ich finde.

Was bedeutet der Verweis auf Frauenzeitschriften und Deine persönlichen Erlebnisse? Mir ist nicht ganz klar, was Du damit sagen willst.


Gruß
Justina
 

zola

Mitglied
Wenn es etwas "ganz Privates" ist, gehört es nicht veröffentlicht und diskutiert. In der Literatur gibt es nichts Privates. In (Deinem, meinem) Leben schon. Zum Glück.
 

gareth

Mitglied
Mir ist auch nicht klar, justina, was zola eigentlich sagen wollte. Mir gefällt die Geschichte. Ich finde das Verhalten beider Personen sehr lebensnah und auch der Schluss, der ja sorgfältig vorbereitet wird, ist sehr glaubwürdig. Ich hab die ganze Zeit gehofft, es würde doch gut ausgehen :eek:)

Grüße
gareth
 

Retep

Mitglied
Hallo Justina,

flüssig erzählt, Einzelheiten gezeigt, habe deine Geschichte gerne gelesen.

Dass eine Frau mit so vielen guten Eigenschaften vier Jahre allein ist und dann Kontakt per Internet suchen muss, wundert mich etwas.

Manche Männer lieben durchaus ein bisschen "mollig".

Justina kann froh sein, dass ihr "Traummann" sich nicht mehr gemeldet hat.

Dass das Ende so ausgeht, dachte ich mir, war dennoch gespannt.


Gruß

Retep
 

Justina

Mitglied
"Justina kann froh sein, dass ihr "Traummann" sich nicht mehr gemeldet hat."


Hi Retep,

vielen Dank für Deine positive Kritik. Die Protagonistin heißt übrigens Johanna ;-).


LG Justina
 



 
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