Adams Murmel

Steewee

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Nur noch ein einziges Mal, dachte er sich. Sie werden es nicht merken. Sie dürfen es nicht merken. Keiner soll etwas davon wissen. Schwach, zitternd glitt seine Hand in die ausgebeulte Tasche seines Morgenmantels. Er schloss die Augen und drückte dabei eine Träne über seine faltigen Wangen. Sie ist noch da. So glatt, so rund, so schön. Fast, meinte er, schien sie ein wenig Wärme auszustrahlen. Er würde sie sich so gerne anschauen, sich in ihrem tiefen Blau verlieren, sich über sein verzerrtes Spiegelbild auf der polierten Oberfläche amüsieren, sie von einer in die andere Hand jonglieren, ins Licht halten und die wunderschönen Regenbogenfarben herauskitzeln. Aber dann würde man sie sehen und ihm vielleicht wegnehmen, würden ihn für einen alten, senilen Spinner halten. Ein erwachsener Mann, der mit Murmeln spielt, kann sie ja selbst nicht mehr alle beisammen haben. Aber sie wissen nichts, überhaupt nichts, über diese eine, wunderschöne Murmel. Adams Murmel. Seine Hand umschloss dieses kleine Stück Kindheit so fest, dass ihm die Gelenke schmerzen. Schnell sah er zum Fenster, damit die anderen Bewohner seine Tränen nicht sahen. Der Weg vor der Residenz wurde seit Tagen nicht gesäubert und so bildeten die herabgefallenen Blätter ein dichten Teppich bis zum Tor. Einem riesigen, schmiedeeisernen Tor. Immer noch hielt er die Murmel fest umschlossen. Sie schien ihm etwas sagen zu wollen. Wieder schloss er die Augen, blendete alles aus, die Bewohner, den Weg, das Tor und lauschte.

„Du hast geschummelt!“ baute sich Adam erbost auf.
„Ich? Geschummelt?“ erwiderte ich ungläubig. „Wie soll man beim Murmeln schummeln?“
„Das weiß ich doch nicht, aber du hast. Du bekommst sie nicht!“ Adam wollte sich seine Murmel greifen, doch ich war schneller. Die große Blaue, auf die war ich schon immer scharf.
„Komm, sei fair.“ bat ich ihn, „Ich geb dir schon eine Chance, sie wieder zurück zu gewinnen. Aber vorerst … “ ich hielt die Murmel siegreich in die Höhe „ … gehört sie mir.“ grinste ich meinem besten Freund ins Gesicht.
„Gemein.“
„Nein. Fair.“ beharrte ich.
Im Geschoß unter uns kam Bewegung in die Diele. Kurze Zeit später sah meine Mutter durch den Türpalt.
„Adam?! Du musst jetzt nach Hause. Es ist schon spät geworden.“
„Aber Mama ! Die Sonne steht doch noch hoch oben am Himmel.“ protestierte ich.
„Ich dulde keine Widerworte. Adam geht jetzt. Und du ziehst dir bitte etwas über, wir müssen nochmal weg.“
„Weg? Wohin?“ fragte ich erstaunt.
„Wir machen eine kleine Reise. Es wird dir gefallen.“ versprach mir meine Mutter.
„Denk an die Murmel.“ stupste mich Adam von der Seite an. „Morgen bist Du fällig und wehe, Du verlierst sie.“
„Keine Angst. Ich geb sie nicht aus der Hand. Du bekommst deine Revanche.“ zwinkerte ich ihm zu, als er sich auf der Treppe nochmal umsah. Dann war er auch schon verschwunden.
„Kommt Vater auch mit?“ fragte ich.
„Nein. Er hat keine Zeit.“ meinte meine Mutter, während sie mich hastig durch die Straße zog.
„Warum rennen wir so?“ beschwerte ich mich.
„Wir sind spät dran. Der Zug fährt gleich.“
„Der Zug?! Wir fahren mit dem Zug?“ strahlte ich sie an. „Das ist ja Klasse, Mama!“ Erst die blaue Murmel von Adam und jetzt noch eine Zugfahrt, heute schien mein Glückstag zu sein.
Der Bahnhof war übervoll. Alle redeten und liefen durcheinander. Es war ein großes Gedränge, dass die Schaffner mit lautem Rufen zu führen versuchten. Als wir es dann endlich in den Zug geschafft hatten, machte ich es mir auf dem Schoß meiner Mutter, die glücklicherweise einen Sitzplatz bekommen hatte, bequem. Glücklicherweise, weil die Fahrt wirklich sehr lange dauerte und wir nicht einmal einen Blick auf ein Fenster erhaschen konnten. Zugfahren hatte ich mir wirklich anders vorgestellt. Und bei jedem Halt stiegen weitere Menschen zu. Es war wirklich sehr eng und heiß. Meine Mutter sprach während der ganzen Fahrt kein einziges Wort. Ich klammerte mich fest an Adams Murmel und döste ein wenig weg. Ein Rucken riss mich aus dem Schlaf.
„Sind wir da?“ blinzelte ich verschlafen. Noch immer sagte meine Mutter nichts und zog mich wortlos aus dem Abteil.
„Wo sind wir, Mama?“ fragte ich mehrmals.
„Ein Ferienlager, mein Schatz, ein Ferienlager.“ beruhigte sie mich und gebot mir, jetzt still zu sein. Doch wie sollte ich still sein. „Ein Ferienlager? Ehrlich? Oh, Danke, Mama, Danke. Adam war mit seinen Pfadfindern auch in einem. Dort haben sie in Zelten geschlafen. Schlafen wir auch in Zelten?“
„Ich weiß es nicht. Und jetzt sei still.“ Meine Mutter klang ungewöhnlich streng. Sie schien sich nicht sonderlich zu freuen. Dafür tat ich es umso mehr. Kurz nahm ich die Murmel aus der Tasche und hielt sie in die Sonne. Du scheinst mir wirklich Glück zu bringen, dachte ich, Adam hat sicher nichts dagegen, wenn ich dich etwas länger behalte. An der Murmel vorbei sah ich ein Tor.
„Mama, sieh nur!“, ich deutete auf das Tor, auf dem ich wunderschöne, große Buchstaben entdeckte. Ich mochte Buchstaben sehr und konnte es kaum erwarten, endlich in die Schule zu kommen. Mein Vater war ein sehr gebildeter Mann, ein Lehrer. So war es selbstverständlich, dass er mich zu Hause unterrichtete und ich schon ein wenig Lesen und Schreiben beherrschte.
Nachdem ich die Buchstabenfolge entziffern konnte, sagte ich meiner Mutter, dass ich sehr fleißig sein werde, damit sie stolz auf mich sein könne. Als einer der Betreuer meine Mutter in eine naheliegende Baracke begleitete, dachte ich an Adam und bedauerte, dass er jetzt nicht hier sein konnte. Fest umschloss ich wieder die Murmel in meiner Tasche, sah zurück und las noch einmal die hübsch geschwungenen Buchstaben an dem riesigen, schmiedeeisernen Tor, die fast golden in der Sonne leuchteten. Arbeit Macht Frei.

„Herr Baumgart?“ Eine kräftige Hand rüttelte seine Schulter. „Herr Baumgart? Geht es Ihnen gut?“. Langsam öffnete er wieder die Augen und erkannte verschwommen ein kantiges, junges Gesicht mit kurzgeschorenen Haaren. Der Schrecken saß tief und er stieß den Pfleger von sich. „Herr Baumgart ... Josef, Ihre Mitbewohner hatten sich Sorgen gemacht. Ich hole Ihre Medikamente.“
Die Schmerzen in seiner rechten Hand ließen ihn wieder langsam zu Bewußtsein kommen. Als er ihren festen Griff löste und Adams Murmel in die Tasche fallen ließ, löste sich auch etwas in ihm. Es waren keine Tränen der Trauer, es war Schmerz. Schmerz, der sich in über einem halben Jahrhundert tief in seine Seele gebrannt hatte. Tief, wie die Angst, die er empfand, als er nach seiner Mutter rief und niemand antwortete. Nie mehr antwortete. Tief, wie die Sorge um seinen Freund, den er mit elf Jahren kurz im Lager begegnet war und der aus leeren Augen durch ihn hindurch sah. Tief, wie die Nummer unter der Haut seines linken Unterarmes. Er weinte. Bittere, ehrliche Tränen.
Durch den Schleier seiner Tränen nahm Josef wieder das wahr, was sieben Jahre seiner Kindheit Symbol für Hoffnung und Verzweiflung war. Ein riesiges, schmiedeeisernes Tor. Nur heute trennt es nicht die Hölle von der übrigen Welt. Nein, heute ging es ihm hinter diesem Tor gut. Eingesperrt fühlte er sich trotzdem. Jedesmal, wenn es aufschwang, um Besucher zu entlassen oder Neuankömmlinge zu empfangen, wünschte er sich, er könne einfach hindurchspazieren. Hinaus ins Leben. Damals hatte er sich dies jeden Tag herbeigesehnt. Und wie auch damals schwand die Hoffnung mit jedem Schließen des Tores ein klein wenig mehr.
Wieder schwang das Tor auf. Wieder wurde ein alte, verbrauchte Seele dem Schoß der Gnade zugeführt.
Als seine Tränen getrocknet waren, kam der Pfleger mit den Medikamenten. Hinter ihm konnte Josef eine weißhaarige, gebückte Gestalt im Rollstuhl erkennen. Das medizinische Prozedere hinter sich gebracht, versuchte der Pfleger ihn etwas aufzumuntern. „Vielleicht möchten Sie unseren neuen Mitbewohner begrüßen, Herr Baumgart?“. Ohne auf eine Antwort zu warten, schob er den Rollstuhl neben Josef's Platz am Fenster. Als sich sein Blick vom Tor löste, sah er seinem Gegenüber im Rollstuhl ins Gesicht. Und der Weißhaarige sah auch ihn an. Direkt in die Augen. Sie merkten nicht, dass sie so eine lange Zeit saßen, ohne auch nur ein einziges Wort zu reden. Dann griff Josef in seine Tasche, nahm die Murmel und legte sie dem Anderen wortlos in den Schoß. Dieser sah ihn erstaunt an und fand nur einige, wenige Worte „Du hast sie nicht verloren“.
 



 
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