Adil und der liebe Gott

4,30 Stern(e) 3 Bewertungen

Dirk Paulsen

Mitglied
Adil und der liebe Gott

Ich heiße Adil Kutman und fahre seit 23 Jahren Taxi in Berlin. Ich bin Türke, in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ohne das Sprachproblem war ich in der Schule immer ganz gut. Aber selbst zweisprachig erzogen war ich weder \'richtig\' türkisch noch \'richtig\' deutsch. Nach der Schule und Abschluss der Speditionskaufmannslehre ging ich nach Berlin. Die Stadt hat ihren eigenen Charme und ich glaube, nirgendwo anders ist Geist so wach und frei. Ich fühlte mich dort auf Anhieb wohl. Mein Vater hatte mir immer eingeschärft: »Adil, in Deutschland wird man so behandelt, wie man aussieht. Bist du ungepflegt, behandelt man dich wie einen räudigen Hund.«

Ich verstand und legte immer Wert auf mein Äußeres. Aber auch als \'sauberer\' Türke hatte ich Probleme, einen \'normalen\' Job zu finden. Da gab mein Wohnungsnachbar mir einen Tip. Ein Bekannter hätte ein Taxiunternehmen und suche einen Fahrer. Ich sprach vor – und bekam den Job - Hamdulillah. In einem 220er Benz dienstleisterte ich fortan durch Berlin.

Als Taxifahrer hat man auch Leerlaufzeiten. Manche diskutieren dann die Tagespresse, andere hören Radio – ich lese. Mich hat immer interessiert, warum Muslime und Christen angeblich so unterschiedlich sind. Also las ich die Bibel. Ich lernte einen katholischen Pater kennen, der meine Fragen zum Christsein und der Kirche beantwortete. In islamischen Dingen sprach ich mit unserem Hodscha, dem Religionslehrer und lernte viel über beide Seiten. Unser beider Schriften berichten von den gleichen Männern aus alter Zeit. Was hat der Mensch nur im Laufe der Jahrhunderte daraus gemacht! Für mich gibt es keine wirklichen Unterschiede mehr zwischen Menschen, die sich an die Gebote ihres Allahs / Jesus / Manitous / Buddhas halten. Nur die Lehren und Interpretationen der weltlichen Gottesvertreter und Kirchen schüren Unterschiede. Und ja – viele Menschen taten und tun im Namen ihres Gottes fürchterliche Dinge.

Eines Nachts wartete ich am Flughafen Tegel auf Kundschaft. Der Regen trommelte auf das Wagendach, als die hintere Tür geöffnet wurde und sich eine hochschwangere Frau schnaufend auf den Rücksitz meines Kombis stemmte. Sie hatte ihre langen, braunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Koffer, bitte!«, keuchte sie.

Ich stieg aus und verstaute das im Regen stehende Gepäckstück im Kofferraum. Als ich wieder einstieg, lehnte mein Fahrgast den Kopf mit geschlossenen Augen nach hinten gegen die Kopfstütze. Mit beiden Händen hielt sie ihren Bauch. Ich wartete einen Moment, dann sagte ich:

»Guten Abend, wohin möchten Sie denn?«

Sie hob den Kopf, schaute mich an und lächelte.

»Guten Abend. Bringen Sie mich bitte in die Havellandklinik Nauen. Wissen Sie ...?«

Ich nickte. Gleichzeitig wurde mir etwas flau. Das waren 40 Kilo­meter - etwa 45 Minuten Fahrzeit. Die junge Dame atmete eine Wehe weg. Also schob ich alle Zweifel beiseite und fokussierte meine gesamte Aufmerksamkeit darauf, so schnell wie möglich und erlaubt zum Ziel zu kommen. Sicherheits­halber programmierte ich mein kleines Navi. Allah sei Dank! Ich wählte die schnellste Strecke – und los ging es. Wir verließen den Flughafen und fuhren auf die Stadtautobahn. Da kam die nächste Wehe.

»Soll ich sie nicht besser ins Städtische Krankenhaus fahren, das ist viel näher?«, fragte ich besorgt.

»Nein, ich will in die Havellandklinik«, presste sie durch zusammengebissene Zähne. Also gab ich Gas. Es ging erst mal nur geradeaus. Das gab mir Gelegenheit, meinen Fahrgast im Rückspiegel zu beobachten. Ihre sorgenvoll gefurchte Stirn zeugte nicht allein von Schmerz.

»Wie heißen sie?«, wollte ich wissen.

»Maria. Und sie?«

»Ich heiße Adil«, antwortete ich.

Auch Maria schien zu ahnen, dass wir es nur mit viel Glück rechtzeitig bis in die Klinik schaffen würden.

Allah, steh mir bei!, dachte ich. Wieso ausgerechnet ich?

Laut sagte ich: »Halten Sie durch, ja?«

Sie hörte die Anspannung in meiner Stimme und sah meine besorgten Blicke im Rückspiegel. Mir standen schon die Schweißperlen auf der Stirn. Und sie lachte. Es war – und das überraschte mich - ein heiteres Lachen.

»Wenn alle Stricke reißen, dann müssen sie halt die Hebamme machen!«, sagte sie und schaute mir durch den Rückspiegel in die Augen. Mir wurde heiß und kalt. Panik überfiel mich.

»Wie soll das gehen? Ich bin Taxifahrer, kein Doktor. Wir haben hier gar nichts – au-außer einer Tageszeitung und einer angebrochenen Flasche stilles Wasser!« Meine Stimme wurde immer höher und überschlug sich.

»Beruhigen sie sich«, sagte sie freundlich.

SIE sagt zu MIR, ICH soll mich beruhigen. Aman! (Hilfe!)

»Nehmen Sie die nächste Ausfahrt«, quäkte mein Navi. Ohne diesen Hinweis wäre ich einfach geradeaus gefahren. Wir verließen die Autobahn über die Ausfahrt Kaiserdamm.

Ich wischte mit dem Ärmel den Schweiß aus den Augen und trat auf´s Gaspedal. Noch 20 Minuten bis zur Klinik.

»Sie sind Türke, nicht wahr?«, fragte sie. Ich nickte.

»Ich weiß, dass türkische Namen immer eine Bedeutung haben. Was bedeutet ihrer?«, wollte sie wissen.

»Adil heißt soviel wie den Gesetzen folgend, und mein Nachname Kutman heißt Glücksbringer«, antwortete ich.

»Ein schöner Name«, sagte sie und die nächste Wehe nahm ihr den Atem. Eine Minute lang herrschte Schweigen. Dann fuhren wir an einem Malteserkrankenhaus vorbei. Fragender Blick in den Rückspiegel. Kopfschütteln. Weiter.

»Maria! Ich halte das für falsch. Warum wollen sie unbedingt in die Havellandklinik?«, drängte ich.

»Weil dort mein Verlobter als Oberarzt arbeitet«, sagte Maria mit bittendem Blick. Ich seufzte, hatte Verständnis und raste weiter, hinaus aus der Bebauung durch ein großes Waldgebiet. Maria schrie auf.

»Was ist? Was ist los?«, rief ich erschrocken. Maria atmete stoßweise und ihr Haar klebte an ihrem Kopf.

»Gerade ist die Fruchtblase geplatzt! Es geht los!«, presste sie hervor und hechelte. Mir wurde übel vor Angst. Einen Moment lang dachte ich daran, blindlinks und ohne Rücksicht auf das, was sich hinten auf dem Rücksitz meines Kombis abspielen würde, zur Klinik zu fahren. Der gellende Schrei Marias holte mich brutal aus meinen Gedanken – keine Zeit für Ausflüchte. Ich ergab mich in mein Schicksal. Nur eine viertel Stunde von der Klinik entfernt, kurz vor Dallgow verließen wir die B5. Ich bog in einen Waldwirtschaftsweg ein. Nach etwa dreißig Metern hielt ich an. Motor aus, Zündung ein. So hatten wir wenigstens Licht. Ich lief nach hinten, öffnete die Heckklappe, nahm den Koffer heraus und klappte den freien Teil der Rückbank um. Dann öffnete ich die hintere rechte Tür.

»Sie müssen sich hinten hinlegen«, sagte ich und half Maria aus dem Font. Wir schafften es und sie legte sich auf den mit Teppich ausgekleideten Kofferraumboden. Ich schob ihr das Erste-Hilfe-Kissen unter den Kopf und erntete ein dankbares Lächeln. Es regnete zwar immer noch, aber es war – Allah sei Dank – nicht kalt.

»Wir brauchen etwas zum Unterlegen, Wasser und etwas, um die Nabelschnur ab zu klemmen«, sagte Maria, bevor sie schon die nächste Presswehe bekam. Ich rannte nach vorne und schaute mich panisch-hilflos im Wagen um. Die Zeitung! Zeitungen sind steril - hatte ich gelesen. Die Wasserflasche stand in der Mittelkonsole. Sonst hatte ich nichts Nennenswertes dabei. Maria gab einen mühsam unterdrückten, fast quietschenden Laut von sich. Ich rannte wieder nach hinten.

»Helfen sie mir, die Hose auszuziehen«, ächzte sie.

Ich drehte mich um und mein Blick suchte den Himmel nach Hilfe ab. Ich widerstand aus mir unerfindlichen Gründen dem instinktiven Drang, wegzulaufen – zu laufen, wie ich noch nie im Leben gelaufen war. Ich ließ mich auf die Kante des Kofferraumes fallen und wischte mit der Hand über mein Gesicht, das von kalten Schweißperlen übersät war. Da ergriff eine kleine, starke, warme Hand meine Linke und drückte sie.

»Ich brauche jetzt ihre Hilfe – WIR brauchen jetzt ihre Hilfe«, sagte Maria leise. Und bei Ihren Worten fühlte ich mich plötzlich von einer Kraft durchströmt, die meine Angst aus meinem Kopf durch die Brust nach unten in die Beine und durch die Füße in die Erde zu pressen schien. Ich stand auf und gemeinsam bereiteten wir alles vor. Die sterile Zeitung legten wir doppelt aus und ich reinigte meine Hände mit Wasser.

»Sie müssen im Krankenhaus anrufen - hier, nehmen sie mein Handy!« stöhnte Maria. Sie hatte schon gewählt. Es meldete sich ein Mann: »Hallo Liebling, wie geht es dir?«

»Sind sie der Verlobte von der schwangeren Maria?«, fragte ich. Die Stimme am anderen Ende bestätigte und klang sofort höchst alarmiert. Ich erklärte kurz die Situation und wo wir uns befanden.

»Sie sollten uns sofort sehen, mein Taxi ist erleuchtet wie ein Fußballstadion!«

»Wir kommen«, hieß es. Es klickte in der Leitung.

»Sie kommen«, sagte ich und dann riss uns der Fluss des Lebens einfach mit sich fort.

Ich begann erst wieder klar zu denken, als ich das Köpfchen des Babys und seine Schultern in meinen Händen spürte und der letzte Schrei von Maria verklang. Ich hielt die Luft an und hob das Baby auf den Bauch der Mutter. Es war ein Junge.

»Die Nabelschnur«, hörte ich Marias schwache Stimme.

O Gott, ich hatte keine Schere und auch kein Messer, also nichts, womit ich die Nabelschnur abklemmen und durchschneiden konnte. Aber Not macht ja erfinderisch. Ich griff in die Seitenklappe und zog das Starthilfekabel heraus. Die schweren Kupferklemmen waren genau das Richtige. Ich klemmte die Nabelschnur ab. Aber ich hatte nichts zum schneiden.

»Tragen sie Schnürsenkel?«, fragte Maria. Ich nickte.

»Dann binden sie damit die Nabelschnur ab«, sagte sie mit einem glücklichen Lächeln. Ich tat, wie mir geheißen. Das war der Moment, wo ich zu glauben anfing, dass wir es geschafft hatten. Es wäre auch der Moment gewesen, in dem sich mein adrenalinüberschwemmtes Gehirn an das Erste-Hilfe-Kissen erinnert hätte, in dem sich Schere und alles Nötige befand. Doch es kam anders. Ich sah, wie Marias Lächeln sich in eine sorgenvolle Miene verwandelte. Dann wurde Sie immer aufgeregter.

»Er atmet nicht!«, rief Maria.

Ich sprang neben sie in den Kofferraum und nahm das Baby. Der Brustkorb war unbewegt und kein Laut drang aus dem Mund des Kleinen. Ich drehte den Säugling um und versetzte ihm einen Klaps auf den Hintern. Nichts. Marias und mein Blick trafen sich.

Eine stumme Bitte lag in ihren dunklen Augen und ich bekam fast einen Weinkrampf. Wir hatten es bis hierhin geschafft und nun drohte eine Katastrophe, der ich nicht ausweichen konnte. Noch ein Klaps, diesmal etwas heftiger. Wieder keine Reaktion. Aman Allahım! Gott hilf!

»O mein Gott – mein Baby« entfuhr es Maria und Tränen strömten über ihr Gesicht.

Es ist unglaublich, an was man in Extremsituationen und unter Stress denkt. Mir fiel ein erst kürzlich gelesenes Kapitel über Erbsünde und die Taufe ein.

»Sind sie Katholikin?«, fragte ich Maria, die nur stumm nickte. Mich überkam eine unnatürliche Ruhe. Absurd, aber ich nahm die Wasserflasche, goss dem Baby dreimal ein bisschen Wasser über den Kopf und sagte dazu die Worte: »Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!«

Maria starrte mich tränennass an. Nach ihrem Glauben war die Seele des Kindes nun gerettet.

»Maria!«, sagte ich leise, aber eindringlich. »Wie soll ihr Sohn heißen?«

»Christian ...«, flüsterte Maria weinend und streckte ihre Arme nach dem Baby aus, das ich ihr hilflos wieder auf den Bauch legte. »... Christian Adil!«

Gleißendes Licht explodierte im Kofferraum um uns herum, als mit walkenden Reifen ein Rettungswagen schaukelnd kurz hinter meinem Taxi zum Stehen kam.

Dann ging alles rasend schnell. Ein Arzt - der Verlobte von Maria mit Namen Christian - und ein Rettungssanitäter stürmten mit Notfallkoffern heran. Ich sprang schnell zur Seite. Im Nu war die Nabelschnur ordentlich abgeklemmt und durchtrennt, während Christian mit dem Stetoskop den Säugling abhörte. Dann nahm er einen kleinen Schlauch, führte ihn in den Mund des Kleinen und in die Nase ein. Dabei sog er ein bisschen Schleim ab.

»Dann wollen wir die Schlafmütze mal wecken!«, sagte Christian laut und feierlich. Ein Klaps auf den Hintern des Babys, stärker als ich es mich überhaupt getraut hätte – und das schönste Geräusch, das ich je in meinem Leben gehört hatte, hallte durch den Wald – der kräftige Schrei eines neugeborenen Jungen mit dem Namen Christian Adil.

Allaha şükür – Danke Gott!
 
K

KaGeb

Gast
Hallo Dirk,

deine Erzählung hat mich gefesselt, ich habe mitgefiebert und fühlte mich großartig unterhalten. Gut ist die Wertungsfreiheit deines Prots. rübergekommen - ohne Urteil, ohne Klischee und ohne Fingerzeig.

Sehr gern gelesen,

LG, KaGeb
 
D

Donkys Freund

Gast
Hallo,

eine sehr angenehm ruhige Geschichte, irgendwo zwischen positivem Beispiel der aktuellen Integrationsdebatte und spannendem Alltagsausschnitt.
Ohne Pathos und aufgesetzter Botschaft.

Der Erzählstil entspricht natürlich eindeutig dem des Autors. "Not macht erfinderisch", "dienstleistern", "fortan" etc. hat bei aller langjährigen Integration (mit Sprachschwierigkeiten) keinen Bezug zum Prot. Das wiederholt sich. Natürlich sollte man das Lesevergnügen nicht mit aufgesetzten Sprachdefiziten trüben. Aber es nimmt etwas das Authentische.

Ich nehme mal an, das die Taufe und angebliche Rettung des Kindes der Unwissenheit des Prots geschuldet ist. Taufe im christlichen Sinn ist meines Wissens als Sakrament nur Priestern vorbehalten.

Alles in allem aber ein erfrischend unspektakulärer Versuch, das Thema zu betrachten.

Gruß
Donkys Freund
 

Dirk Paulsen

Mitglied
Hallo KaGeb und Donkeys Freund,

zunächst Danke für die wie ich finde gute und konstruktive Kritik. Freu mich drüber.

@Donkeys Freund

Der Erzählstil entspricht natürlich eindeutig dem des Autors. "Not macht erfinderisch", "dienstleistern", "fortan" etc. hat bei aller langjährigen Integration (mit Sprachschwierigkeiten) keinen Bezug zum Prot. Das wiederholt sich. Natürlich sollte man das Lesevergnügen nicht mit aufgesetzten Sprachdefiziten trüben. Aber es nimmt etwas das Authentische.

Ich nehme mal an, das die Taufe und angebliche Rettung des Kindes der Unwissenheit des Prots geschuldet ist. Taufe im christlichen Sinn ist meines Wissens als Sakrament nur Priestern vorbehalten.
Zum ersten Absatz - da gebe ich dir im Prinzip Recht. Trotzdem gibt es z.B. Türken, die in Deutschland geboren sind und nicht "zwischen den Welten" aufwuchsen. Insofern relativiert sich das, denke ich.

Beim zweiten muss ich widersprechen. Jeder Mensch hat das Recht und kann, wenn er die Absicht hat, den (in diesem Falle katholischen) Glauben zu verwirklichen (ohne dass es sein eigener sein muss), im Notfall eine Nottaufe vorzunehmen. Nur weiß das kaum jemand.
 



 
Oben Unten