Advent

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Sprachlos
von Rudolf Wolter
Er kam um vier. Jeden Tag. Um vier Uhr kam er zur Tür hinein, im dunklen wetterfeuchten Mantel, setzte sich an den Tresen, ganz in der Ecke, neben den Automaten für die Nüsse und dem Hafen mit den Soleiern, setzte sich hin, nahm wortlos das Pils, den Klaren, zündete sich die Zigarette an, trank, nahm wieder wortlos das Pils und den Klaren, trank, rauchte, nahm wieder wortlos das Pils und den Klaren, trank, rauchte.
Er ging um zwei, wenn die Stühle hochgestellt wurden, die Wirtin nach den Schlüsseln zur Tür griff, dann erst zahlte er ohne ein Wort, legte nur einen Schein hin, stieg von seinem Hocker und ging. Nicht leichten Fußes näherte er sich der Tür, nein, er schlurfte wie ein Schwer-beladener zum Ausgang in die Welt.
Er kam um vier, er ging um zwei. Er sprach nicht. Er schien aber immer in Gedanken zu sein. Manchmal glaubte die Wirtin, es liefen ihm Tränen über die faltigen Wangen, aber das konnte auch vom Wind da draußen kommen. Er setzte sich an den Tresen, immer auf den gleichen Platz, und sie brauchte ihm nur immer ein Bier hinzustellen und den Klaren. Manchmal, nicht so oft, wechselte sie den Aschenbecher.
Die anderen Gäste sahen ihn nicht. Er war wie ein Stück der Einrichtung, ein Automat für Nüsse, ein Ständer mit Prospekten. Sie lachten, feierten, diskutierten den Platzverweis in Monaco, das war doch unnötig, man hätte sich den Gruppensieg sichern können, am Tisch neben der Durchreiche zur Küche wurde Politik verhandelt, die neue Regierung, die doch nichts bewirken könne, weil die wirkliche Macht übten doch ganz andere aus, aber nein, so ist das nicht, man muss nur dem Mittelstand entgegenkommen, die Steuern senken. Und außerdem, wer will schon heute noch jemanden einstellen, du wirst ihn ja nicht wieder los. Neben der Tür legte der junge Mann seine Hand auf den Schenkel seiner blonden Begleiterin, sie lachte blöde, und dann küssten sie sich. Gäste kamen, Gäste gingen. Gläser wurden gefüllt, Gläser wurden gespült.
Er nahm nichts davon wahr und sie sahen ihn nicht. Ein Pils. Ein Klarer. Heute Morgen, als es noch dunkel war, stand er wieder vor den blauen Tor, das er früher durchschreiten durfte. Der Pförtner sah ihn nicht, es wäre ihm auch peinlich gewesen, so blieb er auf der anderen Straßenseite, die LKWs sprühten vorbeirasend Nässe auf ihm, aber er merkte es nicht. Er starrte nur auf das blaue Tor, das er nicht mehr passieren durfte. Verlagert. Die Produktion wurde verlagert. In Tschechien ging nun ein anderer Betriebsschlosser durch ein vielleicht rotes Tor. Freigesetzt. Er war freigesetzt. Vorzeitigen Ruhestand nannten sie es. Aber wie soll man Ruhe finden, wenn man noch Muskeln hat und Hände, die es gelernt haben. Vierzig Jahre in einer Firma – aber, was ist das schon, vierzig Jahre. Das Volk Israel zog vierzig Jahre durch die Wüste ins gelobte Land. Sein Land war nicht gelobt. 1,99 für ein Kilo Trauben, das muss man sich überlegen. Nach vierzig Jahren muss man sich ein Kilo Trauben für 1,99 überlegen.
56 ist kein Alter. Aber es ist zu alt. Zu alt für das Leben. Irgendetwas läuft da falsch. Es sollte Ende sein mit 56. Danach braucht einen niemand mehr. Auch seine Tochter hat ihn nicht ge-braucht. Sie hat es sich wegmachen lassen, obwohl er gesagt hat, wir schaffen es schon, wir schaffen alles. Aber sie hat nicht hören wollen, und anders konnte er es ihr nicht sagen, denn ihr Bauch gehört ihr.
Er wird es niemandem verraten, auch ihrer Mutter nicht. Die hätte ihr auch nur zugeredet. Was willst du jetzt schon damit, sieh dir erst mal die Welt an. Der Sohn sah sich ja auch die Welt an, in Afghanistan sah er sich die Welt an, verband die Beinstümpfe der Kinder, die nur hatten spielen wollen, aber die schlafenden Soldaten hatten was gegen Kinderspiele und brüllten es mit betäubendem Knall – nein, so ist es leider nicht, die Explosion betäubt nicht, sie weckt nur die Schmerzen.
Seiner Frau war auch das nicht recht. Ein Arzt kann hier viel mehr verdienen, er muss doch nicht im Krankenhaus arbeiten. Er könnte ja auch seinen Facharzt machen, das lohnt sich wirklich. Aber er kommt wohl seinem Vater nach, der hätte damals auch seinen Ing. machen können, damals, als noch keine Kinder da waren. Aber er wollte seine Firma nicht im Stich lassen bei dem großen Auftrag, und die Zeit war so knapp, sie mussten Sonderschichten einlegen, und die Kollegen brauchten ihn.
Er war ihr auch zu alt. Sie wollte ihr Leben leben, jetzt komme ich, sagte sie. Sie kam nicht, sie ging. Das Sparbuch nahm sie mit, und die Lebensversicherung für ihre kleine Wohnung. Jetzt hängt nur noch sein Mantel an der Garderobe.
Er verstand nichts mehr. Ein Buch mit sieben Siegeln war dieses Leben, aber man hat doch nur eines. Er konnte es nicht entziffern. Vierzig Jahre. Ein verhindertes Leben. Kinder, die nicht laufen können. Ein leeres Nest. Eine Frau, die sich sucht und in dreißig Jahren sich nicht hat finden können. Wer übersetzte ihm dieses Leben, von dem doch nur eines hatte? So musste er sprachlos bleiben. Hilflos gegenüber einer Schrift, die er nicht lesen konnte. Ein Leben und vertan.
Bei den letzten Gästen wollte die Wirtin die Zeit nutzen. Er hatte sein Pils und den Klaren, das Liebespaar hatte sich. Sie ging nach hinten, holte den Kranz, grüne Tannen, rotes Band, vier dicke rote Kerzen, das muss schon sein in den Wochen vor Weihnachten. Über der Theke sollte er hängen, der Haken wartete Jahr für Jahr darauf. Schnaufend kletterte sie auf den Tresen, der wird mir schon nicht unter den Rock sehen, der sieht sowieso nichts. Der sieht nichts und niemanden. Der ist blind.
Aber den Kranz sah er doch. Plötzlich war sie wieder da, diese geheimnisvolle Erregung aus der Kinderzeit, wenn die erste Kerze angesteckt wurde. Er war in seinen Weihnachtswünschen, Adventskalender, Wunschzettel, die Krippe. Alles sah er deutlich vor sich. Vor allem das Kind, das sein Leben noch vor sich hatte, und das enden sollte unter Schmerzen, unter Schmerzen am Kreuz. Aber davor würde es noch vielen Menschen das Leben leicht machen. Darauf kommt es doch an, dass Blinde sehen, Lahme gehen, Gauner und Huren ihre Unschuld zurückbekommen, oder nicht?
Ihm war, als wäre vor ihm ein Buch aufgeschlagen worden. Er konnte lesen, und noch leere Seiten waren da, auf die er schreiben wollte.
„Zahlen!“ sagte er, und „Danke!“ sagte er.
Und dann zahlte er und ging.
Der Hocker bei dem Glas mit Soleiern blieb von nun an leer.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der Lupe.
Da mir deine Geschichte sehr gut gefallen hat, möchte ich dir ein paar Verbesserungsvorschläge unterbreiten:

Advent
Sprachlos
von Rudolf Wolter
Er kam um vier. Jeden Tag. Um vier Uhr kam er zur Tür[blue] hinein[/blue] (herein), im dunklen wetterfeuchten Mantel, setzte sich an den Tresen, ganz in der Ecke, neben den Automaten für die Nüsse und dem Hafen mit den Soleiern, setzte sich hin, nahm wortlos das Pils, den Klaren, zündete sich die Zigarette an, trank, nahm wieder wortlos das Pils und den Klaren, trank, rauchte, nahm wieder wortlos das Pils und den Klaren, trank, rauchte.
Er ging um zwei, wenn die Stühle hochgestellt wurden, die Wirtin nach den Schlüsseln zur Tür griff, dann erst zahlte er ohne ein Wort, legte nur einen Schein hin, stieg von seinem Hocker und ging. Nicht leichten Fußes näherte er sich der Tür, nein, er schlurfte wie ein Schwer-(Trennstrich entfernen)beladener zum Ausgang in die Welt.
Er kam um vier, er ging um zwei. Er sprach nicht. Er schien aber immer in Gedanken zu sein. Manchmal glaubte die Wirtin, es liefen ihm Tränen über die faltigen Wangen, aber das konnte auch vom Wind da draußen kommen. Er setzte sich an den Tresen, immer auf den gleichen Platz, und sie brauchte ihm nur immer ein Bier hinzustellen und den Klaren. Manchmal, nicht so oft, wechselte sie den Aschenbecher.
Die anderen Gäste sahen ihn nicht. Er war wie ein Stück der Einrichtung, ein Automat für Nüsse, ein Ständer mit Prospekten. Sie lachten, feierten, diskutierten den Platzverweis in Monaco, das war doch unnötig, man hätte sich den Gruppensieg sichern können, am Tisch neben der Durchreiche zur Küche wurde Politik verhandelt, die neue Regierung, die doch nichts bewirken könne, weil die wirkliche Macht übten doch ganz andere aus, aber nein, so ist das nicht, man muss nur dem Mittelstand entgegenkommen, die Steuern senken. Und außerdem, wer will schon heute noch jemanden einstellen, du wirst ihn ja nicht wieder los. Neben der Tür legte der junge Mann seine Hand auf den Schenkel seiner blonden Begleiterin, sie lachte blöde, und dann küssten sie sich. Gäste kamen, Gäste gingen. Gläser wurden gefüllt, Gläser wurden gespült.
Er nahm nichts davon wahr und sie sahen ihn nicht. Ein Pils. Ein Klarer. Heute Morgen, als es noch dunkel war, stand er wieder vor den blauen Tor, das er früher durchschreiten durfte. Der Pförtner sah ihn nicht, es wäre ihm auch peinlich gewesen, so blieb er auf der anderen Straßenseite, die LKWs sprühten vorbeirasend Nässe auf ihm, aber er merkte es nicht. Er starrte nur auf das blaue Tor, das er nicht mehr passieren durfte. Verlagert. Die Produktion wurde verlagert. In Tschechien ging nun ein anderer Betriebsschlosser durch ein vielleicht rotes Tor. Freigesetzt. Er war freigesetzt. Vorzeitigen Ruhestand nannten sie es. Aber wie soll man Ruhe finden, wenn man noch Muskeln hat und Hände, die es gelernt haben. Vierzig Jahre in einer Firma – aber, was ist das schon, vierzig Jahre. Das Volk Israel zog vierzig Jahre durch die Wüste ins gelobte Land. Sein Land war nicht gelobt. 1,99 für ein Kilo Trauben, das muss man sich überlegen. Nach vierzig Jahren muss man sich ein Kilo Trauben für 1,99 überlegen.
56 ist kein Alter. Aber es ist zu alt. Zu alt für das Leben. Irgendetwas läuft da falsch. Es sollte Ende sein mit 56. Danach braucht einen niemand mehr. Auch seine Tochter hat ihn nicht ge-(Trennstrich entfernen)braucht. Sie hat es sich wegmachen lassen, obwohl er gesagt hat, wir schaffen es schon, wir schaffen alles. Aber sie hat nicht hören wollen, und anders konnte er es ihr nicht sagen, denn ihr Bauch gehört ihr.
Er wird es niemandem verraten, auch ihrer Mutter nicht. Die hätte ihr auch nur zugeredet. Was willst du jetzt schon damit, sieh dir erst mal die Welt an. Der Sohn sah sich ja auch die Welt an, in Afghanistan sah er sich die Welt an, verband die Beinstümpfe der Kinder, die nur hatten spielen wollen, aber die schlafenden Soldaten hatten was gegen Kinderspiele und brüllten es mit betäubendem Knall – nein, so ist es leider nicht, die Explosion betäubt nicht, sie weckt nur die Schmerzen.
Seiner Frau war auch das nicht recht. Ein Arzt kann hier viel mehr verdienen, er muss doch nicht im Krankenhaus arbeiten. Er könnte ja auch seinen Facharzt machen, das lohnt sich wirklich. Aber er kommt wohl seinem Vater nach, der hätte damals auch seinen Ing. machen können, damals, als noch keine Kinder da waren. Aber er wollte seine Firma nicht im Stich lassen bei dem großen Auftrag, und die Zeit war so knapp, sie mussten Sonderschichten einlegen, und die Kollegen brauchten ihn.
Er war ihr auch zu alt. Sie wollte ihr Leben leben, jetzt komme ich, sagte sie. Sie kam nicht, sie ging. Das Sparbuch nahm sie mit, und die Lebensversicherung für ihre kleine Wohnung. Jetzt hängt nur noch sein Mantel an der Garderobe.
Er verstand nichts mehr. Ein Buch mit sieben Siegeln war dieses Leben, aber man hat doch nur eines. Er konnte es nicht entziffern. Vierzig Jahre. Ein verhindertes Leben. Kinder, die nicht laufen können. Ein leeres Nest. Eine Frau, die sich sucht und in dreißig Jahren sich nicht hat finden können. Wer übersetzte ihm dieses Leben, von dem (er) doch nur eines hatte? So musste er sprachlos bleiben. Hilflos gegenüber einer Schrift, die er nicht lesen konnte. Ein Leben und vertan.
Bei den letzten Gästen wollte die Wirtin die Zeit nutzen. Er hatte sein Pils und den Klaren, das Liebespaar hatte sich. Sie ging nach hinten, holte den Kranz, grüne Tannen, rotes Band, vier dicke rote Kerzen, das muss schon sein in den Wochen vor Weihnachten. Über der Theke sollte er hängen, der Haken wartete Jahr für Jahr darauf. Schnaufend kletterte sie auf den Tresen, der wird mir schon nicht unter den Rock sehen, der sieht sowieso nichts. Der sieht nichts und niemanden. Der ist blind.
Aber den Kranz sah er doch. Plötzlich war sie wieder da, diese geheimnisvolle Erregung aus der Kinderzeit, wenn die erste Kerze angesteckt wurde. Er war in seinen Weihnachtswünschen, Adventskalender, Wunschzettel, die Krippe. Alles sah er deutlich vor sich. Vor allem das Kind, das sein Leben noch vor sich hatte, und das enden sollte unter Schmerzen, unter Schmerzen am Kreuz. Aber davor würde es noch vielen Menschen das Leben leicht machen. Darauf kommt es doch an, dass Blinde sehen, Lahme gehen, Gauner und Huren ihre Unschuld zurückbekommen, oder nicht?
Ihm war, als wäre vor ihm ein Buch aufgeschlagen worden. Er konnte lesen, und noch leere Seiten waren da, auf die er schreiben wollte.
„Zahlen!“ sagte er, und „Danke!“ sagte er.
Und dann zahlte er und ging.
Der Hocker bei dem Glas mit Soleiern blieb von nun an leer.

lg
 

knychen

Mitglied
hallo rudolf wolter,
die geschichte ist eine gute beobachtung. universell einsetzbar in hamburg, berlin, gelsenkirchen...
die kneipenatmosphäre - klasse; kenne ich gut.
aber das ende?
sollte der glaube an jesus und das ganze brimborium alles wieder in ordnung bringen für deinen protagonisten?
na toll, wenn also später meine rente nicht zum leben reicht, die frau auf und davon ist, das sparbuch und die lebensversicherung gleich noch dazu - dann warte ich auf weihnachten, stecke mir vier kerzen in den ... (kranz) und schon ist alles in butter?
tut mir leid, so stilsicher das alles geschrieben ist, der bissen zum schluß will mir nicht runter. der riecht mir zu abgestanden.
gruß aus berlin. knychen
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nun,

das ist eine geschichte, die hoffnung gibt. und wenn dir das zu abgestanden ist, dann wünsche ich, dass du in anderer form hoffnung findest, wenn es dir mal dreckig geht.
lg
 

knychen

Mitglied
liebe flammarion,
wenn dir diese geschichte hoffnung gibt, dann ist das schön und gut, aber dieser eindruck ist nun mal nicht zu verallgemeinern. hüte dich bitte vor dogmatismus.
und - ganz nebenbei - meinst du, dass dein spruch auf meine meinung zu rudolf wolters text noch als "textarbeit" zu verstehen ist?
ich hätte gern seine antwort gelesen, nicht deine.
gruß aus adlershof.
knychen
 

Zeder

Administrator
Teammitglied
Hallo Rudolf Wolter,

ich habe mir vor dem Lesen deines Textes dein Profil angeschaut: Du bist Pfarrer im Ruhestand.
Und jetzt habe ich eine Frage: Ich vermute, dass dieser Text ein Ausschnitt aus einer Predigt ist, die du gehalten hast. Wenn es so ist, wundert mich der 'Streit' zwischen knychen und flammarion nicht, da man eine Predigt anders als einen literarischen Text betrachten muss.

Ich warte einfach einmal deine Antwort ab.

Grüße von Zeder
 
N

nobody

Gast
Predigt?

Aber davor würde es noch vielen Menschen das Leben leicht machen. Darauf kommt es doch an, dass Blinde sehen, Lahme gehen, Gauner und Huren ihre Unschuld zurückbekommen, oder nicht?
... das sind für mich die entscheidenden Sätze, und sollte ein Pastor das in dieser ironischen Form von der Kanzel predigen, hätte er meinen Respekt - den Respekt eines Agnostikers, wenn's beliebt!
Natürlich wird man eine Predigt anders als einen literarischen Text betrachten - wenn sie von der Kanzel verkündet wird. In der Leselupe betrachte ich den Text unter literarischen Gesichtspunkten - und hier zählt er für mich (bis auf ein paar unwesentliche Flüchtigkeits-Rechtschreibfehler) zu den herausragenden Werken.
Gruß Franz
 



 
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