Alain

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Carmen Engel

Mitglied
Liebe Forumsmitglieder,

ich bin neu im Forum und möchte mich Euch mit der nachfolgenden Kurzgeschichte vorstellen. Viel Spaß beim Lesen und ich freue mich auf Feedback.
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Alain

Marie schloss die Tür und erstarrte. Es war still. Zu still. Sie lauschte angestrengt. Nur das Piep der medizinischen Geräte war zu hören. Ihr Blick wanderte zum Bett. Da endlich vernahm sie einen tiefen Atemzug. Gott sei Dank, dachte sie, Oma schläft. Erleichtert und auf Zehenspitzen durchquerte sie das Krankenzimmer und setzte sich ans Bett.
Als sie ihre vierundneunzigjährige Uroma betrachtete, wurde ihr warm ums Herz. Ihr Gesicht erzählte ein ganzes Leben. Lange würde es nicht mehr dauern.
Marie griff nach der Hand ihrer Oma. Sie ruhte auf einem Heft, das auf der Decke lag. Ein Kugelschreiber klemmte zwischen den knotigen Fingern. Vorsichtig zog Marie das Heft hervor. Es war anders als die, die sie Oma in den letzten Tagen hatte bringen müssen. Dünn und grün, mit vergilbten Seiten. Abgegriffen und mit französischen Wörtern auf dem Einband, die sie nicht verstand.
"Im Keller sind sie, in der Kiste neben den Einweggläsern", hatte Oma ihr erklärt. Marie fand die Kiste sofort und brachte die etwa zwanzig dicken Schreibhefte ins Krankenhaus. Ein Strahlen durchbrach Omas müde Züge und sie hatte sofort angefangen, jedes einzelne durchzublättern. Als ob sie etwas suche.
Maries Blick fiel auf die aufgeschlagene Seite. Ein Datum stand dort und darunter mit blauer, verblasster Tinte Worte, die sie magisch anzogen. Marie spürte die magere Hand in ihrer und die Wärme, die in sie hineinfloss. Als schien sie ihr zu sagen, es wäre in Ordnung, wenn sie jetzt lesen würde.

07.07.1939
Ich bin auf dem Markt nahe Sacré Coeur. Es ist drückend heute. Schwül. Schwarze Wolken am Himmel über Paris. Drohend und gewaltig. Nicht aufzuhalten. Wie die braune Wolke, die sich über Europa ausgebreitet hat. Sie wird in einem Gewitter explodieren. Ich weiß es. Die Schlagzeilen in der Zeitung erzählen davon. Ich bekomme Angst. Mache mich auf den Weg zurück zu Onkel Pierre. Als das Gewitter losbricht, renne ich. Es regnet in Strömen. Unaufhörlich. Ich habe keinen Regenschirm. Halte mir die Zeitung über den Kopf.
Ich muss abreisen. Übermorgen. Wieder zurück nach Berlin. Dabei liebe ich mein Paris. Aber Vater will mich daheim haben. In all dem Chaos der Welt. Sagt er.
Da stoße ich mit jemandem zusammen. Ich erschrecke und meine Gedanken stocken. Er versperrt mir den Weg. Schützt mich mit seinem Regenschirm und lächelt. Er fragt, wohin ich will und ob er mich begleiten dürfe. Ich sehe in moosgrüne Augen. Ein Glitzern. Erwartung darin. Ich lächle und nicke. Es fühlt sich fremd an.
Wir laufen zusammen über Montmatre. Durch die engen Gassen und steigen die Treppen hinauf und hinab. In einem Hauseingang stehen wir dicht beieinander. Der Regen ist zu stark, meint er. Ich verberge mein Grinsen. Seine Stimme ist warm. Ich mag sie. Höre sie immer noch. Worte fliegen hin und her. Vom Wind getragen. Wir lachen. Lachen den Regen weg.
Alain ist elegant. Zurückhaltend. An der Ecke vor Onkel Pierres Haus nur ein Händedruck zum Abschied. Aber ein Leuchten in den Augen.
Jetzt liege ich wach und etwas Unbekanntes lockt mich. Lässt mich nicht mehr schlafen. Verheißungsvoll und verwirrend.
Morgen um vier auf Pigalle. Alain wird dort warten.

Marie sah auf. Oma hatte oft von den Sommern in Paris erzählt. Von dem alten Freund ihres Vaters, den sie alle Onkel Pierre nannten. Ein Feind aus dem ersten Weltkrieg, der zum Freund geworden war. Doch Alain kam in den Geschichten nie vor.
Als sie die Seite umblätterte, fühlte sie sich ein wenig wie eine Diebin. Doch die Neugier trieb sie.

08.07.1939
Wir sitzen in einem wunderbaren Café. Die Menschen diskutieren an den Tischen, trinken und essen tarte de citron und gâteau au chocolat. Die Vögel trällern zwischen grünem Laub und Rosenduft erfüllt die Luft. Keine dunklen Wolken mehr und wir vergessen die Welt. Erzählen uns das Leben. Sein Leben. Mein Leben. Dann Stille. Nur Blicke. Er hat Lachfalten. Und einen winzigen Leberfleck über der Lippe. Sein Mund. Geschwungen wie Flügel.
Unsere Hände liegen dicht beieinander. Ich wünschte, er würde mich berühren. Ich bin verrückt nach mehr. Mehr von ihm. Können Augen streicheln? Ja. Ohne Worte, fast viel schöner. Mein Herz ist wild. Berauscht, überschwemmt von Liebe?
Alain entführt mich in den Parc des Buttes Chaumont. Die Aussicht über Paris ist unendlich weit. Und der Park wunderschön. Sagt Alain. Doch ich sehe nicht die Felsen, den See, den Wasserfall. Wenn er erklärt, ist sein Gesicht ganz nah an meinem. Er flüstert mir ins Ohr. Sein Atem streicht über meine Haut. Ich rieche Alains Duft. Mir ist heiß. Dann friere ich. Mein Körper spielt mit mir.
Er bringt mich zurück. An der Ecke zwei Abschiedsküsse. Unschuldig, wie zwischen alten Bekannten. Links, rechts auf die Wangen. Zögern. Er hält meine Hand. Nur einen Moment. Dann lauf ich los.
Fühle mich zerrissen. Was soll das werden?
Ich muss packen. Bin morgen weg.

09.07.1939
Traumlose Nacht. Schlaflose Nacht. Fühle mich erdrückt und leer. Zwei Tage verändern die Welt. Verändern mein Herz. Ich will nicht weg. Aber wie könnte ich bleiben? Dieser Morgen ist sonnig und warm. Doch für mich ist er düster.

Marie schluckte. Sie rechnete nach. Oma war zwanzig, dachte sie. Noch nie hatte sie sich die für sie immer alte, fürsorgliche und liebevolle Dame als Mädchen vorgestellt. Langsam formte sich in ihr eine Ahnung von einer lebenshungrigen, jungen Frau mit dem hellen Lachen, dass ihr so vertraut war.
Unter dem letzten Satz hatte Oma zwei Zeilen frei gelassen. Dann begann der Tagebucheintrag erneut.

Alain ist plötzlich auf dem Bahnhof! Findet mich in all den aufgeregten Menschen. In all dem Lärm. Zieht mich von Onkel Pierre fort. Unbemerkt. Hinter einen Pfeiler. Streichelt sanft meine Wange. Er wollte mich nochmal sehen und er wird mich vermissen, sagt er. Mehr nicht. Doch seine Augen erzählen mir alles. Mein Herz reißt auf. Er notiert meine Adresse. Verspricht zu schreiben. Und hofft auf meine Briefe. Vielleicht können wir uns wiedersehen, fragt er.
Onkel Pierre ruft. Sucht mich. Der Zug fährt.
Auch jetzt kein Kuss. Doch eine Umarmung. Sanft und vorsichtig. Ich spüre, dass er zittert. Spüre mein Zittern. Unsere Herzen im Takt.
Ich gehe. Sitze im Zug und fahre davon. Ein heimliches Winken. Dann nichts mehr. Fahles Sonnenlicht. Unaufhörliches Rattern der Räder. Das Land rast an mir vorbei. Endlos. Und das Chaos nimmt ihn hinweg. Ich will die Zeit anhalten, zurückdrehen. Aber wir können nichts aufhalten. Wir stolpern in eine gefährliche Welt.


Alle anderen Seiten waren leer. Verblasst, eingerissen, an den Ecken abgegriffen. Wie hundertmal umgeblättert.
Marie ließ das Tagebuch sinken. Ihr Mund fühlte sich trocken an und sie seufzte. Sanft drückte sie die Hand ihrer Oma und sah plötzlich das Mädchen vor sich. Auf ihrem Gesicht lag ein leises Lächeln. Und über ihre Wange lief eine glitzernde Träne.
Als Marie das Tagebuch schloss, fiel ihr auf der letzten Seite etwas auf.
Mit schwarzem Kuli und zittriger Handschrift stand dort geschrieben:

Ich hätte ihn gern geküsst.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Carmen Engel, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Eine schöne, nachvollziehbare Geschichte.

Bitte entferne den ersten Absatz mit der Begrüßung, sie ist für den Text unerheblich.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Carmen Engel

Mitglied
Alain

Marie schloss die Tür und erstarrte. Es war still. Zu still. Sie lauschte angestrengt. Nur das Piep der medizinischen Geräte war zu hören. Ihr Blick wanderte zum Bett. Da endlich vernahm sie einen tiefen Atemzug. Gott sei Dank, dachte sie, Oma schläft. Erleichtert und auf Zehenspitzen durchquerte sie das Krankenzimmer und setzte sich ans Bett.
Als sie ihre vierundneunzigjährige Uroma betrachtete, wurde ihr warm ums Herz. Ihr Gesicht erzählte ein ganzes Leben. Lange würde es nicht mehr dauern.
Marie griff nach der Hand ihrer Oma. Sie ruhte auf einem Heft, das auf der Decke lag. Ein Kugelschreiber klemmte zwischen den knotigen Fingern. Vorsichtig zog Marie das Heft hervor. Es war anders als die, die sie Oma in den letzten Tagen hatte bringen müssen. Dünn und grün, mit vergilbten Seiten. Abgegriffen und mit französischen Wörtern auf dem Einband, die sie nicht verstand.
"Im Keller sind sie, in der Kiste neben den Einweggläsern", hatte Oma ihr erklärt. Marie fand die Kiste sofort und brachte die etwa zwanzig dicken Schreibhefte ins Krankenhaus. Ein Strahlen durchbrach Omas müde Züge und sie hatte sofort angefangen, jedes einzelne durchzublättern. Als ob sie etwas suche.
Maries Blick fiel auf die aufgeschlagene Seite. Ein Datum stand dort und darunter mit blauer, verblasster Tinte Worte, die sie magisch anzogen. Marie spürte die magere Hand in ihrer und die Wärme, die in sie hineinfloss. Als schien sie ihr zu sagen, es wäre in Ordnung, wenn sie jetzt lesen würde.

07.07.1939
Ich bin auf dem Markt nahe Sacré Coeur. Es ist drückend heute. Schwül. Schwarze Wolken am Himmel über Paris. Drohend und gewaltig. Nicht aufzuhalten. Wie die braune Wolke, die sich über Europa ausgebreitet hat. Sie wird in einem Gewitter explodieren. Ich weiß es. Die Schlagzeilen in der Zeitung erzählen davon. Ich bekomme Angst. Mache mich auf den Weg zurück zu Onkel Pierre. Als das Gewitter losbricht, renne ich. Es regnet in Strömen. Unaufhörlich. Ich habe keinen Regenschirm. Halte mir die Zeitung über den Kopf.
Ich muss abreisen. Übermorgen. Wieder zurück nach Berlin. Dabei liebe ich mein Paris. Aber Vater will mich daheim haben. In all dem Chaos der Welt. Sagt er.
Da stoße ich mit jemandem zusammen. Ich erschrecke und meine Gedanken stocken. Er versperrt mir den Weg. Schützt mich mit seinem Regenschirm und lächelt. Er fragt, wohin ich will und ob er mich begleiten dürfe. Ich sehe in moosgrüne Augen. Ein Glitzern. Erwartung darin. Ich lächle und nicke. Es fühlt sich fremd an.
Wir laufen zusammen über Montmatre. Durch die engen Gassen und steigen die Treppen hinauf und hinab. In einem Hauseingang stehen wir dicht beieinander. Der Regen ist zu stark, meint er. Ich verberge mein Grinsen. Seine Stimme ist warm. Ich mag sie. Höre sie immer noch. Worte fliegen hin und her. Vom Wind getragen. Wir lachen. Lachen den Regen weg.
Alain ist elegant. Zurückhaltend. An der Ecke vor Onkel Pierres Haus nur ein Händedruck zum Abschied. Aber ein Leuchten in den Augen.
Jetzt liege ich wach und etwas Unbekanntes lockt mich. Lässt mich nicht mehr schlafen. Verheißungsvoll und verwirrend.
Morgen um vier auf Pigalle. Alain wird dort warten.

Marie sah auf. Oma hatte oft von den Sommern in Paris erzählt. Von dem alten Freund ihres Vaters, den sie alle Onkel Pierre nannten. Ein Feind aus dem ersten Weltkrieg, der zum Freund geworden war. Doch Alain kam in den Geschichten nie vor.
Als sie die Seite umblätterte, fühlte sie sich ein wenig wie eine Diebin. Doch die Neugier trieb sie.

08.07.1939
Wir sitzen in einem wunderbaren Café. Die Menschen diskutieren an den Tischen, trinken und essen tarte de citron und gâteau au chocolat. Die Vögel trällern zwischen grünem Laub und Rosenduft erfüllt die Luft. Keine dunklen Wolken mehr und wir vergessen die Welt. Erzählen uns das Leben. Sein Leben. Mein Leben. Dann Stille. Nur Blicke. Er hat Lachfalten. Und einen winzigen Leberfleck über der Lippe. Sein Mund. Geschwungen wie Flügel.
Unsere Hände liegen dicht beieinander. Ich wünschte, er würde mich berühren. Ich bin verrückt nach mehr. Mehr von ihm. Können Augen streicheln? Ja. Ohne Worte, fast viel schöner. Mein Herz ist wild. Berauscht, überschwemmt von Liebe?
Alain entführt mich in den Parc des Buttes Chaumont. Die Aussicht über Paris ist unendlich weit. Und der Park wunderschön. Sagt Alain. Doch ich sehe nicht die Felsen, den See, den Wasserfall. Wenn er erklärt, ist sein Gesicht ganz nah an meinem. Er flüstert mir ins Ohr. Sein Atem streicht über meine Haut. Ich rieche Alains Duft. Mir ist heiß. Dann friere ich. Mein Körper spielt mit mir.
Er bringt mich zurück. An der Ecke zwei Abschiedsküsse. Unschuldig, wie zwischen alten Bekannten. Links, rechts auf die Wangen. Zögern. Er hält meine Hand. Nur einen Moment. Dann lauf ich los.
Fühle mich zerrissen. Was soll das werden?
Ich muss packen. Bin morgen weg.

09.07.1939
Traumlose Nacht. Schlaflose Nacht. Fühle mich erdrückt und leer. Zwei Tage verändern die Welt. Verändern mein Herz. Ich will nicht weg. Aber wie könnte ich bleiben? Dieser Morgen ist sonnig und warm. Doch für mich ist er düster.

Marie schluckte. Sie rechnete nach. Oma war zwanzig, dachte sie. Noch nie hatte sie sich die für sie immer alte, fürsorgliche und liebevolle Dame als Mädchen vorgestellt. Langsam formte sich in ihr eine Ahnung von einer lebenshungrigen, jungen Frau mit dem hellen Lachen, dass ihr so vertraut war.
Unter dem letzten Satz hatte Oma zwei Zeilen frei gelassen. Dann begann der Tagebucheintrag erneut.

Alain ist plötzlich auf dem Bahnhof! Findet mich in all den aufgeregten Menschen. In all dem Lärm. Zieht mich von Onkel Pierre fort. Unbemerkt. Hinter einen Pfeiler. Streichelt sanft meine Wange. Er wollte mich nochmal sehen und er wird mich vermissen, sagt er. Mehr nicht. Doch seine Augen erzählen mir alles. Mein Herz reißt auf. Er notiert meine Adresse. Verspricht zu schreiben. Und hofft auf meine Briefe. Vielleicht können wir uns wiedersehen, fragt er.
Onkel Pierre ruft. Sucht mich. Der Zug fährt.
Auch jetzt kein Kuss. Doch eine Umarmung. Sanft und vorsichtig. Ich spüre, dass er zittert. Spüre mein Zittern. Unsere Herzen im Takt.
Ich gehe. Sitze im Zug und fahre davon. Ein heimliches Winken. Dann nichts mehr. Fahles Sonnenlicht. Unaufhörliches Rattern der Räder. Das Land rast an mir vorbei. Endlos. Und das Chaos nimmt ihn hinweg. Ich will die Zeit anhalten, zurückdrehen. Aber wir können nichts aufhalten. Wir stolpern in eine gefährliche Welt.


Alle anderen Seiten waren leer. Verblasst, eingerissen, an den Ecken abgegriffen. Wie hundertmal umgeblättert.
Marie ließ das Tagebuch sinken. Ihr Mund fühlte sich trocken an und sie seufzte. Sanft drückte sie die Hand ihrer Oma und sah plötzlich das Mädchen vor sich. Auf ihrem Gesicht lag ein leises Lächeln. Und über ihre Wange lief eine glitzernde Träne.
Als Marie das Tagebuch schloss, fiel ihr auf der letzten Seite etwas auf.
Mit schwarzem Kuli und zittriger Handschrift stand dort geschrieben:

Ich hätte ihn gern geküsst.
 

Soean

Mitglied
Hallo Carmen Engel,

ich habe Deine Geschichte genossen und habe nur bei folgenden paar Sachen ein paar Einwände.

Ihr Gesicht erzählte ein ganzes Leben. Lange würde es nicht mehr dauern.
Mich interessiert hier, wie Marie bei dem Gedanken fühlt.

knotigen Fingern.
Ich kenne nur knorrige Finger…kann auch sein, dass ich mich irre.

Es war anders als die, die sie Oma in den letzten Tagen hatte bringen müssen. Dünn und grün, mit vergilbten Seiten. Abgegriffen und mit französischen Wörtern auf dem Einband, die sie nicht verstand.
"Im Keller sind sie, in der Kiste neben den Einweggläsern", hatte Oma ihr erklärt. Marie fand die Kiste sofort und brachte die etwa zwanzig dicken Schreibhefte ins Krankenhaus. Ein Strahlen durchbrach Omas müde Züge und sie hatte sofort angefangen, jedes einzelne durchzublättern. Als ob sie etwas suche.
Ich brauchte ein wenig um das zu verstehen und würde hier etwas umstellen. Vielleicht so:

Sie hatte Ihrer Oma neulich viele Hefte bringen müssen.
"Im Keller sind sie, in der Kiste neben den Einweggläsern", hatte Oma ihr erklärt. Marie fand die Kiste sofort und brachte die etwa zwanzig dicken Schreibhefte ins Krankenhaus. Ein Strahlen durchbrach Omas müde Züge und sie hatte sofort angefangen, jedes einzelne durchzublättern. Als ob sie etwas suche.
Dieses Heft war anders. Dünn und grün, mit vergilbten Seiten. Abgegriffen und mit französischen Wörtern auf dem Einband, die sie nicht verstand.

Den Rest habe ich verschlungen und habe geschluckt. Die letzte Aussage der Oma....toll gemacht! Mein Respekt!

Einzig hätte mich interessiert, bei wem Tränen zu sehen waren:

Auf ihrem Gesicht lag ein leises Lächeln. Und über ihre Wange lief eine glitzernde Träne
Ich fände es toll, wenn es auf dem Gesicht der Oma wäre....das würde mich dann komplett zerreißen :)

Liebe Grüße, Sören
 

Carmen Engel

Mitglied
Lieber Sören (oder liebe?),

herzlichen Dank für Dein Feedback. Habe mich sehr gefreut, dass Dir die Geschichte gefällt.
Vielen Dank auch für Deine Hinweise, die ich gerne aufnehme.
Den letzten Satz habe ich bei der Überarbeitung extra so gelassen. War mir auch aufgefallen. Dann dachte ich mir, jeder Leser kann selbst ergänzen, auf wessen Gesicht er die Träne sehen will. Ist ein kleines Experiment, mal sehen, ob dazu noch mehr Kommentare kommen. :)
Ich hoffe, es stört nicht zu sehr?

Beste Grüße
Carmen
 

Soean

Mitglied
Hallo Carmen,

unter diesem Gesichtspunkt, stört es garnicht!
Hoffe, ich lese die nächste Zeit noch mehr von Dir :)

Liebe Grüße, (der) Sören
 

Wipfel

Mitglied
Hi Carmen,
das hier, das was ich da lese.... das ist Literatur. Ich verneige mich und zolle dir ungeschminkten Respekt. Stark. Wie schreibst du in fünf Jahren?

Grüße von wipfel
 

Maribu

Mitglied
Hallo Carmen,
eine traurige, melancholische, aber auch sehr zarte und poetische Geschichte!
Gute Idee mit den Tagebucheintragungen der Uroma.
Nur dadurch konnte Marie sich sie, die für sie wohl schon immer
"alt" wirkte, als junges, verliebtes Mädchen vorstellen.
Ob der dann bald beginnende Zweite Weltkrieg oder andere Faktoren ein Wiedersehen verhinderten, bleibt offen.
Die geschilderte letzte Tagebucheintragung ist das I-Tüpfelchen
auf einen ausgezeichneten Text!

Lieben Gruß
Maribu
 

Carmen Engel

Mitglied
Lieber Sören,

ja, da soll noch einiges kommen. :)

Liebe(r) Wipfel,

jetzt werde ich doch glatt rot. Das hat noch keiner über meine Geschichten gesagt. Danke von Herzen, das motiviert mich.

Liebe (r) Maribu,

auch Dir herzlichen Dank für´s Lesen und Dein Feedback. Freue mich, wenn ich Dich gut unterhalten konnte.

Beste Grüße an Euch alle
Carmen
 

G. R. Asool

Mitglied
Hallo Carmen,

eine rührend schöne Geschichte. Auch wenn ich nicht so der Liebesgeschichten Typ bin, hast du mich mit deinem Stil gleich gehabt.

Hat mir Spaß gemacht!

Gruß
GR
 

Carmen Engel

Mitglied
Liebe(r) Asool,

lieben Dank für Dein Feedback. Freue mich, dass ich jemanden erreichen konnte, der sonst nicht so auf Liebesgeschichten steht.
Lustigerweise mag ich das auch nicht so und lese auch gar keine Liebesromane. :) :)
Aber bei Ella und Alain hat´s mich einfach gepackt.

Beste Grüße
Carmen
 

Kassandro

Mitglied
Gute alte Zeit

Ohne den Chor der Romantiker stören zu wollen, möchte ich nur anmerken: Die Gefäße selbstgemacheten Kompotts heißen Einweckgläser. Einweggläser sind eine Errungenschaft einer viel späteren Wegwerfzeit.
Gruß von Kassandro
 

Carmen Engel

Mitglied
Alain

Marie schloss die Tür und erstarrte. Es war still. Zu still. Sie lauschte angestrengt. Nur das Piep der medizinischen Geräte war zu hören. Ihr Blick wanderte zum Bett. Da endlich vernahm sie einen tiefen Atemzug. Gott sei Dank, dachte sie, Oma schläft. Erleichtert und auf Zehenspitzen durchquerte sie das Krankenzimmer und setzte sich ans Bett.
Als sie ihre vierundneunzigjährige Uroma betrachtete, wurde ihr warm ums Herz. Ihr Gesicht erzählte ein ganzes Leben. Lange würde es nicht mehr dauern.
Marie griff nach der Hand ihrer Oma. Sie ruhte auf einem Heft, das auf der Decke lag. Ein Kugelschreiber klemmte zwischen den knotigen Fingern. Vorsichtig zog Marie das Heft hervor. Es war anders als die, die sie Oma in den letzten Tagen hatte bringen müssen. Dünn und grün, mit vergilbten Seiten. Abgegriffen und mit französischen Wörtern auf dem Einband, die sie nicht verstand.
"Im Keller sind sie, in der Kiste neben den Einweckgläsern", hatte Oma ihr erklärt. Marie fand die Kiste sofort und brachte die etwa zwanzig dicken Schreibhefte ins Krankenhaus. Ein Strahlen durchbrach Omas müde Züge und sie hatte sofort angefangen, jedes einzelne durchzublättern. Als ob sie etwas suche.
Maries Blick fiel auf die aufgeschlagene Seite. Ein Datum stand dort und darunter mit blauer, verblasster Tinte Worte, die sie magisch anzogen. Marie spürte die magere Hand in ihrer und die Wärme, die in sie hineinfloss. Als schien sie ihr zu sagen, es wäre in Ordnung, wenn sie jetzt lesen würde.

07.07.1939
Ich bin auf dem Markt nahe Sacré Coeur. Es ist drückend heute. Schwül. Schwarze Wolken am Himmel über Paris. Drohend und gewaltig. Nicht aufzuhalten. Wie die braune Wolke, die sich über Europa ausgebreitet hat. Sie wird in einem Gewitter explodieren. Ich weiß es. Die Schlagzeilen in der Zeitung erzählen davon. Ich bekomme Angst. Mache mich auf den Weg zurück zu Onkel Pierre. Als das Gewitter losbricht, renne ich. Es regnet in Strömen. Unaufhörlich. Ich habe keinen Regenschirm. Halte mir die Zeitung über den Kopf.
Ich muss abreisen. Übermorgen. Wieder zurück nach Berlin. Dabei liebe ich mein Paris. Aber Vater will mich daheim haben. In all dem Chaos der Welt. Sagt er.
Da stoße ich mit jemandem zusammen. Ich erschrecke und meine Gedanken stocken. Er versperrt mir den Weg. Schützt mich mit seinem Regenschirm und lächelt. Er fragt, wohin ich will und ob er mich begleiten dürfe. Ich sehe in moosgrüne Augen. Ein Glitzern. Erwartung darin. Ich lächle und nicke. Es fühlt sich fremd an.
Wir laufen zusammen über Montmatre. Durch die engen Gassen und steigen die Treppen hinauf und hinab. In einem Hauseingang stehen wir dicht beieinander. Der Regen ist zu stark, meint er. Ich verberge mein Grinsen. Seine Stimme ist warm. Ich mag sie. Höre sie immer noch. Worte fliegen hin und her. Vom Wind getragen. Wir lachen. Lachen den Regen weg.
Alain ist elegant. Zurückhaltend. An der Ecke vor Onkel Pierres Haus nur ein Händedruck zum Abschied. Aber ein Leuchten in den Augen.
Jetzt liege ich wach und etwas Unbekanntes lockt mich. Lässt mich nicht mehr schlafen. Verheißungsvoll und verwirrend.
Morgen um vier auf Pigalle. Alain wird dort warten.

Marie sah auf. Oma hatte oft von den Sommern in Paris erzählt. Von dem alten Freund ihres Vaters, den sie alle Onkel Pierre nannten. Ein Feind aus dem ersten Weltkrieg, der zum Freund geworden war. Doch Alain kam in den Geschichten nie vor.
Als sie die Seite umblätterte, fühlte sie sich ein wenig wie eine Diebin. Doch die Neugier trieb sie.

08.07.1939
Wir sitzen in einem wunderbaren Café. Die Menschen diskutieren an den Tischen, trinken und essen tarte de citron und gâteau au chocolat. Die Vögel trällern zwischen grünem Laub und Rosenduft erfüllt die Luft. Keine dunklen Wolken mehr und wir vergessen die Welt. Erzählen uns das Leben. Sein Leben. Mein Leben. Dann Stille. Nur Blicke. Er hat Lachfalten. Und einen winzigen Leberfleck über der Lippe. Sein Mund. Geschwungen wie Flügel.
Unsere Hände liegen dicht beieinander. Ich wünschte, er würde mich berühren. Ich bin verrückt nach mehr. Mehr von ihm. Können Augen streicheln? Ja. Ohne Worte, fast viel schöner. Mein Herz ist wild. Berauscht, überschwemmt von Liebe?
Alain entführt mich in den Parc des Buttes Chaumont. Die Aussicht über Paris ist unendlich weit. Und der Park wunderschön. Sagt Alain. Doch ich sehe nicht die Felsen, den See, den Wasserfall. Wenn er erklärt, ist sein Gesicht ganz nah an meinem. Er flüstert mir ins Ohr. Sein Atem streicht über meine Haut. Ich rieche Alains Duft. Mir ist heiß. Dann friere ich. Mein Körper spielt mit mir.
Er bringt mich zurück. An der Ecke zwei Abschiedsküsse. Unschuldig, wie zwischen alten Bekannten. Links, rechts auf die Wangen. Zögern. Er hält meine Hand. Nur einen Moment. Dann lauf ich los.
Fühle mich zerrissen. Was soll das werden?
Ich muss packen. Bin morgen weg.

09.07.1939
Traumlose Nacht. Schlaflose Nacht. Fühle mich erdrückt und leer. Zwei Tage verändern die Welt. Verändern mein Herz. Ich will nicht weg. Aber wie könnte ich bleiben? Dieser Morgen ist sonnig und warm. Doch für mich ist er düster.

Marie schluckte. Sie rechnete nach. Oma war zwanzig, dachte sie. Noch nie hatte sie sich die für sie immer alte, fürsorgliche und liebevolle Dame als Mädchen vorgestellt. Langsam formte sich in ihr eine Ahnung von einer lebenshungrigen, jungen Frau mit dem hellen Lachen, dass ihr so vertraut war.
Unter dem letzten Satz hatte Oma zwei Zeilen frei gelassen. Dann begann der Tagebucheintrag erneut.

Alain ist plötzlich auf dem Bahnhof! Findet mich in all den aufgeregten Menschen. In all dem Lärm. Zieht mich von Onkel Pierre fort. Unbemerkt. Hinter einen Pfeiler. Streichelt sanft meine Wange. Er wollte mich nochmal sehen und er wird mich vermissen, sagt er. Mehr nicht. Doch seine Augen erzählen mir alles. Mein Herz reißt auf. Er notiert meine Adresse. Verspricht zu schreiben. Und hofft auf meine Briefe. Vielleicht können wir uns wiedersehen, fragt er.
Onkel Pierre ruft. Sucht mich. Der Zug fährt.
Auch jetzt kein Kuss. Doch eine Umarmung. Sanft und vorsichtig. Ich spüre, dass er zittert. Spüre mein Zittern. Unsere Herzen im Takt.
Ich gehe. Sitze im Zug und fahre davon. Ein heimliches Winken. Dann nichts mehr. Fahles Sonnenlicht. Unaufhörliches Rattern der Räder. Das Land rast an mir vorbei. Endlos. Und das Chaos nimmt ihn hinweg. Ich will die Zeit anhalten, zurückdrehen. Aber wir können nichts aufhalten. Wir stolpern in eine gefährliche Welt.


Alle anderen Seiten waren leer. Verblasst, eingerissen, an den Ecken abgegriffen. Wie hundertmal umgeblättert.
Marie ließ das Tagebuch sinken. Ihr Mund fühlte sich trocken an und sie seufzte. Sanft drückte sie die Hand ihrer Oma und sah plötzlich das Mädchen vor sich. Auf ihrem Gesicht lag ein leises Lächeln. Und über ihre Wange lief eine glitzernde Träne.
Als Marie das Tagebuch schloss, fiel ihr auf der letzten Seite etwas auf.
Mit schwarzem Kuli und zittriger Handschrift stand dort geschrieben:

Ich hätte ihn gern geküsst.
 



 
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