Alice

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animus

Mitglied
Alice

Sie fühlte sich heute nicht besonders gut.
Sie hatte Kopfschmerzen, das Aufstehen fiel ihr schwer und dann war da noch dieser Besuch, der sich gestern telefonisch angekündigt hatte. Heute wollte er kommen.

Sie setzte sich in ihren alten Stuhl und versank in sich. Immer, wenn sie mit etwas Neuem konfrontiert wurde, neue Aufgaben lösen musste, versank sie in ihrem Stuhl und dachte nach. Soweit sie es nur konnte.

Wer war dieser Mann, der sie gestern anrief?
„Ich komme morgen zu Besuch“, hatte er gesagt.
Sie konnte sich an niemanden erinnern. Ihre ganzen Erinnerungen waren weg. Sie kannte nicht mal sich selbst, und was man ihr erzählte, vergaß sie meistens wieder.
Um drei Uhr wollte er kommen. „Zum Tee“, hatte er gesagt.
‚Um Drei mache ich doch immer meine Wäsche’, erinnerte sie sich kurz.
Tee musste sie kochen, sie musste die Tür aufmachen, wenn es klingelt.
Sie musste ruhig bleiben, wenn der Besuch in der Tür stand und vor allem, sie durfte keine Angst vor ihm bekommen.
Die Angst war es, die ihr die meisten Sorgen bereitete. Sie hatte oft Angst vor fremden Gesichtern, egal ob sie angelächelt oder angestarrt wurde.
In ihrem Angstzustand konnte sie gefährlich werden. Jedem. Das wusste sie, das hat man ihr oft genug gesagt,
dass sie keine Angst haben darf. Sie war unberechenbar in ihren Angstzuständen. Sie konnte, ohne es zu wissen, jemand einen Gegenstand über den Kopf schlagen. Ein paar Sekunden danach würde sie da stehen und alles nicht begreifen können.

Sie schaute auf die Uhr. Das hatte sie wieder gelernt, die Zeit zu lesen.
Sie lernte den Tag in Zeit aufzuteilen und sich danach ein Raster für ihre kleinen Tätigkeiten zu schaffen, aber die Bedeutung der Zeit hatte sie noch nicht begriffen. Sie meinte, die Zeit würde nur ihr gehören und nicht den anderen auch.
Die Zeit war ihr bester Freund und Ratgeber, gab ihr Sicherheit. Die Zeit führte sie durch ihr zerwühltes Leben.

Erschöpft stand sie vom Stuhl auf und noch in Gedanken vertieft, ging sie zu ihrem Spiegel. Sie strich mit den Händen über ihr Kleid, drehte sich einmal um die Achse um zu schauen ob hinten auch alles stimmt, und zupfte ein paar mal an ihrem Haar.

Anschließend ging sie in die Küche, füllte den Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd.
Die Herdplatte schaltete sie nicht ein.
Sie holte zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie zusammen mit dem Zucker und den kleinen Löffeln auf ein Tablett. Einen kurzen Blick warf sie durch die Küche und war mit sich zufrieden. Alles war an seinem Platz.

Der Gong an der Tür riss sie aus ihren Gedanken.
Sie strich noch einmal mit den Händen über ihr Kleid, versuchte sich zu konzentrieren und ging auf die Tür zu.
Für einen Augenblick verharrte sie noch.
‚Bloß keine Angst haben’, dachte sie.
Sie drückte die Türklinke herunter, machte die Tür auf und sah einem Mann in die Augen. Ein Mann mit grauem Haar
lächelte sie freundlich an, weiße Rosen in der einen Hand und in der anderen eine Tasche. Mehr sah sie nicht.
„Guten Tag, Alice. Ich habe angerufen, dass ich Dich heute Nachmittag besuchen komme“, sagte er freundlich. „Kannst du dich erinnern?“

‚Er redet soviel und gibt mir keine Zeit zum Antworten’, dachte sie.
„Guten Tag“, sagte sie, machte einen Schritt zurück und lud ihn mit einer Handbewegung ein, hereinzukommen.
‚Wer ist dieser Mann? Was will er von mir?’ fragte sie sich während sie die Tür schloss

Sie war überrascht. Der Mann ging ohne auf sie zu warten und ohne sie zu fragen den direkten Weg auf die Küche zu. Er wusste genau, wo es lang ging. Er wusste welche Tür er aufmachen musste und er wusste, wo ihre große Blumenvase versteckt war.
Er griff hinter den Karton, der in der Ecke stand und holte die blaue Keramikvase raus, ließ Wasser einlaufen, löste das Rosengebinde und steckte den ganzen Rosenstrauß in die Blumenvase.
Sie stand in der Küchentür und dachte nach. ‚Er kennt meine Wohnung. Woher nur?
Sie verspürte keine Angst wie bei anderen Fremden. Im Gegenteil, sie empfand eine Art Erleichterung, Zufriedenheit in sich. Die Bewegungen des Mannes kamen ihr vertraut vor, die Gangart, die Armbewegungen einfach die ganze Gestik. Er setzte er sich auf die Bank hinter dem Küchentisch und schaute sie an.

Sie war verunsichert. Er schaute sie an in der Erwartung, dass sie irgendetwas sagte.

Verlegen nahm sie den Teekessel vom Herd und goss das kalte Wasser in die Tassen. Als sie das Wasser in der Tasse sah wusste sie, dass irgendetwas nicht stimmte, sie wusste aber nicht was. Sie setzte sich neben ihn.
‚Was stimmt mit diesen Tassen nicht?’ versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Vergaß ganz, dass sie nicht alleine war, dass er, den sie nicht kannte neben ihr saß. Sie traute sich nicht ihn zu fragen. Sie hatte Angst vor Antworten.

Sie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten und grub ihre Fingernägel in ihre Handflächen bis sie einen Schmerz fühlte. Sie konzentrierte sich, hielt den Atem an und wünschte sich: ‚Bloß die Angst nicht siegen lassen!’

Er saß neben ihr und schien ihren Kampf mit sich selbst nicht zu bemerken. Er legte die Tasche neben sich, holte ein Fotoalbum heraus und schlug es auf.

Sie sah die Bilder, von Kindern und Erwachsenen, sie spielten auf einer Wiese, saßen im Sand.
Sie sah das kleine Mädchen auf dem Fahrrad, das fröhlich lachte. Sie sah eine junge Frau mit zauberhaftem Lächeln, Hand in Hand mit einem jungen Mann, der sie liebevoll anschaute.
Sie sah sie alle und kannte keinen einzigen.

‚Wer sind diese Frauen, Männer und diese Kinder, die so fröhlich und lebenslustig sind?’ fragte sie sich. Nichts sagten ihr diese Bilder, nichts regte sich in ihrem Kopf, kein Hauch einer Erinnerung kam in ihr auf.

Sie saßen über eine Stunde am Tisch, der Mann blätterte Seite für Seite im Album um. Nicht nur einmal tat er das.
Er erzählte ihr zu vielen Bildern eine kleine Geschichte über die Zeit, in der das Bild entstanden war. Über die Gegend, über die Menschen auf dem Bild.
Als er das Album schloss und es wieder in seine Tasche steckte, sah sie in seinem Gesicht viel Traurigkeit.
Es war nicht mehr das fröhliche Gesicht, das sie in der Tür sah, als er kam.
Das Gesicht war müde und traurig geworden, die Augen waren leer.
Sie machte sich keine Gedanken, sie kannte diesen Blick aus ihrem Spiegel.

Er stand auf, schaute sie mit seinen traurigen Augen an und sagte: „Ich werde wieder gehen, danke für den ausgezeichneten Tee.

Er nahm seine Sachen und ging genauso sicher den Weg zur Tür zurück, wie er hereingekommen war.
An der Tür drehte er sich nochmals um, nickte kurz zum Gruß und schloss die Tür hinter sich.
Sie hörte seine Schritte im Flur, wie er die Treppe hinunter ging, sie hörte noch wie die Haustür ins Schloss fiel.

Sie war wieder alleine, sie fühlte sich wohler, wenn kein Fremder in ihrer Nähe war.
Sie schaute auf die Uhr. 17 Uhr zeigte sie.
Um 17 Uhr trank sie jeden Tag ihren Tee und aß dazu ein Stück Marzipanschokolade.
Sie liebte Marzipanschokolade.

Auf dem Parkplatz vor dem gelben Haus stieg ein grauhaariger Mann in einen Wagen, legte seine Tasche auf den Rücksitz, setzte sich hinter das Lenkrad und starrte nach vorne durch die Windschutzscheibe.
„Nichts hat sie erkannt, gar nichts, Fremde sind wir für sie, fremd und unerreichbar ist unsere Tochter für uns geworden“, sagte er zu seiner Frau.
Sie saß ohne jede Regung da. Sie weinte nicht, sie weinte schon lange nicht mehr. Sie hatte es längst aufgegeben, diese hoffnungslosen Versuche, ihre Tochter wieder zurück ins Leben zu bringen.

Er ließ den Wagen an und fuhr an der gelben Wand entlang, hinter der seine einzige Tochter mit ihrer Zeit lebte, bog an der nächsten Kreuzung ab nach Osten, zum Meer.



[©animus]
 
B

Burana

Gast
Hallo animus,
Du hast den inneren Zustand dieser Alice wirklich sehr einfühlsam beschrieben. Was auch immer sie dahin gebracht haben möge... Ich kann bei Deinem Schluss auch sehr gut nachfühlen, was in den Eltern vorgeht. Sie können einfach nur versuchen, ihr eigenes Leben weiter zu leben, auch wenn es so hoffnungslos ist, was ihre Tochter betrifft.
Mir gefällt Deine Geschichte, weil sie sehr sensibel mit einem sehr sensiblen Thema umgeht.
Liebe Grüße, Burana
 

animus

Mitglied
Hallo Burana,
ich danke Dir für den sensiblen Umgang mit meiner Geschichte.
Alice, wird irgendwann mal ihr Geheimnis lüften, was sie dahin gebracht hat.
Lieben Gruß
animus
 
B

Burana

Gast
Oh, darauf bin ich gespannt. Danke für den Hinweis und nicht vergessen!
Liebe Grüße, Burana
 

kata

Mitglied
Hi, Animus
eine spannende Geschichte hast du da konstruiert. Die Fragen, was ist Raum, was ist die Zeit, muß jeder für sich definieren, bewußt oder unbewußt durch das eigene Leben irren oder sich lebendig begraben zu lassen.

Alice ist einzigartig in ihrer Rolle, sind wir das nicht alle? Beherrscht uns die Angst, so kann sie auch jeden rationalen Menschen unberrechenbar machen und in ihren Netz einweben und da passiert leicht, dass wir die Wirklichkeit aus den Augen verlieren und uns eigene kleine irre Welt schaffen, in der die Fremden nur geduldet werden oder gar kein Platz mehr für sie existiert.

Ganz liebe Grüße Dir
Kata
 

animus

Mitglied
Hallo Kata,
ich danke Dir für Dein Kommentar.
Ich irre lieber durch das Leben als lebendig begraben zu werden. Bei "Alice" ist anders... Es wird eine Fortsetzung geben.
Liebe Grüße
animus
 



 
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