Alles Schwindel

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Schwindel. Übelkeit. Brechreiz. Ist es bei mir jetzt so weit? Wie seinerzeit Proust beim Besuch einer Ausstellung alter holländischer Meister, so erlitt auch ich eine Schwindelattacke; allerdings im Bett und gleich zwei innerhalb von sechs Tagen. Schwindel am Morgen bringt Kummer und Sorgen.

Der zweite Vorfall überraschte mich am Urlaubsort, in einer süddeutschen Pension, morgens beim Aufstehen. Drehschwindel, wie soll man das beschreiben? Man vollführt eine banale Bewegung und dann fliegen die Möbel scheinbar durch den Raum, wie die Elemente eines Kettenkarussells. Die einfachsten Verrichtungen wie Duschen und Ankleiden werden zu fast unlösbaren Aufgaben. Beim Rasieren überkam mich das große Würgen. Endlich konnte ich doch frühstücken und mit der Bahn in die nächste größere Stadt fahren.

Dreieinhalb Stunden verbrachte ich in jener HNO-Praxis. Warten, mich untersuchen und die Tests über mich ergehen lassen, die Ergebnisse besprechen. Ich war kein eingebildeter Kranker. Im Schwindeltest lag „die vestibuläre Erregbarkeit unter der Norm“. Der Doktor, in meinem Alter, mit schütterer Pferdeschwanzfrisur, erklärte mir: „Ihr Innenohr wird durch Schäden an der Halswirbelsäule nicht genügend durchblutet.“ Er entwickelte eine Theorie, wonach das Pensionsbett und die ungewohnte Lagerung meines vornehmsten Körperteils Schuld seien. Und richtig, schon der erste Anfall hatte mich in einem fremden Bett ereilt. (Ich fühle mich jetzt zu schwach, irrige Vermutungen über meinen Lebenswandel zu entkräften.)

Der Doktor lehrte mich eine Eigenmassage der Halswirbelsäule und verschrieb ein durchblutungsförderndes Mittel. Gegenwärtig zögere ich noch, es einzunehmen – wegen seiner häufigen Nebenwirkungen: Schwindel, Übelkeit. Hatten wir schon. Und die blutdrucksenkende Wirkung ist auch unerwünscht. Ich bin Hypotoniker, will nicht als lebende Leiche herumschleichen.

Ich bekam einen Arztbrief für die Heimat mit. Beim Lesen geriet ich ins Grübeln. Beide Ohren seien äußerlich o.B., also ohne auffälligen Befund. Da fiel es mir wieder ein: Er hatte mir zwar in Rachen und Nase gesehen, nicht jedoch in die Ohren. Oder sollte sich die bei mir vorliegende Mangeldurchblutung schon auf Gehirn und Wahrnehmungsvermögen ausgewirkt haben?

Ferner las ich: „Im Rachen Zustand nach TE.“ Das hieß doch Tonsillektomie, also Mandelentfernung. Tatsächlich sind mir die Mandeln bisher nicht herausgenommen worden. Mein lieber Weißkittel, das müsste ich doch wissen! Andererseits fielen mir jetzt so unschöne Dinge wie Demenz und progressive Paralyse ein. Kann ich mir wirklich sicher sein, meine Mandeln noch zu besitzen? Mache ich mich lächerlich, wenn ich wegen dieser Schwindel erregenden Frage einen weiteren Arzt aufsuche?

Ich zweifle, also lebe ich noch. Ich zweifle jetzt besser an allem.

(Nachtrag: Ich habe in einem Vergrößerungsspiegel nachgesehen: Sie sind noch da.)
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Arno,

wie ich letztens schon mal unter Ciconias mittlerweile gelöschtem Artikel schrieb: Solche Texte geben sehr viel Persönliches preis. Für mich entspringt der vorliegende eher der persönlichen Sorge, es möge etwas nicht stimmen. Doch was soll der Leser damit anfangen?

Trotzdem nehme ich den Text mal unter die Lupe. Der Stil ist wie immer bei Dir schnörkellos und verständlich. Da gibt es nichts zu meckern.

Eher inhaltlich. Hier

Die einfachsten Verrichtungen wie Duschen und Ankleiden werden zu fast unlösbaren Aufgaben.
Einspruch! Das sind keine einfachsten Verrichtungen, eigentlich eher sehr komplexe Handlungsabläufe.


Der Doktor, in meinem Alter, mit schütterer Pferdeschwanzfrisur,
Soll das ein gewisses Abweichen von der Norm ausdrücken? Ein eher unkonventionell daher kommender Arzt? Wird jedenfalls suggeriert. Hätte man weglassen können.


Der Doktor lehrte mich eine Eigenmassage der Halswirbelsäule und verschrieb ein durchblutungsförderndes Mittel. Gegenwärtig zögere ich noch, es einzunehmen – wegen seiner häufigen Nebenwirkungen: Schwindel, Übelkeit. Hatten wir schon. Und die blutdrucksenkende Wirkung ist auch unerwünscht. Ich bin Hypotoniker, will nicht als lebende Leiche herumschleichen.

Den Fehler machen sehr viele Patienten: Sie nehmen das verordnete Mittel nicht ein! Wie soll alles dann besser werden? Die Nebenwirkungen müssen ja nicht eintreten. Außerdem 'verrätst' Du Deinen Status als Hypotoniker. (Ich dachte schon, da steht Hypochonder. :) Ehrlich gesagt - das geht keinen etwas an.



Ich bekam einen Arztbrief für die Heimat mit. Beim Lesen geriet ich ins Grübeln. Beide Ohren seien äußerlich o.B., also ohne auffälligen Befund. Da fiel es mir wieder ein: Er hatte mir zwar in Rachen und Nase gesehen, nicht jedoch in die Ohren
Nun, wenn der Arzt nicht IN die Ohren gesehen hat, aber sie sehr wohl wahr genommen hat, stimmt sein Befund ja, dass die Ohren ÄUßERLICH in Ordnung sind. :)

Ferner las ich: „Im Rachen Zustand nach TE.“ Das hieß doch Tonsillektomie, also Mandelentfernung. Tatsächlich sind mir die Mandeln bisher nicht herausgenommen worden. Mein lieber Weißkittel, das müsste ich doch wissen! Andererseits fielen mir jetzt so unschöne Dinge wie Demenz und progressive Paralyse ein. Kann ich mir wirklich sicher sein, meine Mandeln noch zu besitzen? Mache ich mich lächerlich, wenn ich wegen dieser Schwindel erregenden Frage einen weiteren Arzt aufsuche?

Wenn sich der Arzt hier vertan hat, wäre das natürlich nicht gerade förderlich für seine Berufsehre. Sich gleich selbst der Demenz zu bezichtigen, ist Quatsch. Und natürlich musst Du den Heimatarzt aufsuchen.

Es kann aber auch sein, dass der gesamte Text ein Schwindel ist. :)

Du wirst mich sicher aufklären.

Mit Gruß,
DS
 
Danke, Doc, für ausführliche Beschäftigung mit dem Text. Von mir nur kurze Statements zu deinen wesentlichen Punkten (hitzebedingt):

1. Es ging grundsätzlich um Erfahrungen mit HWS-Veränderungen, die im Alter weit verbreitet sind, sowie mit fachärztlicher Konsultation deshalb (hier positiv und negativ), das Ganze in einem halb scherzhaften Ton.

2. Für den gesunden Menschen sind Duschen und Ankleiden reine Routinevorgänge, die schnell ablaufen und keine besondere Konzentration erfordern.

3. Ja, der Arzt ist äußerlich bewusst so wie von dir empfunden charakterisiert worden. Dem Leser ist freigestellt, daraus Schlüsse zu ziehen oder es nicht zu tun.

4. Richtig, eigenmächtige Nichteinnahme von Verordnetem ist kritikwürdig. Der IE ist kein Musterpatient. Der Hinweis auf Hypotonie gehört wohl zu den eher nebensächlichen Fakten, die schon preisgegeben worden sind. Der IE ist kein Musterdatenschützer seiner selbst. Hier erläutert die Hypotonie den Verzicht auf die Einnahme des Medikaments. Datenschutz ist ein Recht, das das Individuum einfordern kann, es ist keine Verpflichtung zur Selbstzensur.

5. Die fehlende Inspektion des Innenohres sowie die fälschliche Feststellung, die Mandeln seien entfernt, sprechen klar für flüchtige, oberflächliche Untersuchung. Auf der anderen Seite war die praktische Beratung (Kopf nie mehr flach legen) genau richtig. Nochmaliges Auftreten der Beschwerden konnte dadurch vermieden werden, folglich auch weitere ärztliche Konsultation.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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