Alles an einem Tag oder "jut druff"

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flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Alles an einem Tag
oder
„Jut druff“

Ich sitze gemütlich beim Frühstück. Die Feine Leberwurst schmeckt wieder prima. Aber wenn ich an den Traum denke, den ich vor dem Aufwachen hatte, könnt mir schlecht werden.
Wieder einmal war ich – ich möchte nicht zählen, zum wievielten Male – mit diesem hübschen kleinen Mädchen unterwegs. Ich weiß nie, ob es ein Nachbarskind ist, meine Freundin, meine Tochter oder ob ich’s gar selber bin. Jedenfalls ist mir die Gesellschaft nicht unangenehm oder gar lästig. Sobald wir in irgendwelche Situationen kommen, löst es sich sowieso in Luft auf. Diesmal war sie noch bei mir, als ich plötzlich im Nachthemd auf der Straße stand. Es war ein sehr schönes, zartblaues Gewand, reich mit Spitze verziert und unglaublich voluminös. Es war ein durchscheinender Stoff, doch kein Auge konnte durch die Stoffmasse hindurch meine Haut sehen. Die Kleine verschwand erst, als ich feststellte, daß ein dicker Exkrementklut auf meinem Bauch klebte. Pfui und noch mal pfui! Klar, daß ich entsetzt aufwachte.
Ach, was träumt man doch nicht alles für Schund zusammen! Nu ja, das Leben geht weiter. Also reingebissen in die Leberwurststulle. Heute ist Montag, da kommt auf Arbeit allerhand auf mich zu.
Ich hab schon die Schuhe an, da läutet das Telefon. Unwirsch melde ich mich. Am anderen Ende ist mein lieber Bruder. Wir sprachen letztmalig zu Neujahr miteinander. Ich freue mich riesig, daß er außer der Reihe anruft und wir schwätzen einige Minuten, bis ich Schluss machen muß, weil ich sonst zu spät ins Büro komme. Innerlich trällernd und äußerst „jut druff“ verlasse ich die Wohnung. Ich fahre mit Straßenbahn und Bus bis zur Arbeitsstelle, ganz vertieft in Jugenderinnerungen, und wie ich aufschließen will, bemerke ich, daß ich den Schlüssel nicht dabei habe. Er hängt noch an dem Schlüsselbrett, welches meine Tochter damals im Werkunterricht gebastelt hatte.
Bevor ich laut „Scheiße!“ schreie, überlege ich: Taxi fahren ist billiger als zwei Stunden Lohneinbuße und Prestigeverlust beim Chef. Der Taxistand ist gleich um die Ecke. Also rein in so ne teure Karre, nach Hause, Schlüssel fassen, dem Fahrer erklären, daß es einen kürzeren Weg gibt als den, den er eben nahm, seine dämlichen Widerworte runterschlucken, ohne Trinkgeld zu geben zahlen und endlich – mit 50 min Verspätung – die Arbeit aufnehmen.
Das Theaterbüro ist total verqualmt und überall stehen Gläser mit Neigen herum. Alle Aschenbecher und Mülleimer quellen über. Ich räume auf und schimpfe knurrig über die versoffenen Künstler und ihre Fans sowie über den Menschen, der in diesem Hause den Tresen führt. Allesamt eine rücksichtslose Bande. Sie wissen doch alle, daß ich nicht trinke und nicht rauche, ja, daß ich an manchen Tagen sogar überaus allergisch auf Tabakrauch reagiere und dennoch finde ich jeden Montag das Büro in so einem Zustand vor. Na danke! Erst vergesse ich den Schlüssel, dann fährt der Taxifahrer Mäander, dann ist das Büro – zum Donnerwetter, hier wird GEARBEITET! – in einem solche Zustand . . . mal sehen, was sich sonst noch findet. Über den schmutzigen Fußboden rede ich gar nicht erst. Damentoilette: brennt Licht. Herrentoilette: nicht gespült, weder P-Becken noch die Schüssel. Garderobe: brennt Licht. Das sind alles Sachen, die der Abenddienst hätte sehen und darauf reagieren müssen. Aber es nützt ja nichts, dem Intendanten Meldung zu machen. Außer mir sind alle aus Freud am Spaß hier tätig.
Darum wundere ich mich auch nicht darüber, daß der Anrufbeantworter gestern Abend nicht abgehört wurde. Ist aber zum Glück nur Schnee vom vorigen Jahr darauf. Mit einem Seufzer widme ich mich nun meiner eigentlichen Tätigkeit: der Werbung. Ich stelle fest, daß sowohl „TIP“ als auch „Zitty“ den Text, den sie von mir erhalten hatten, willkürlich veränderten. Ja, denken die denn, ich bin blöd? Die Gruppe, die am Sonntag spielt, heißt wirklich „Tantz in Gartn Eydn“ und die Band am Montag heißt „Di grine Kuzine“, das ist mittelhochdeutsch und jiddisch. Und die denken, ich hätts falsch geschrieben! Ungebildetes Zeitungspack!
Obendrein erlaubt sich in der Berliner Zeitung auch noch ein Reporter, eine schlechte Kritik von unserem letzten Stück zu schreiben. Ja, hat der denn Tomaten auf den Augen, den Ohren und dem Hirn? Hat der die vielen liebevollen Details nicht mitbekommen, den Mutterwitz und hintergründigen Humor? Und wie überaus passend die Musik ausgesucht worden ist, hat er auch nicht erwähnt. Nur in einem hat er Recht – die Hauptdarstellerin näselt ein wenig. Nichtsdestotrotz liefert sie geradezu eine Paraderolle ab. Das werde ich ihr sagen, vielleicht ärgert sie sich dann weniger. Sie soll doch abends auf der Bühne wider „jut druff“ sein.

Ach, wie schön war es, als ich selber noch aus Freud am Spaß hierher kam und alles sauber gemacht habe! Sogar Zeit für Scherze hatte ich. Besonders angetan war ich von dem Beleuchter der Gruppe xxx. Der war wie geschaffen zum necken! Einmal hab ich ihn sogar in den Po gekniffen, hihihi. Doch dann sagte der junge Mann stirnrunzelnd: „Könn se sich nich ihrem Alter entsprechend benehmen?“ Jaja, die Jugend hat es gut. Die benimmt sich immer ihrem Alter entsprechend, egal, was sie tut. Aber wenn man die 50 überschritten hat, dann soll man wohl langsam alle Lebensfreude ablegen, wat?!

Ich bin gar nicht mehr „jut druff“.
Kaum habe ich den ersten Ordner aufgeschlagen, um die Werbung für unsere nächste Premiere vorzubereiten, kommt eine Gruppe Touristen ins Haus und will x Fragen beantwortet haben. Das passiert hier jeden Tag mehrmals, warum soll es heute anders sein? Zu Feierabend blicke ich zurück auf etliche Telefonate und abgesendete Faxe, eine druckfertige Werbeseite, einen Berg erledigten Abwasch, ein sauberes, aufgeräumtes Büro und unendlich viele beantwortete Touristen-Fragen. Das ist nicht viel. Am Abend werden sie wieder lästern: „Wat macht die hier bloß den janzen Tach? Wofür kricht die Jeld?“ Ich habe Kopfschmerzen und bin echt nicht „jut druff“.

Ich trete den Heimweg an. An der Ecke vor dem Theater jongliert einer mit drei Keulen. Neben ihm steht ein strahlend lächelndes blondes Mädchen und hält den Leuten einen Hut entgegen und fordert mit munteren Worten auf, etwas hineinzutun. Auf der anderen Seite liegt ihr großer Hund hechelnd in der Sonne. Ich denke bei mir: jaja, heute biste noch wahnsinnig verknallt in den Künstler, warte nur, bald kommt die Ernüchterung! Und während ich das noch denke, sag ich schnodderig: „Ich geb nur Geld, wenn der Hund auch jongliert.“
An der Kreuzung laufen wieder einmal etliche junge Menschen bei rot über den Damm. Hinter mir empört sich ein altes Ehepaar darüber. Ich drehe mich halb um und sage: „Nu, die fühlen sich eben alt genug, um zu sterben.“ Der Mann lacht, die Frau aber schimpft weiter.

Der Bus kommt und es entsteht ein ziemliches Gedränge, jeder will mit und alle wollen vorn stehen bleiben. In der Mitte gähnende Leere. Ich bin fast als letzte eingestiegen und will, da ich n ganz schönes Stück zu fahren habe, bequem stehen, wenn schon sitzen nicht möglich ist. So drängele ich etwas gegen die vor mir stehende Mutter mit ihrem etwa fünfjährigen Töchterchen. Sie empört sich: „Müssen se so schieben? Ick hab hier n kleenet Kind, und wenn Sie det nich sehn, denn kann ick Sie det zeijen!“ Ich zeigte ihr, daß in der Mitte noch Platz ist und bat sie, durchzutreten. Sie entgegnete: „Nee, ick will neechste Schtatzjon wieder raus!“ Na, da war sie bei mir an die richtige geraten! Ich erhob nun auch meine Stimme wie sie: „Wat, Sie wolln neechste Schtatzjon wieder raus? Da schteicht man als letzter ein! Wat sind Sie denn für n Vorbild for det Kind!“ Sie brabbelte noch etwas, ich reagierte nicht darauf.

Auf der vielbefahrenen Straße, wo der Bus sonst zügig vorankam, gerieten wir heute in einen Stau. Ein PKW war gegen eine Straßenbahn gefahren. Zwei verhüllte Körper wurden in die Ambulanz getragen. Ein Mann neben mir sagte zynisch: „Da haben wir wieder mal zwee Rentner eingespart.“ Sofort drehte sich ein anderer Mann zu ihm um und sagte scharf: „Das verbitte ich mir, daß Sie mich hier für einen tragischen Unfall mitverantwortlich machen.“ – „Davon hab ick doch jarnischt jesacht“, entgegnete der erste. „Nein, Sie sagten: wir haben zwei Rentner eingespart. Also, ich war daran nicht beteiligt.“ Na, der war „jut druff“!
Später an der Straßenbahnhaltestelle, wo ich gewöhnlich lange Zeit auf meine Bahn warten muß, fiel mein Blick auf vier wohlgemute Teenager. Sie unterhielten sich darüber, welche Bahn wohl zuerst kommt und zeigten dabei in die entsprechende Richtung: „Erst kommt die, dann kommt die, dann kommt die und dann kommt die.“ Eine andere sah das anders und sagte: „Nee, erst kommt die . . .“ Derselbe Text, nur mit anderer Betonung und anderer Richtungsweisung. Die dritte hatte natürlich auch ihre eigene Meinung und gab eine weitere Variante zum besten. Nun muß ich endlich erwähnen, daß es sich um eine Straßenbahnkreuzung handelte, aus vier Richtungen konnte eine Bahn kommen. Das vierte Mädchen klatschte plötzlich in die Hände und begann zu dem Streit der Freundinnen zu tanzen. Bald hatten sie sich untergehakt und führten eine Art Volkstanz auf zu ihrem selbst erfundenen Lied, drehten sich im Kreis und schwenkten die Beine. Danach wollten sie sich ausschütten vor Lachen. Mann, sind die „jut druff“! Zum ersten mal war mir das Warten auf die Bahn kurzweilig!

Endlich aussteigen. Nur noch hundert Meter bis zu meinem Wohnhaus. Nur noch eine Ampelschaltung abwarten. Auf der anderen Straßenseite stakst eine alte Frau auf die Kreuzung zu. Stakst? Nee, die schwebt ja beinahe! Was hat sie für ein liebliches Lächeln auf den Lippen! Warum is die jut druff? frage ich mich mürrisch und schon platzt ihr der Einkaufsbeutel und sie verliert die eben gekauften Balkonblumen. Sie hat sie gewiß aus dem Blumengeschäft fast an der Ecke. Da hab ich kürzlich auch Balkonblumen gekauft und weiß daher, daß es dort nur zwei Verpackungsarten gibt: entweder Papier oder diese äußerst dünnen Plastbeutel. Die halten nur von zwölf bis Mittag, darin kann man keine Pflanzen mit Erde dran transportieren. Traurig schaut sie auf die gelben Stiefmütterchen. Ja, genau solche hab ich auch gekauft. Aber ich hab immer einen Stoffbeutel bei mir und heute außerdem eine Plasttüte von Hertie. Die holte ich hervor und half der alten Dame, ihren Einkauf wieder sachgerecht einzutüten. Dankbar lächelte sie mich an und bittersüß erinnerte ich mich an den Slogan der Pfadfinder: Jeden Tag eine gute Tat!

In meinem Wohnhaus angelangt, schaute ich natürlich in den Briefkasten. Nischt drin. Kein Brief, keine Werbung und vor allem – keine Zahlungsaufforderung. Die letzten Unmutswolken verließen meine Stirn. Leichten Schrittes betrat ich mich meine Wohnung. Der erste Blick galt dem Anrufbeantworter. Er blinzelte mich an. Aha, eine Nachricht! Was, der Troyke lädt mich zu seinem Konzert heute Abend ein? Da geh ich selbstverständlich hin! Jetzt bin ick ooch wieder „jut druff“!
 



 
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