Alles hat Geschichte

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chrissieanne

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Sie öffnet den Kühlschrank. Er ist völlig leer, bis auf eine Bierflasche.
Regine verharrt einige Sekunden regungslos und starrt auf die Flasche. Langsam beugt sie sich hinunter und holt das Getränk heraus.
Sie richtet sich auf, schließt die Kühlschranktür. Wieder bleibt sie einen Moment stehen - paralysiert.
Dann geht ein Ruck durch ihren Körper. Sie dreht sich um, und schreitet durch die leere Wohnung. Die Flasche gebettet in ihre Handflächen, als sei sie ein heiliger Gral.
Neben der Wohnungstür liegt ihr schwarzer Rucksack. Sie dreht sich mit dem Rücken zur Wand und rutscht langsam an ihr herab.
Sie schaut durch die offene Flügeltür.
Die großen Fenster ihres Schlafzimmers zeigen ihr die riesige Kastanie, die in voller Blüte steht. Lange schaut sie das vertraute Bild an. Dann senkt sie ihren Blick hinunter auf das Bier.

Sie hat viel Bier getrunken in ihrem Leben. Bier und Wein. Keinen Schnaps, der war ihr zu roh und gewalttätig. Im Geschmack und in der Wirkung.

Sie liebte es zu trinken.
Die ersten Gläser schmeckten wunderbar, und der leichte Rausch nahm die Schwere und Angst von ihr, die sie immerzu niederdrückten und nicht leben ließen. Später dann, nach vielen Gläsern, war der Geschmack gleichgültig und die Schwermut wieder über ihr. Doch ihre Gestalt war verändert. Sie war dunkel, gewaltig, allumfassend - aber beweglich, und oft ganz weich und warm. Tränen und Worte konnten fließen und manchmal höhlten sie ein kleines Loch in das Dunkel, und Bilder von Möglichkeiten und Hoffnung traten ein.
Am Tage, im nüchternen Zustand, war die Schwere brutal. Ein Korsett aus Eisen, in dem jede Bewegung weh tat und kein Licht Zugang hatte.
Sie hat immer erst am Abend getrunken. Wirklich gehengelassen hat sie sich nie. Auch nicht nach der Entscheidung.
Der Alkohol hat sie jeden Abend erlöst. War ein sanfter Zauberer, der das Eisenkorsett von ihr nahm, sie kurze Zeit frei atmen ließ, um ihr dann eine schwere, schwarze Samtkutte anzulegen.
Ihm hat sie ihr Gesicht geopfert. Es war das Kostbarste was sie besaß, weil sie sonst nichts an sich mochte.
Sie schaute zu, wie er es mit den Jahren immer mehr zerstörte.
Nun muß sie es nicht mehr anschauen. Der Trödler hat gestern fast alle Möbel abgeholt. Auch den Spiegel.
Nur der Kühlschrank und ein alter Sessel sind noch in der Wohnung.
Sie hat alles von langer Hand vorbereitet. Die Zeit dazu war da. Viel Zeit.
An einem grauen Mittwochmorgen, sie weiß es noch genau, es war der 15. August, hat sie den Beschluß gefaßt: Ich gebe auf. Ich will nicht mehr, ich gehe!
Ich kämpfe nicht mehr gegen meine Lebensangst, meine Defizitgefühle und Einsamkeit. Ich kämpfe nicht mehr um Zugehörigkeit, Identität und Lebensfreude. Ich gebe auf und warte.
Warte auf den Tag, an dem es möglich ist zu gehen.
Das war vor zehn Jahren, da war sie vierzig Jahre alt.
Ihre Eltern sind nun gestorben. Nie hätte sie ihnen das angetan. Auch wenn sie keinen Kontakt mehr hatte. Das spielt keine Rolle. Es bleiben immer die Eltern.

Die Mutter starb vor fünf Jahren an Krebs. Es ging schnell. Sie mußte nicht lange leiden. Sie durfte 8o Jahre leben. Ein langes Leben, ein kurzes Sterben. Das macht die Trauer leichter. Der Vater starb letztes Jahr. Er schlief einfach ein. Legte sich in das leere Ehebett, und wachte nicht mehr auf. Besser kann es nicht sein.
Manchmal wird es einem leicht gemacht.
Regine war sich sicher, daß er nach Mutters Tod auch nur noch gewartet hat.

Nach dem Tod des Vaters hat sie angefangen die praktischen Dinge zu erledigen, die nötig waren.
Als erstes die Wohnung gekündigt. Danach hatte sie sechs Monate Zeit ihren Haushalt aufzulösen. Sie mußte ja alles alleine machen. Wirkliche Freunde hatte sie nie, und den wenigen näheren Bekannten hatte sie sich nach ihrem Entschluß vorsichtig und langsam entzogen.
Die Dinge, die es Wert waren, versuchte sie zu verkaufen, denn sie brauchte jedes Geld ihre letzten Schulden zu bezahlen. Der Trödler hat gestern gegen Bezahlung den Rest geholt. Persönliches hat sie vernichtet.
Nun ist es soweit. Sie kann gehen, ohne Schmerz und Belastung für die Nachwelt zu hinterlassen.

Regine tritt mit dem Fuß, ohne aufzuschauen, die Flügeltür des Schlafzimmers zu. Nun ist es dunkel im Korridor und sie drückt mit der rechten Hand hinter sich auf den Lichtschalter. Die nackte Glühbirne erhellt den kahlen Flur. Sie nimmt den Rucksack und legt die Bierflasche hinein zu den anderen Utensilien, die sie jetzt noch braucht.
Sie steht langsam auf, dreht sich zur Wohnungstür, öffnet sie, macht das Licht aus und tritt in den Hausflur.
Vielleicht hat sie vergessen ein Fenster zu schließen, denn ohne ihr Zutun kracht die Türe hinter ihr zu.
Der Wohnungsschlüssel liegt auf dem alten Sessel.
Sie geht die Stufen hinunter - hinaus ins Freie.
Die Nacht ist mittlerweile angebrochen. Lauwarme Dunkelheit empfängt sie, eine leicht Brise umspielt ihren Körper. Sie biegt nach links ab, geht über die kleine Brücke und dann wieder links. Die Laternen spiegeln sich im Wasser des Kanals. Sie läuft ruhig und zügig am Kanal entlang. Still ist es, keine Menschenseele weit und breit auf diesem Weg, der am Tage unzählige Menschen buntester Mischung sich begegnen läßt.
Sie schaut aufs Wasser. Weiße Tupfer überall. Schlafende Schwäne. Die Enten sieht man nicht, die Möwen sind irgendwo und still.
Die Abhänge, an denen die Müßiggänger an heißen Tagen unter den Trauerweiden liegen, sind dunkel und leer.
Einmal sieht sie zwei schwarze Körper nebeneinander liegen, ein Kichern, seltsam absurd, tönt herüber.
Bald erreicht sie ihr Ziel. Überquert noch eine Brücke und da ist ihre Bank. Jahrelang hat sie Stunden dort gesessen und gelesen geschaut, nachgedacht.
Sie setzt sich hin, nimmt den Rucksack ab und legt ihn neben sich. Schaut auf das Wasser. Schwarz ist es. Hier sind keine Laternen mehr, und keine weißen Schwantupfer. Dunkelgraue Nacht, schwarze Bäume, die im Wind leise flüstern.
Sie hat Angst. Ja, jetzt ist sie wieder da die Angst.
Die zehn Jahre Leben seit ihrer Entscheidung waren schön. Das Eisenkorsett hat sich gelöst. Als sie aufgehört hat zu strampeln wie ein Hamster in seinem Rad - als sie gesagt hat ich gehe, ich kämpfe nicht mehr, nicht mehr dazugehören wollte, nichts mehr erreichen wollte - da mußte sie nicht mehr leiden. Die Tage hat sie mit Einkaufen, kochen, lesen und spazieren gehen verbracht. Sie konnte die Menschen beobachten ohne Neid und Defizitgefühle. Abends hat sie getrunken und gelesen, Musik gehört und Tagebuch geschrieben. Sie konnte leben ohne zu leiden, weil sie nichts mehr wollte. Nichts mehr erreichen oder überwinden mußte. Sie mußte sich nicht bekämpfen oder rechtfertigen. Sie konnte einfach nur sein.
Aber dieses leise Glück, diese Ruhe war gekoppelt an ihre Entscheidung.
Sie hat Angst vor dem Tod. Sie hatte noch mehr Angst vor dem Leben. Mit der Entscheidung für den Tod hat die Qual aufgehört.
Sie greift sich den Rucksack und öffnet ihn. Sie nimmt die Bierflasche heraus und stellt sie neben sich. Dann holt sie die beiden kleinen Kissen, den Flaschenöffner und die große Packung Schlaftabletten heraus. Die Kissen legt sie rechts neben sich. Sie greift nach der Flasche und öffnet sie. Ein leichtes Zischen, ein wenig Feuchtigkeit läuft ihr Handgelenk hinunter. Sie trinkt einen großen Schluck.
Das tut gut.
Nun nicht mehr nachdenken.
Sie reißt die Packung auf. Drückt eine Tablette nach der nächsten aus der Verschweißung, und spült sie mit einem Schluck Bier hinunter. Nachdem sie sämtliche Pillen in ihren Körper aufgenommen hat, stellt sie die leere Flasche auf den Boden, legt sich auf die Bank, den Kopf auf die Kissen gebettet und schaut in den Himmel gespannt, ängstlich, was nun passieren wird.
Es ist sternenklar, der morgige Tag wird sonnig.
Bleierne Müdigkeit überkommt sie, sie schließt die Augen. Übelkeit steigt auf, schwindlig wird ihr, sie bekommt keine Luft mehr. Sie will sich aufrichten, kann sich nicht bewegen. Panik überfällt sie - schockartig - sie will schreien - kein Ton kommt aus ihrer Kehle. Oh nein!... was hab ich nur getan... helft mir!
Dunkelheit - Leere - Nichts. Dann - nein... Ist es wirklich so?
Sie sieht sich auf der Bank liegen! Sie schwebt über sich! So wie man es in diesen Büchern liest. Ganz leicht, körper -schwerelos. Aber sie denkt und fühlt.
Sie sieht sich da liegen. Minuten Stunden Ewigkeiten? Zeitgefühl hat sie keines mehr. Sie ist nicht traurig oder freudig erregt, doch fasziniert und auch neugierig. Da kommt ein Jogger. Er schaut kurz zu dem leblosen Körper und ist schon wieder weg. Ein älterer Mann mit einem Hund. Es wird langsam hell. Er schaut auch nur kurz. Er kommt zurück. Oder wieder. Es ist taghell. Er schaut wieder. Stutzt. Geht vorsichtig hin und spricht sie an. Sie kann ihn hören! „Hallo! Geht es Ihnen gut?" Rüttelt sie. Sieht die leere Schlaftablettenpackung. Er holt sein Handy raus und telefoniert. Polizei und Sanitäter kommen. Menschen bleiben neugierig stehen. Stimmengewirr. Durcheinander. Irgendwann wird ihr Körper auf eine Bahre gelegt und weggetragen. Die Polizisten räumen die Kissen, den Rucksack, alles fort.
Nur der Kronkorken der Bierflasche liegt im Staub des Weges vor der Bank.
Sie schaut von oben zu und kann es nicht fassen. Was nun?
Das Bild fängt an langsam zu verschwimmen.
Unendliche Wärme umfängt sie und zieht sie sanft fort. Leise Musik und einen Hauch unglaublich schöner Gerüche nimmt sie wahr. Ist es wirklich so? Gibt es diesen Ort der Seligkeit? Kommt bald auch dieses Licht, stärker, heller und gewaltiger als die Sonne, das nicht blendet, sondern sehen macht - die reine Liebe, das wahre Wissen - sehen macht?
Immer noch, während sie langsam hinübergleitet, sieht sie die leere Bank. Ein Pärchen kommt des Weges, in ein Gespräch vertieft. Kurz bevor das Bild ganz verschwindet, hört sie die Frau sagen:
„Das Irre beim Schreiben ist: in dem Moment, in dem du dich anfängst damit zu beschäftigen, begreifst du, daß hinter allem, wirklich allem eine Geschichte stecken kann. Wirklich alles hat eine Geschichte in sich ......selbst.... ja selbst dieser Kronkorken da."
 

knychen

Mitglied
hallo,
eine tolle geschichte. das dramatische, wenn auch vorhersehbare ende noch pointiert umgebogen. nämlich exakt zu dem punkt, an dem aus dem gedanken an diese geschichte eine idee wurde. oder irre ich mich da?
irgendwo in der mitte hab ich kurz die leselust verloren. könnte nicht mal genau sagen, wo. hab mich vielleicht auch bloß ablenken lassen von einer assoziation. von der geschichte in der geschichte. wenn diese stelle gewollt war, ist sie sehr gut gemacht.
gruß aus berlin von knychen
 
Q

Quidam

Gast
Hallo Chrisseanne,

JA, das liest sich doch schon viiiiel runder. Glückwunsch. Nun stimmt auch die Bewertung.;)

*winke*
quid
 

chrissieanne

Mitglied
Hallo kny!
Dank Dir für Deinen Kommentar.
Es war so, daß ich den Satz am Schluß der Geschichte zu einem Bekannten gesagt habe.
Abends habe ich mich dann hingesetzt, und die Geschichte geschrieben. Und die war bestimmt schon vorher in mir.
Schade, daß Du nicht sagen kannst, wo und warum Dich die Leselust verlassen hat. Würde mich schon interessieren.
Auf jeden Fall - es ist schön, daß Dir der Text gefallen hat.
Grüße aus Berlin an knychen in Berlin
chrissieanne

Hallo Quidam!
Das freut mich sehr, daß die Überarbeitung gelungen ist. Vielen Dank noch mal für Dein Engagement.
Liebe Grüße
chrissieanne
 
E

Edgar Wibeau

Gast
Hallo, chrissieanne!

Mich berührt der Text sehr, und Dein Stil gefällt mir. Du erzählst nüchtern, alles wirkt authentisch. Du entwickelst eine Atmosphäre, die erschaudern läßt und eine Spannung, der ich mich nicht entziehen kann. Das für mich unerwartete Ende ist geradezu erschreckend humorvoll.

Gruß

Christian

PS: Sollte es nicht heißen "ein[red]en[/red] unglaublich schönen Geruch nimmt sie wahr"?
 

chrissieanne

Mitglied
hi edgar,
das ist ja wunderbar noch einmal einen kommentar auf eine ältere geschichte zu bekommen. noch dazu einen so positiven.
und mit dem "einen" hast du natürlich recht. ich glaub ich muss da eh nochmal rüber in hinblick auf fehler, wie ich gerade festgestellt hab.
danke dir.
lg
chrissieanne
 



 
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