Alles hat seine Zeit

Heidi

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Es gab eine Zeit, da hatte alles seine Zeit. Zum Winter gehörte der Schnee, meterhoch, zum Sommer gehörte flirrende Hitze mit krachenden Gewittern. Damals gab es erst zum Advent Pfefferkuchen, Spekulatius oder Pfeffernüsse. Und nur in der Silvesternacht gab es Berliner.


Zu dieser Zeit gehörte auch Tante Else. Tante Else, wohlbeleibt mit einem spärlichen, geflochtenen Dutt mitten auf dem Kopf. Tante Else besuchte uns regelmäßig in der Adventszeit. Sie kam mit dem Zug aus dem fernen Schleswig Holstein. Sie war Bauersfrau, wohnte in Klein Vollstedt, direkt an einer mächtigen Eichenallee.

Während unser Vater sie mit dem Moped vom Bahnhof abholte, warteten wir aufgeregt auf unseren Besuch. Wir liefen ständig ans Wohnzimmerfenster, um unseren Gast gleich empfangen zu können. Da endlich hörten wir das Knattern des zweirädrigen Gefährtes. Papa mit Tante Else hinten drauf.

Mit einiger Mühe entstieg sie dem Fahrzeug, schüttelte ihre Kleidung zurecht und kam schnurstracks auf unser Haus zu.

Unter ihrem Mantel trug sie immer dieses Tweed-Kostüm in Pfeffer und Salz. Die Jacke war zu eng und die Rockschöße standen ab wie ein Hoola-Hoop-Reifen. Zu ihrer Kleidung gehörte auch die rehbraune Skaihandtasche die recht groß war. Sicher freuten wir uns auf unsere Lieblingstante, doch ein besonderes Interesse galt dem Inhalt dieser großen Handtasche. Obwohl wir wussten, was darin für uns verborgen war, war die Freude doch immer wieder groß. Tante Else drückte uns fest und herzlich.
„Mein Gott, was seid ihr groß geworden!“ waren ihre Begrüßungsworte.
Ihr besonderes Merkmal waren ihre Herzenswärme und ihre weichen Rundungen.

Schon nach kurzer Zeit nahmen wir einen exotischen Duft wahr, auf den wir nun schon ein Jahr lang gewartet hatten. Wir dachten an die heiligen drei Könige aus dem Morgenland, die ferne Spezereien auf ihrem mühseligen Weg nach Bethlehem brachten und sahen im Geiste unsere füllige Tante mit ihnen gehen.

Dann endlich wurde die gute Stube aufgeschlossen. Mutter zündete die Adventskerzen an und Tante Else packte ihre Tasche aus. Unsere Eltern bekamen eine Schachtel Weinbrand-bohnen und für jeden von uns gab es zwei Apfelsinen. Sie nahm diese Kostbarkeiten aus ihrer Tasche, als handele es sich um Bleikristallgläser. Wir nahmen die Apfelsinen, rochen daran und befühlten die poröse Schale. Das Küchenmesser und ein Teller standen schon bereit. Unsere Lieblingstante schälte sie sorgsam, ritzte die Schale gekonnt von oben bis unten ein und holte die saftige Frucht heraus. Die Schale spritzte und der weihnachtliche Orangenduft verbreitete sich im gesamten Wohnzimmer. Die einzelnen Stücke lagen schön angeordnet auf dem Teller und wir verspeisten sie nach und nach. Es war uns ein besonderes Vergnügen, einige Scheiben von ihrer Haut zu befreien und die kleinen, tropfenartigen Fruchtteile zu bewundern. Anschließend schnüffelten wir an unseren Händen. Selbst am nächsten Morgen haftete ihnen noch dieser wunderbare Duft an.

Tante Else blieb immer eine Woche. Länger war sie nicht abkömmlich. Auch als sie wieder im fernen Schleswig Holstein weilte, nahmen wir diesen Duft noch bis zum Weihnachtsfest wahr.
 



 
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