Alles nur Fassade

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fossie

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Vor mehreren Jahren hatte ich ein Erlebnis, das mein bisher so geordnetes Leben gehörig durcheinander brachte. Nichts war danach mehr wie vorher für mich.
Es begann damit, dass ein neuer Kollege namens Tobias Rurainski in unsere Abteilung kam. Niemand hatte vorher etwas von ihm gehört. Uns gegenüber gab er sich am Anfang verschlossen wie eine Auster, ganz so, als wollte er absichtlich sein gesamtes Privatleben vor uns verbergen.
Er war zwar immer freundlich zu uns und mischte sich ab und zu auch in Gespräche ein, bei denen er vor allem ein großes Allgemeinwissen bewies, trotzdem wollte er nicht als "Klugscheißer" dastehen, wie mir schien.
Trotz seiner eher schüchternen und zurückhaltenden Art war er immer hilfsbereit gegenüber allen.
Sein Aussehen konnte man am besten mit dem Begriff „Graue Maus“ beschreiben, es harmonierte tadellos mit seinem unauffälligen Verhalten.
Er war schlank, um nicht zu sagen mager. Seine Schultern waren schmal wie bei einer Frau. Seine Körpergröße hielt sich in Grenzen, für einen Mann eher zu klein.
Rein äußerlich sah er sehr gepflegt aus, war modisch gekleidet, immer glatt rasiert und hatte kurzgeschnittene schwarze Haare, die oberhalb der Schläfen schon etwas licht zu werden begannen.
Sein Alter konnten wir schlecht schätzen, bis er uns verriet, dass er 26 Jahre alt war. "Das richtige Mannesalter, um eine Familie zu gründen", dachte ich mir.
Ob er allerdings eine feste Beziehung hatte, wusste keiner von uns. Eigentlich sah er, so fanden es zumindest die Kolleginnen, schon attraktiv aus und hätte einer Frau durchaus den Kopf verdrehen können. Seine feinen Gesichtszüge und sein einnehmendes Lächeln verstärkten diesen Eindruck zusätzlich.
Besonders einige jüngere von den Mädels in unserem Team probierten zeitweilig, ihn aus der Reserve zu locken, indem sie ihn neugierig nach seinem Liebesleben fragten. Aber ihr Erfolg war bescheiden, denn er ging nicht darauf ein und versuchte immer schnell, das Gesprächsthema zu wechseln. Fast schien es ihm unangenehm zu sein, so konnte man meinen.
Natürlich gab es hinter vorgehaltener Hand Spekulationen, was er privat treiben könnte. Man hatte ihn zwar schon einmal beobachtet, wie er mit einem uralten Mercedes, bestimmt ein Erbstück seines verstorbenen Vaters, in der Stadt unterwegs war, aber mehr konnte man auch nicht in Erfahrung bringen.
Zumindest war uns bekannt, dass er nicht unweit von seiner Arbeit in einem eigenen Haus wohnte, wobei dessen gepflegter Vorgarten eventuell auf den Rest seines Haushalts schließen ließ.
Gerade deswegen zerbrachen wir uns regelmäßig den Kopf darüber, ob nicht doch die eine oder andere Leiche in seinem Keller versteckt wäre.

Keiner von uns wollte sich selbstredend als neugierig hervortun. Wir sagten uns einfach, wenn er nichts von sich preisgeben wolle, so könne man ihn auch nicht dazu zwingen.
Eines Tages passierte es. Ich ließ mich auf ein Abenteuer ein, von dem ich bis heute nicht weiß, welcher Teufel mich dazu gebracht hatte. Nur eines war klar, mein kleinbürgerliches Weltbild wurde dadurch heftig erschüttert.
Schuld daran waren eigentlich meine Kolleginnen. Bekanntlich sind Frauen von Natur aus neugierig und es ließ ihnen deshalb einfach keine Ruhe, was Tobias Rurainski denn privat für ein Mensch sei,
Sie entwarfen einen verhängnisvollen Plan: Jemand sollte ihm in seiner Freizeit hinterherspionieren, selbstverständlich so unauffällig wie möglich. Nur, wer sollte dieser Jemand sein?
Sie nervten sich gegenseitig, kamen damit jedoch nicht entscheidend weiter. Was blieb, war ihre ungezügelte Neugier.
Ich selbst hatte ihnen nur still zugehört und mich heimlich darüber amüsiert. Natürlich versuchte ich, mich aus dieser Sache herauszuhalten. „Diese dummen Gänse“, dachte ich mir und war froh, dass wenigstens mein Privatleben bis jetzt zu langweilig für sie war. „Man müsste jemanden fragen, der in seiner Nähe wohnt. Ich selber kann es nicht übernehmen, da ich zu weit von ihm entfernt wohne“, meinte Bettina, die jüngste unter ihnen.
Meral, eine türkische Kollegin, kam mit der Ausrede, sie hätte auch keine Zeit für so etwas, da zuhause Mann und Kinder auf sie warten würden. Da wäre sie voll eingespannt.
Daniela, ebenfalls Mutter zweier Kinder und alleinerziehend, meinte resigniert: „Dann können wir das Ganze sowieso vergessen.“

Aber es ließ ihnen jetzt erst recht keine Ruhe und instinktiv spürte ich, dass es an der Zeit für mich wäre, mich langsam aber sicher zu verkrümeln, da die Drei inzwischen fordernd in meine Richtung sahen.
Ich konnte mir genau vorstellen, was jetzt kommen würde. Meine Vermutung stimmte und obwohl ich vorhatte, mich keinesfalls darauf einzulassen, versuchten sie schon, mich zu überreden. Sie bearbeiteten mich solange, bis mir keine passende Ausrede mehr einfiel.
„Schämt euch, ihr seid doch nicht ganz dicht. So etwas könnt ihr doch nicht von mir verlangen, ich bin doch kein Spion. Überhaupt,", wie soll so etwas gehen?“ Es war mein letzter zaghafter Versuch, den Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen, aber dann musste ich mich dem inneren Schweinehund geschlagen geben. „Du willst es doch auch, gib es zu. In deiner Neugier bist du auch keinen Deut besser als sie“, setzte mir eine innere Stimme zu. Ich erinnerte mich an die berühmte Szene, wo ein kleiner Engel und ein kleiner Teufel auf den Schultern sitzend permanent miteinander streiten.
Dieses Mal ging der Teufel als eindeutiger Sieger hervor.
„Na gut, ich gebe mich geschlagen, aber ich brauche eine gewisse Zeit, um mir eine passende Strategie zurechtzulegen.“
Man gewährte sie mir großzügig, ermahnte mich aber trotzdem, mir nicht allzu viel Zeit zu lassen.
„Verdammter Mist, auf was habe ich mich da eigentlich eingelassen?“, kam es mir später in den Sinn, aber ich konnte nicht mehr zurück.
Den Rest des Tages war ich nur noch sauer auf mich selbst.

Es vergingen wieder ein paar Tage und insgeheim hegte ich für mich die leise Hoffnung, man hätte unsere Abmachung vielleicht schon wieder vergessen.
Deshalb dachte ich auch nicht mehr an mein Versprechen und wir kamen alle im Lauf der nächsten Wochen ziemlich darüber hinweg. Es nutzte aber nichts. Als wir nämlich zwischendurch etwas Luft in der Arbeit und dadurch mehr Zeit hatten, brachten sie mir wieder in Erinnerung, was ich mit ihnen abgemacht hatte.
Krampfhaft versuchte ich mich wieder herauszureden und wand mich dabei wie ein Aal im Fischnetz. Es half nichts, man wollte endlich Ergebnisse und das ziemlich schnell.

So kam es, dass ich am Wochenende meinen Rucksack mit ein paar Brötchen und Getränken packte, ihn ins Auto warf und zu Rurainskis Haus fuhr. Ein Buch und eine Zeitung, die zum Verstecken meines Gesichtes dienen sollte, besorgte ich mir unterwegs. Ganz wie in unzähligen Kriminalfilmen setzte ich mir dazu eine Sonnenbrille auf, um nicht erkannt zu werden.
Allerdings kam ich mir ziemlich dämlich vor. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen, ich verstand es nicht.
Ich parkte schräg gegenüber von Rurainskis Haus auf der anderen Straßenseite. Jedes Haus hatte einen gepflegten Vorgarten und alle sahen fast gleich aus. Komisch, warum erinnerte mich dies nur an England?
Ich wusste natürlich nicht, ob mein "Zielobjekt" zuhause war. Bei diesem schönen Wetter konnte es genauso gut möglich sein, dass er irgendwo unterwegs war. Notgedrungen musste ich mich auf einen längeren Aufenthalt an meinem Beobachtungsposten einrichten.
Um nicht gleich erkannt zu werden, öffnete ich nur das Fenster auf der Beifahrerseite meines Wagens.
Neid keimte immer wieder in mir auf, weil alle anderen bestimmt in den Biergärten in der Stadt sitzen würden. Nur ich Depp musste blöderweise den Detektiv spielen. Ich erwartete auch nichts Besonderes von ihm, wahrscheinlich würde er irgendwann in sein Auto steigen und in die Stadt fahren, wie es zehntausende von anderen jungen Leuten an diesem Wochenende tun würden. Vielleicht hätte er ja auch eine Verabredung mit seiner Freundin und die beiden würden sich wundern, wer sie da die ganze Zeit über mit dem Auto verfolgen würde. Bis er dann anhalten und mich zur Rede stellen würde, was das Ganze zu bedeuten hätte. Er würde ein ganz normales Leben führen, da war ich mir sicher. Eigentlich war es überflüssig, was ich hier vorhatte.
Trotzdem ließ ich meinen Blick inzwischen gelangweilt auf Rurainskis Haus schweifen. Durch die hereinbrechende Dämmerung konnte ich erkennen, dass im Erdgeschoss Licht brannte,
Ein Blick auf meine Autouhr verriet mir, dass es inzwischen 21 Uhr geworden war. Wenn nicht langsam nur annähernd etwas geschehen würde, hätte ich mir den Abend umsonst um die Ohren geschlagen. Ich würde mich dann furchtbar darüber ärgern. Immer wieder schimpfte ich vor mich hin, wie ich mich nur auf so einen Blödsinn einlassen konnte.

Endlich erloschen alle Lichter im Haus und es öffnete sich langsam die Eingangstüre. Reflexartig tauchte ich im Auto unter. Dann konnte ich verfolgen, wie jemand die Haustüre schloss und vorsichtig nach draußen durch den Vorgarten ging.
Das musste Rurainski sein, dachte ich. Als diese Person jedoch das Gartentor öffnete und langsam näher kam, war ich überrascht. Es handelte sich nämlich nicht um ihn, sondern eindeutig um eine Frau, die auch noch sehr attraktiv aussah.
"Donnerwetter!", dachte ich mir. So einen Besuch hatte ich ihm gar nicht zugetraut. Seine Besucherin war äußerst verführerisch gekleidet, denn sie trug einen engen dunklen Minirock und eine schwarze enganliegende Lederjacke, die ihre schlanke Figur erst richtig zur Geltung brachte. Ihre schlanken Beine steckten in einer schwarzen Netzstrumpfhose und endeten in High-Heels mit mörderisch hohen Absätzen.
Sie war sehr auffällig geschminkt und hatte eine schulterlange blonde Mähne. Instinktiv ließ es mich vermuten, dass sie bestimmt einem gewissen Gewerbe nachging.
"Der muss es ja ganz schön nötig haben. Ob ich das meinen Auftraggeberinnen verraten soll?", überlegte ich mir.

Madame wechselte nun die Straßenseite und stöckelte direkt auf mich zu. Ich war kurz davor, in Panik auszubrechen und bemerkte, wie mir die ersten Schweißperlen am Oberkörper hinunterliefen. Gerade noch im letzten Moment konnte ich meine Sonnenbrille aufsetzen. Dass es schon dunkel wurde, registrierte ich dabei nicht mehr.
Zum Glück drehte sie dann vorher ab und stieg in ein vor mir stehendes Auto. Bevor sie die Türe öffnete, blickte sie nochmals in meine Richtung. Offensichtlich hatte sie mich entdeckt, unterließ es jedoch, mich anzusprechen. Da sah ich ihr Gesicht. Komisch, es kam mir so seltsam vertraut vor, so als ob …
Aber nein, ich täuschte mich bestimmt, das war doch eine Frau und kein Mann.
Trotzdem stimmte hier irgendetwas nicht und ich würde es herausfinden. Zwar war ich im Moment völlig verwirrt, aber ich redete mir als mögliche Erklärung ein, dass sie vielleicht Rurainskis Schwester sein könnte und nur ihren Bruder besuchte.
Genau, so musste es sein.
Geschwister sehen sich ja öfters ähnlich. Andererseits hatte er auch nie erwähnt, dass er eine Schwester hatte. Wie seltsam, dachte ich mir.

Sie fuhr los und ich konnte nicht anders, als ihr zu folgen. Schuld daran war dieser verführerische Blick, den sie mir vorher zugeworfen hatte. Ich musste in diesem Moment unbedingt herausfinden, was sie vorhatte. Es wurde immer spannender für mich.
Nach etwa zwanzig Minuten waren wir in der Innenstadt angelangt. Sie fuhr in ein Parkhaus und ich wollte sie keinesfalls aus den Augen verlieren. Mein Auto stellte ich auf derselben Parkebene ab wie sie, in sicherer Entfernung von ihr, damit sie mich nicht gleich bemerken würde.
Sie stieg aus und begab sich zur nächsten Ausgangstür. Ich kannte dieses Parkhaus und wusste, dass es über keinen Aufzug verfügte. Es führte nur eine Treppe nach unten.
„Sehr behindertengerecht“, ärgerte ich mich. Aber in diesem Fall kam es mir entgegen, da ich sie besser im Auge behalten konnte. Das laute Klappern ihrer Absätze war ebenfalls nicht zu überhören.
Noch war alles gutgegangen und ich konnte ihr mit Leichtigkeit folgen.
Als sie unten ankam, stöckelte sie in eine belebte Einkaufsstraße der Fußgängerzone. Amüsiert beobachtete ich, dass sich jeder, dem sie begegnete, nach ihr umdrehte. Dass sie alle Blicke auf sich zog, schien sie nicht weiter zu stören. Im Gegenteil, anscheinend genoss sie es sogar und wiegte jetzt zusätzlich noch ihre Hüfte hin und her.
Sie bog in eine Durchgangspassage ein, an deren Ende sie ein Cafe, das sich dort befand, betrat.
Eigentlich hätte ich es spätestens jetzt bleiben lassen sollen, ihr weiter zu folgen. Andererseits zog mich etwas magisch an, diese Lokalität ebenfalls zu betreten.
Das Cafe war ziemlich leer und sein schummeriges Licht strahlte nicht gerade Gemütlichkeit aus. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass alle Augen in diesem Moment auf mich gerichtet waren, als ich hereinkam. Auf keinen Fall wollte ich besonderes Aufsehen erregen und suchte möglichst schnell und auffällig nach einem freien Tisch. Auf einmal sah ich sie wieder im hinteren Bereich des Lokals alleine an einem Tisch sitzend. Sie hatte ihre schlanken Beine aufreizend übereinander geschlagen.
Mist, dachte ich mir, bestimmt hat sie mich schon längst gesehen. Wie zur Bestätigung lud sie mich mit einem verführerischen Blick dazu ein, mich zu ihr an den Tisch zu setzen.
Na toll, dachte ich mir, was bin ich nur für ein toller Schnüffler. Zögerlich ging ich auf sie zu und erkundigte mich überflüssigerweise, ob noch ein Platz frei wäre. Dabei kroch mir ein Schwall süßlichen Parfüms in die Nase.
„Nur zu“, meinte sie kurz und ich zuckte zusammen, als mir ihre dunkle Stimme auf einmal so seltsam vertraut vorkam. Ganz zaghaft und vorsichtig wagte ich es, ihr direkt ins Gesicht zu sehen und erschrak ein weiteres Mal, als sie entgegnete: „Ja, nun haben Sie mich endlich erkannt, Herr Willems. Und natürlich möchten Sie jetzt von mir eine Erklärung für mein in ihren Augen ungewöhnliches Auftreten in der Öffentlichkeit, oder nicht? Nennen Sie mir einen Grund, warum ich es Ihnen verraten sollte."
Es war unzweifelhaft Tobias Rurainski, mein Arbeitskollege. Mir fehlten die Worte und am liebsten hätte ich mich jetzt weit weg gewünscht. Ich schnappte nach Luft wie ein Frosch und glücklicherweise brachte mich ein junger Kellner auf den Boden der Tatsachen zurück, der mich fragte, was ich denn trinken wolle. Dabei lächelte dieser jedoch mehr meinen Gesprächspartner an als mich selbst.
Spontan bestellte ich mir eine Cola mit mindestens drei Eiswürfeln, da es mir nicht nur aufgrund der bestehenden Außentemperaturen entsetzlich warm geworden war.
Schlagartig kam mir die Erkenntnis. Ich war in einem Lokal für Schwule und Lesben gelandet. "Das kann ja heiter werden", dachte ich mir. Rurainski hatte meine verdammte Neugier ausgenutzt und mich absichtlich hierher gelockt. Was immer für eine Absicht er dabei hatte, war mir in diesem Moment völlig egal. Augenblicklich hatte ich nur den einen Wunsch, mich möglichst schnell und unauffällig zu verkrümeln.

"Nun stellen Sie schon Ihre Fragen. Ich weiß, dass Sie Ihre Neugier nicht mehr bezwingen können." Umständlich druckste ich herum und versuchte zu erklären, dass ich eigentlich hier gar nichts verloren hätte. Alles hätte ich nur unseren blöden Kolleginnen in ihrer unendlichen Neugier zu verdanken. Überdies sei mir das alles nur noch peinlich.
Ich war schon im Begriff, wieder aufzustehen, als er mich mit der Hand am Arm zurückhielt. Bei dieser Gelegenheit fielen mir seine perfekt manikürten und gestylten Hände auf. In einem Nagelstudio war er also auch noch gewesen.
„Bleiben Sie doch noch und unterhalten sich mit mir. Sie brauchen auch keine Befürchtungen zu haben, dass ich schwul wäre. Nein, ich ticke ganz normal wie Sie.“
Ich sah in sein perfekt geschminktes Gesicht, trotz aller Farbe konnte ich eine gewisse Ehrlichkeit darin erkennen. Resigniert seufzte ich und setzte mich zögernd wieder hin. Währenddessen lächelte er mich an: „Na sehen Se, is´ doch gar nicht so schlimm. Wir fallen niemandem auf und können uns deshalb ungestört weiterunterhalten.“ „Wenn Sie mich anmachen wollen, sind Sie bei mir auf dem falschen Dampfer“, warnte ich ihn.
„Nochmals: Als Transvestit ist man nicht zwangsläufig schwul. Das möchte ich hier extra betonen. Ich hatte bis jetzt immer ganz normale Beziehungen mit Frauen, Von Männern möchte ich nie und nimmer etwas wissen", belehrte er mich.
„Achja? Und warum verkleiden Sie sich dann so wie eine … eine …Hure?“ Endlich war es heraus.
Er lachte. „Nun, vielleicht weil es mir Spaß macht und ich in meinem 'ganz normalen Leben' nur eine graue Maus bin. Sie sehen doch selbst, dass ich als Frau verkleidet alleine schon äußerlich das glatte Gegenteil davon bin. Ich falle auf und werde beachtet, das dürfte Ihnen inzwischen nicht entgangen sein. Immer wenn ich Lust dazu habe, tue ich es." Das sagte er zu mir, als wäre es für ihn das Natürlichste auf der Welt.
„Leiden Sie etwa an einer Bewusstseinsspaltung?“ Diese dumme Bemerkung tat mir schon wieder leid.
„Nun, wenn Sie so etwas als verrückt ansehen, dann ist das ihre Sache. Ich jedenfalls würde mich deswegen nicht als psychisch kranken Menschen ansehen. Es ist einfach meine Art der Selbstverwirklichung."
Ich verstand nur noch Bahnhof und es musste ihm auch aufgefallen sein. Inzwischen erschien der „nette“ Kellner wieder an unserem Tisch, um mir mein Getränk zu bringen.

Ich fragte Rurainski, wann denn das alles begonnen hätte und wie man denn darauf käme, zwischendurch mal als Diva durchs Leben zu stöckeln. Ich fühlte mich wie ein Journalist, der eine prominente Persönlichkeit interviewt. "War diese Frage schon zu indiskret?", überlegte ich.
Er suchte jedoch tatsächlich nach einer Erklärung. "Vielleicht ist meine Mutter daran schuld gewesen. Sie hatte mich bereits im zarten Kindesalter ständig als ihr Nesthäkchen betrachtet und mich am liebsten in Watte gepackt, da ich von der Körperstatur her immer zierlicher als mein großer Bruder und oft krank war. Sie wünschte sich eigentlich schon immer ein Mädchen als zweites Kind und behandelte mich dementsprechend, manchmal besorgte sie Mädchenkleider und zog sie mir an. Alle lachten mich aus deswegen. Anfangs schämte ich mich auch, aber irgendwann fühlte ich mich sogar wohl darin."
Sein Bruder hingegen sei ein grober Klotz gewesen, der bald von zu Hause ausgezogen wäre. Wann immer es damals handwerkliche Arbeiten daheim zu verrichten gab, hätte immer dieser dran glauben müssen, ihn selbst habe man weitestgehend verschont mit so etwas. Bereits in der Pubertät habe er gemerkt, dass irgendetwas anders bei ihm gewesen sei. Er habe diese Phase viel intensiver als viele Andere empfunden. Später habe er dann eine Lehre begonnen und nachdem er ausgelernt hatte, starben seine Eltern in geringem zeitlichem Abstand voneinander.
Seitdem wohne er jetzt schon mehrere Jahre alleine in seinem Elternhaus, da sein Bruder mit seiner Familie in einer anderen Stadt lebe.“
Ich erinnerte mich, dass er damals, als er bei uns zu arbeiten begann, noch sehr jung war, nicht älter als 18 Jahre. Ich bot ihm das "Du" an. „Sag mal, wie alt bist du jetzt eigentlich“, fragte ich ihn.
„Sechsundzwanzig, ich gehe leider schon auf die Dreißig zu“, meinte er scherzhaft.
Eigentlich wunderte es mich schon, dass er mir so freimütig seine bisherige Lebensgeschichte erzählt hatte. Aber vielleicht suchte er ja auch nur jemanden, der ihm einmal richtig zuhören würde, dachte ich mir.

Es war anzunehmen, dass er noch niemandem von seiner heimlichen Leidenschaft erzählt hatte, und schon gar nicht seinen Freundinnen, oder vielleicht doch? „Hast Du überhaupt schon mal mit einem Menschen darüber gesprochen, was du in deiner Freizeit treibst?" Eine blöde Frage, die mir fast schon wieder leidtat.
„Nein, Du bist tatsächlich der Erste.“
„Oh, welche Ehre.“ Mehr wusste ich nicht darauf zu sagen. Er war mir nach wie vor sehr sympathisch, ganz gleich, ob als Mann oder als "Frau".
„Ich möchte nicht als neugierig erscheinen, Trotzdem interessiert es mich, wie du dann darauf kamst, dich als Frau zu verkleiden. Wie geht so was vor sich? Was empfindest du dabei?. Ich zum Beispiel betrachte mich als "normal" veranlagt. Oder ist diese Frage zu intim für dich?“
Er strich sich durch seine künstliche blonde Mähne, ein Kunstwerk, das manche Frau erblassen ließ. „Das tut man nicht einfach so von einem Moment auf den anderen. Nein, es erfolgt schrittweise und vor allem mit einem ständigen schlechten Gewissen. Es ist immer diese Angst da, von jemandem ertappt zu werden. Schon in der Pubertät geriet es immer mehr zum Zwang, denn ich konnte mich nicht dagegen sträuben. Ich habe mich zuhause in meinem Zimmer eingeschlossen, weil ich nicht von meinen Eltern gestört werden wollte. Zwischendurch habe ich meiner Mutter immer wieder Kleidungsstücke geklaut. Es ging ja nicht anders. Ich versuchte, es so geschickt wie möglich anzustellen, da sie ja nichts von meiner Leidenschaft bemerken sollte.
Es ging jahrelang gut. Von meinem Taschengeld konnte ich mir selbstverständlich zum Beispiel keine BHs und Strumpfhosen oder gar Röcke und Kleider kaufen, das wäre zu auffällig gewesen. Erst, als ich 19 Jahre alt war und mein erstes festes Gehalt bekam, wagte ich es, mir mit hochroten Kopf in Kaufhäusern entsprechende Dinge zu besorgen. Die stummen, aber vielsagenden Blicke der Verkäuferinnen, ließen mich jedesmal in Grund und Boden versinken.
Später hatte ich es satt mit diesen andauernden Lügen. Im Internet konnte man alles bei den entsprechenden Versandläden problemlos bestellen. Inzwischen habe ich mir eine beachtliche Kleidersammlung zugelegt.und wie bei jeder Frauengarderobe ist etwas passend zu jeder Gelegenheit dabei. Falls du also mit mir ausgehen solltest, wäre es überhaupt kein Problem. Aber warum erzähle ich dir so was, du kannst ja sowieso nichts damit anfangen und betrachtest mich als perversen Spinner, oder?“
Ich sah, dass ihm inzwischen jedes seiner Worte schon fast zu viel war und er mit den Tränen kämpfte. Vor allem die Schminke um seine Augen verlief immer mehr. Jeder von uns hatte sich den Abend anders vorgestellt, doch jetzt nahm er den Charakter einer Sitzung beim Psychologen an. Ich war hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl und Peinlichkeit und rang nach passenden Worten, wobei nicht nur meine Hände wie verrückt schwitzten. Ich wäre am liebsten aufgestanden und gegangen, aber irgendetwas hielt mich zurück. Mitleidsvoll betrachtete ich diesen menschen, der von einer schillernden Dragqueen binnen weniger Momente zu einem Häufchen Elend zusammengeschrumpft war. Es führte dazu, dass ich völlig durcheinander war und nicht wusste, wie ich mich weiter verhalten sollte.
Mein Eindruck verstärkte sich, dass es in diesem schummrigen Cafe niemanden zu interessieren schien, wie ich mit einem weinenden Transvestiten an einem Tisch saß. In einem anderen Lokal hätte man wahrscheinlich hinter vorgehaltener Hand über uns getuschelt.
Ich wartete ab, bis er sich beruhigt hatte. „Sag es mir bitte, wenn dir meine neugierige Fragerei zu viel wird. Ich denke auch, ich sollte jetzt langsam gehen."
Ich wollte schon der Bedienung signalisieren, dass ich zahlen wolle, da legte er seine Hand auf meinen Arm und hielt mich sanft zurück. „Bleib bitte noch, ich kann dir keine Antwort für mein Verhalten geben. Aber lass uns einfach über etwas Anderes sprechen. Erzähl doch mal etwas von dir, in der Arbeit scheinst du fast genauso verschlossen wie ich zu sein. Welche Leichen hast du im Keller?" Dabei lächelte er mich hinreißend an. "Ach ja, bevor ich es vergesse, versprich mir bitte, dass du mein Geheimnis für dich behältst. Es geht unsere lieben neugierigen Kolleginnen auf keinen Fall etwas an. Ich werde den Teufel tun, um mir vor ihnen eine solche Blöße zu geben.“ Er hatte recht und ich schämte mich dafür, ihm hinterherspioniert zu haben. „Entschuldige bitte, ich wollte nicht in dein Leben eindringen, das war sehr dumm von mir. Es tut mir leid.“ Ich war ziemlich zerknirscht.
"Ist schon in Ordnung." Damit war es für ihn erledigt und je länger der Abend wurde, desto ausgelassener wurde unsere Laune. Heimlich musste ich mir eingestehen, dass ich fasziniert von dieser künstlichen Schönheit war. Er verhielt sich wieder wie eine Frau und kokettierte mit mir. Im Gegenzug flirtete ich mit ihm. Von weitem betrachtet sah es wie ein normales Date zwischen zwei jungen Menschen aus. In mir ging dabei eine seltsame Veränderung vor, die mich an mir selbst zweifeln ließ. Ich konnte es nicht abstreiten, dass mir dieses Zwitterwesen immer besser gefiel, es erregte mich sogar.
„Du spinnst“, dachte ich mir. „Lass gefälligst deine Finger von ihr.“ Dann jedoch erzählte sie mir etwas, was mir sehr zu denken gab. Sie behauptete nämlich, dass sie als gefühlte Frau ein komplett anderer Mensch sei. Sobald sie ihr Äußeres verändern würde, wäre sie viel selbstbewusster und lange nicht mehr so schüchtern wie sonst.
Das würde Tobias jedes Mal in vollen Zügen genießen. Plötzlich schlug er mir vor: „Probier es doch einfach selbst mal aus, du wirst sehen, dass es eine völlig neue Erfahrung ist. Ich würde dir dabei behilflich sein.“
Das konnte nicht sein Ernst sein, dachte ich mir, wie kommt er bloß auf sowas. Als Transe würde ich mich nie auf die Straße trauen, widersprach ich ihm. Aber er bearbeitete mich jetzt erst recht und mein Widerstand wurde immer zaghafter. Trotzdem bäumte ich mich ein letztes Mal auf und beendete die Diskussion, indem ich ihm zu verstehen gab, dass eine derart grenzüberschreitende Erfahrung außerhalb meiner Vorstellungskraft liegen würde.

Einige Stunden später begleitete ich ihn galant zu seinem Auto, da wir ja beide denselben Weg hatten. In den dunklen Parkhäusern ist es schließlich nachts für eine alleinstehende „Frau“ ziemlich gefährlich. Außerdem gebe es genug Typen, die ihn schon des Öfteren wegen seines Aussehens angemacht hätten, verriet er mir. Da er sich nicht mehr so sicher in seinen High-Heels fühlte, hakte er sich kurzerhand bei mir unter. Unterwegs fingen wir uns die üblichen verstohlenen Blicke von einigen Nachtschwärmern ein, Tobias störte dies wenig, mich dagegen umso mehr. "Glotzt nicht so blöd", hätte ich ihnen gerne entgegengerufen, ließ es jedoch bleiben, um keinen Streit zu provozieren.
Bevor wir uns endgültig trennten, versprach ich ihm nochmals, dieses kleine Geheimnis für mich zu behalten. Dann verabredete ich mich mit ihm für den nächsten Abend, wo ich ein ungewöhnliches Experiment starten wollte.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo fossie, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Eine Geschichte mit überraschenden Wendungen hast Du Dir ausgedacht, die am Ende nach Fortsetzung ruft - Du solltest allerdings den Anfang packender gestalten und die ersten Absätze etwas raffen. Die Szenen im Büro sind zu langatmig geraten.

Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

fossie

Mitglied
Hallo xavia,

tja, diese Flüchtigkeitsfehler. Ich habe kürzlich meinen neuen Roman zweimal korrekturmäßig überarbeitet und trotzdem bin ich mir sicher, dass wieder irgendwelche Flüchtigkeitsfehler auftauchen. Dabei habe ich schon gehört, dass manche sage und schreibe schon 14 mal drübergegangen sind und es war nicht perfekt. Also Entschuldigung für diese dämlichen Fehler. Irgendwo nerven sie einen auch, aber ich denke, da wirst du mir zustimmen. Danke jedenfalls für die Aufmerksamkeit.

Viele Grüße

fossie
 

xavia

Mitglied
Hallo fossie,

ich kenne das aus eigener Erfahrung. Dazu sind andere Leserinnen ja (auch) da :)
 



 
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