Alles oder Nichts

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Bunsy

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Alles oder Nichts

Hundert, hundertzwanzig, hundertfünfzig zeigt die Tachonadel an. Die Autobahn ist leer, es ist mitten in der Nacht. 02:43 Uhr zeigt die Digitale Uhr im Armaturenbrett an. Ich weiß nicht genau, wie lange ich schon unterwegs bin. Vielleicht seit 21 Uhr. Vielleicht etwas später. Ich merke auf jeden Fall nichts mehr von den fast zwei Litern Bier, die ich vor Fahrtantritt getrunken habe. Auch keinen Kater. Die zwei Schmerztabletten tragen, auf die gewünschte Art und Weise, ihren Teil dazu bei. Zwar fallen mir immer wieder die Augen zu, aber ich kann jetzt nicht anhalten.
Weiß, weiß, weiß, weiß…der Mittelstreifen will mich immer wieder in seinen Bann ziehen. Komm, komm mit mir! Lass dich gehen, während die Jungens von Hot Lunch mich immer wieder zurück in die Realität katapultieren, und zwar genau in dem Moment, in dem ich die Kontrolle über mich und das Fahrzeug verliere. Kurz vor Hamburg wäre ich fast in eine Baustellenabsperrung gefahren, mit einem lächeln auf den Lippen. Mit jedem weiteren Kilometer, den ich mich von zu Hause entferne, entferne ich mich auch einen Kilometer weiter von allem. Von den Verpflichtungen, den Sorgen, der Angst.
Mein eigentliches Ziel war Hamburg, aber ich habe die Abfahrt einfach verpasst. Jetzt gibt es kein zurück mehr. Ich bin direkt daran vorbei gefahren. Wenn man sich vorstellt, dass ich knapp 300 Kilometer Zeit hatte mich auf die Abfahrt vorzubereiten, klingt das schon fast lächerlich. 300 Kilometer geistige Leere, dunkler Raum, Hypnose, Scham und Schmerz. Die Abwärtsspirale der Angst und dann verpasse ich die Abfahrt in die unbeschwerte Vergangenheit. Der Hafen. Der sichere Hafen. Hier endete das, was nie hätte enden sollen. Wäre ich doch bloß in dieser scheiß Stadt geblieben.
Der sichere Hafen.
Dort unten an den Landungsbrücken, gleich an der U-Bahn Station an der Treppe.
Heimat? Was auch immer. Ab hier läuft die Zeit rückwärts und ich Idiot verpasse die Ausfahrt. Einfach dran vorbei. Den Blick auf die Tachonadel gerichtet und auf die weiße Markierung.
On the Road.
Und den Absprung verpasst.
Mal wieder.
Ob ich das jemals schaffen werde?
Jetzt bin ich kurz vor Flensburg und mein Tank neigt sich dem Ende zu. Schon seit geraumer Zeit blinkt die Anzeige wie eine Nachricht aus einer fernen Welt, ganz ohne Sinn und Bedeutung. Sie blinkt einfach und ich will sehen, wohin mich das Schicksal verschlägt. Darauf lasse ich es jetzt ankommen. Auf das Schicksal. Ich gebe mich ihm hin, als Marionette einer höheren Macht. Was bleibt mir anderes übrig. Planen lässt sich sowieso nichts mehr in diesen Zeiten.
Verloren.
Fahr´n und fahr´n auf der Autobahn.
Und mal schauen, was das Leben für mich bereit hält.
Dann versagt irgendwann das Vehikel und bleibt stotternd am Seitenstreifen stehen. Inklusive mir. Im Nirgendwo. Was aber immer noch besser ist als all das, was hinter mir liegt. Und schaue ich gen Süden, dann sehe den Himmel orange leuchten. Als ob das Feuer, welches ich hinter mir gelassen habe, voller Wut um sich greift, mich sucht und ausschlägt in der Hoffnung mich zu treffen. Und sein Hunger ist nicht gestillt, solange ich nicht vor Schmerzen schreie.
Das Auto ist mir egal und ich renne die Böschung neben der A7 hinunter ins Dunkel und noch nie war das Nichts so einladend wie in diesem Moment. Da war einfach nichts. Kein Licht, und Meter für Meter entfernte ich mich von den Geräuschen der Autobahn. Hinein in ein Meer aus Isolation. Einem Ort, der jedem anderen so befremdlich und Angst einflößend vorkommt, mir aber dem Paradies gleichkam. Und während der Boden unter meinen Vans immer weicher wurde, verschwanden langsam jegliche Konturen um mich herum. Waren doch erst noch die Silhouetten der Büsche und Bäume erkennbar, sind es jetzt nur noch meine Füße, die im Rennen tasten und sich ihren Weg in die Einsamkeit schlagen. Auch das Feuer scheint zu erlöschen, dort am Horizont hinter mir. Nur ein schmaler Schein lässt erahnen, wo es wütet und schonungslos sein Unwesen treibt.
Nur noch ein paar Meter, dann habe ich es geschafft und es verliert endgültig meine Fährte.
Laufen. Laufen. Immer weiter laufen.
Wenn der Schein auch trügt, das Nichts kann unglaublich imposant sein. Ist es doch der Ort, an dem sich jede Seele verliert und genau deshalb ist es so reich an Erfahrung. Wie der Schlaf im Schoße der verlorenen Mutter, behutsam gebettet in der Idee einen neuen Anfang zu finden, im Dunkeln.
Im Nichts.
Und während des Laufens, greife ich in meine Hosentasche, nehme meine Portmonee und werfe es einfach weg.
Nehme mein Handy und werfe es einfach weg.
Und in diesem Moment wird die Dunkelheit so greifbar, dass sie einer Wand gleicht und dem Nichts seine Gestalt gibt.
Ich bleibe stehen, hebe meinen Kopf und sehe kein Ende. Gucke ich nach links und rechts, so sehe ich kein Ende. Ich stehe vor dem Nichts. Dann wird mir klar, dass das Nichts ja auch nur unendlich sein kann, aber wenn es unendlich ist, wie soll ich dann jemals wieder aus ihm herausfinden? Betrete ich es, so wird es mich schlucken und jede andere Dimension geht verloren.
„Möchten Sie die Objekte im Papierkorb wirklich endgültig löschen? Diese Aktion kann nicht widerrufen werden!“
Einen Schritt weiter nur.
Komm. Komm mit mir!
All das kann ich hinter mir lassen.
„Einen Schritt weiter nur.“
„Komm. Komm mit mir.“
„Wer bist du?“, rufe ich der Stimme zu, die aus dem Nichts auftauchte.
„Ich bin Nichts und wieder Nichts. Ich gebe dir Nichts und will alles.“
„Was soll das für ein scheiß Deal sein, verdammt? Hast du nicht mehr zu bieten?“
„Nein, ich habe Nichts zu bieten, also lass dich darauf ein, viele haben schon etwas aus dem Nichts erschaffen oder geh` fort, dann passiert dir nichts.“
Und ich lehne mich kurz an einen Baum, den ich gerade noch ertasten kann, hier kurz vorm Nichts. Immer noch atme ich schwer, ringe fast nach Luft. Meine Brust schmerzt, meine Beine auch. Immer und immer wieder kreisen meine Gedanken um Nichts.
Einen Schritt weiter nur.
Am Horizont noch brennt das Feuer und ich sehe seinen orangefarbenen Schein.
„Ist es das wert?“ frage ich mich.
All das hergeben für Nichts?
Und dann drehe ich mich um und gehe zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin.
„Hey! Bist du dir sicher?“
„Ja, so ziemlich! Was soll ich denn bei dir? Mich erwartet Nichts. Ich weiß nichts. Und was ist das überhaupt für ein scheiß deal? Du solltest an deiner Performanz arbeiten. Du hast nichts vorbereitet. Einfach nichts. Dann will ich mich doch lieber dem stellen, was mich dort am Horizont erwartet. Ich lasse es auf mich zu kommen. Irgendwie lässt sich das schon regeln. Besser als Nichts.“
Der Boden unter meinen Füßen wird langsam wieder fester. Der Himmel wird zwischen all den Bäumen wieder erkennbar und lässt seine Sterne für mich tanzen. Noch einmal drehe ich mich um.
„Aber hey! Mach dir nichts draus!“ rufe ich noch zurück.
Dann greife ich mir eine Zigarette aus der Innentasche meiner Jacke, zünde sie an und muss anfangen zu lachen. „Mach dir nichts draus“, wiederhole ich leise.
Nach ein paar Metern wird mir dann auch bewusst, dass der orangefarbene Schein am Horizont nichts anderes war, als das Licht einer Raststätte. Shell. Shell steht da. Eine riesige Muschel. Rot, gelb.
Von den Fünfzig Euro, die ich noch im Auto liegen habe kaufe ich mir einen Kanister Sprit, zwei 0,5 Liter Dosen Bier und Kippen. Dann gehe ich zurück zum Auto, gebe im Navi „Landungsbrücken“ ein und fahre los.
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo bunsy!

Schwierig, deine Geschichte zu kommentieren.

Mal sehen, ob ich sie richtig verstehe: Ein Mann ist auf der Flucht. Wovor, bleibt offen. Vor dem Alltag? ("Verpflichtungen, Sorgen"), vor der Realität? ("nichts planen können in dieser Zeit"),vor etwas, was er getan hat? ("Scham, Schmerz, Feuer am Horizont, Unwesen treibt").
Auf der Suche nach Vergebung?, Vergessen?, dem sicheren Hafen?, der Heimat? ("Sclafen im Schoße der verlorenen Mutter"-
Dann begegnet er dem Nichts, das ihn lockt, und widersteht ihm. Kehrt zurück ins Leben.

Also: Ein verzweifelter Mensch, der kurz vor dem Selbsmord steht, aber den endgültigen Schritt nicht schafft oder nicht will.

Richtig?

Deine Sprache ist sehr suggestiv. Obwohl du viele Fragen nicht beantwortest, ziehst du den Leser mit in den Sog der Gedanken und Gefühle deines Protagonisten.

Gut gemacht!

Gruß, Hyazinthe
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Ganz ehrlich, Bunsy, so ganz verstehe ich die Geschichte nicht. Schon deshalb nicht, weil sie für mich einige Ungereimtheiten aufweist. Ich seh das ja immer ganz pragmatisch:
Ich merke auf jeden Fall nichts mehr von den fast zwei Litern Bier, die ich vor Fahrtantritt getrunken habe.
Mindestens fünf Stunden non-stop unterwegs mit zwei Litern Bier intus? Kaum möglich, dass man die nicht mal zwischendurch „auskippen“ muss.
Mein eigentliches Ziel war Hamburg, aber ich habe die Abfahrt einfach verpasst.
„Die“ Abfahrt? Egal, aus welcher Richtung Du kommst (ich nehme mal an, aus Süden) – es gibt immer mehrere Abfahrten. Da kann man Hamburg nicht einfach verpassen.

Und dann mit zwei weiteren Dosen Bier von Flensburg nach Hamburg? Gute Fahrt! Vielleicht ist ja Sonntag und Du kannst auf dem Fischmarkt ein paar Rollmöpse gegen den Kater bekommen! :rolleyes:

Gruß Ciconia
 

Bunsy

Mitglied
Hallo Hyazinthe!

Ja genau, damit hast du es sehr gut erfasst.
Ich habe mich mit dieser Geschichte mal an etwas "abstrakteres" gewagt, da meine sonstigen Storys eher realistisch sind. Deshalb war ich mir anfangs auch nicht sicher, ob denn alles nachvollziehbar ist, aber anscheinend hat das ganz gut geklappt.
Vielen Dank für deine Meinung!

Hi Ciconia!

Nun ja, also mir kam es im Gesamtkontext der Geschichte und dem was ich damit zum Ausdruck bringen wollte irrelevant vor, näher auf die Fähigkeiten der Blase des Protagonisten einzugehen. Ich habe jedoch auch nicht erwähnt, dass er non-stop durchgefahren ist.
Rein pragmatisch betrachtet hast du natürlich auch mit deiner Anmerkung zu der Ausfahrt/ den Ausfahrten recht, vielleicht gab es für den Protagonisten aber nur die eine Ausfahrt, die Ausfahrt die ihn direkt zum Hafen/Ladungsbrücken führt. In seinem eher Apathischen und in Gedanken verlorenen Zustand sind die darauf folgenden Abfahrten keine Option mehr, da sie damit verbunden sind Umwege zu fahren und sich mit der Realität zu befassen.
Vielen Dank auch für deine Anmerkungen!
 



 
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