Alles oder nichts: das Dilemma eines Verliebten

Ich sollte eigentlich jene Tat des heutigen Abends nicht zu Papier bringen, einerseits aus der anzunehmenden Gefährdung meines derzeitigen Buchprojektes, das ohnehin nicht in die Gänge kommen will, somit jedoch dem endgültigen Untergang geweiht wäre, andererseits weil ich bis zu diesem Zeitpunkt immer der bedrückenden Auffassung gewesen bin, dass ich jene Gefühle (ein Gemisch aus berauschender Wärme, sternförmigen Funken der Aufregung im Leibe und dem unkontrollierten Zittern kribbelnder Hände), welche ich nur schon beim indirektesten Gedanken an ... empfinde, nicht in den würdigen Worten auszudrücken vermag, obwohl ich nichts lieber als das täte, um meine verschwiegene Sehnsucht wenigstens dem Papier zu offenbaren.

Der Tatsache bewusst, dass manch ein anderer Verliebter, der zum ersten Mal in seinem menschlichen Dasein bis anhin unbekannte, prickelnde Gefühle verspürt, welche ihn dem Wasserfall einer frisch geöffneten Champagnerflasche gleich übergiessen und klares, pragmatisches Denken, eine in der heutigen Zeit von solcher Bedeutung gereichende Notwendigkeit, verunmöglichen, wenn seine Gedanken sich der ihm nahestehenden Frau widmen, diese Absicht auszuführen nicht fähig ist, vermag mein überhitztes Bestreben, mein sehnsüchtiges Empfinden in Worte zu fassen, nicht zu kühlen. Es soll mir jetzt ganz einfach gelingen und sei es ein Bündnis mit dem Teufel, welches mir dazu verhilft, mein stetiger Drang, der nach jeder verstrichenen Zeiteinheit um ein Vielfaches anwächst und bald eine gefährliche Höhe zu gewinnen droht, zu verwirklichen respektive zu befriedigen. Biologischer Dränge kann man sich ohne weitere Schwierigkeiten entledigen, aber jener vorhin umschriebe Drang spurt gar auf eine schizophrene Schiene: Ein erregter Disput meiner selbst gegen eine innere Stimme lässt er aufflammen, der sich selbst in einer bedeutenden Prüfung in den Vordergrund zu stellen wagt, ohne das ich mich dagegen verwehren könnte.

Ich muss nun endlich meine nass geschwitzten Hände, deren Gestank meine Nase erbost rümpfen lässt, durch die im Zimmer vorherrschende dicke Luft bewegen, die Hand muss die schwere Sphäre durchstossen, bald habe ich es geschafft, das Telefon scheint nicht mehr weit, auch wenn die nebulöse Umgebung meinen Augen, auf deren Iris ein pochendes rotes Herz, vom Pfeil des Amors durchbohrt, das sich durch die Erinnerung an ... nährt, die Sicht versperrt. Ich wähle die Nummer, rufe ihr an und lade sie ein.
In diesem Moment überflutet eine Welle der Aufregung das Ge-stade. Mein Inneres scheint zu explodieren.

Die Frage...
Spätabends, nach dem Rendezvous.

Es ist geschehen, aus und vorbei, die nackte Realität hat die romantischen Träume platzen lassen und den Träumenden in einen Tunnel der Finsternis geführt, aus dem er keinen Ausweg, kein Licht zu finden sich in der Lage fühlt. Ist es denn ein Befehl von oben, oder vielleicht die Strafe für das mit dem Teufel eingegangene Bündnis, welche mir jeden bisherigen Versuch eine Beziehung, die auf nettem Zulächeln und bescheidenem Händeschütteln beruht, auszubauen, begraben lassen haben? Oder ist es meiner eigen Manko, im richtigen Moment die passenden Worte und die opportunen Handlungen einzuleiten? Demnach käme die Liebe einem Theater gleich, Protagonisten und deren Inszenierung sind im Drehbuch vorgegeben, und das geringste Abweichen von der gelegten Schiene des Autors, einem Despoten der Liebe, liesse die dampfende Lokomotive entgleisen. Habe ich deshalb kein Erfolg, weil ich mich dem Drehbuch widersetze und andere Wege beschreite? Wenn dem der Fall, wird mir nun bewusst, werde ich nie eine ernsthafte Beziehung aufbauen können. Liebe ist ein Synonym für grenzenlose Freiheit, wie die Freiheit der unendlichen Ozeane es ebenfalls ist. Wenn diese Welt, auf der wir leben, die Freiheit einschränkt oder gar einkerkert, und es mir nicht gelingt sie zu befreien, so werde ich wohl auf immer und ewig ein verzweifelter und niedergeschlagener Gefangener bleiben, jeglicher Fluchtversuch wird in einem folgenschweren Fiasko enden, ich werde ein Häftling auf Alcatraz sein, dem Hochsicherheitsgefängnis aus der Vergangenheit. Niemals ist es an jenem grausamen Orte einer Seele gelungen, seinem Urteil zu entweichen.
Ich habe den Abend vermasselt. Warum nur?


...deren Antwort...
Wochen später.

Die innere Stimme scheint die Antwort gefunden. Wie sie in anregendem Stil ihre Ansichten meiner kundtut, auch diesmal wieder zu einem sichtlich ungünstig gewählten Zeitpunkt, und die Funken bald ein loderndes Feuer der Überzeugung entfachen, atme ich innerlich vor Erleichterung auf. Despoten der Liebe gibt es nicht, hat es nie gegeben und wird es auch nie geben. Meine vorhin niedergeschriebenen Gedanken waren lediglich Schuldzuweisungen, Schuld, die ich selbst zu tragen habe und aus Frust und Verblendung den Drehbuchautoren zugewiesen habe, ein Gelächter provozierendes Paradox, habe auch ich ein solches Buch geschrieben, jedoch nie vollendet. Das Scheitern, meint die innere Stimme, liegt in meiner Führungsschwäche, ja, ich bin nicht dazu befähigt, sei es aus Mangel an Mut oder Reife, die Schienen der Liebe aus eigener Kraft zu legen. Wie sollte ich auch, wenn mir die nötigen Kenntnisse nie anvertraut wurden?

Du brauchst eine Führungskraft, wie sie es ist, behauptet die innere Stimme, als ich vor dem Kaffeeautomaten, dessen ausgespuckte Brühe meine Lebenserwartung um zehn Jahre senkt, warte und in die glänzenden Augen einer mittelgrossen, sympathischen Blondine blicke, deren lockiges Haar wie Blumen voller Frische herrlich duftet. Wäre sie in dich verliebt, fährt die innere Stimme fort, würde sie die Schienen legen, sie wäre es, die einladende Fragen stellen und verheissungsvolle Antworten erwidern würde. Aber sie ist nicht in mich verliebt, ergänze ich zu der inneren Stimme Aussage und schlürfe mit der Brühe in der Hand von dannen.

...das Dilemma...

Hinzu gesellt sich ein weiteres Problemfeld. Ich kenne jene ... nun schon seit geraumer Zeit, seit unserem ersten Zusammentreffen sind Jahre vergangen und in Kürze dürfte die erste Dekade verstrichen sein. Nichts ist in dieser Zeit geschehen, was bei anderen innert zweier Wochen geschieht. Eine Freundschaft hat sich entwickelt, die von meiner Schüchternheit und ihrer undeutbaren Zurückhaltung geprägt war. Schliesslich hat sich jenes Dilemma aufgetan, welchem ich mich nun ausgesetzt sehe: Die Wahl zwischen guter Freundschaft oder intimer Liebschaft.

...und die Erkenntnis.
Entweder oder. Alles oder nichts.

So gestaltet sich die jetzige Situation. Was sich tatsächlich daraus ergeben wird, steht in den Sternen. Ob ich es wagen werde, endlich den entscheidenden Schritt zu tätigen und wie in diesem Falle die Reaktion ausfallen würde, ob der Daumen begeistert nach oben oder vernichtend nach unten zeigen würde; ich weiss es nicht. Und ich möchte es auch gar nicht wissen, weil ich mich vor der Antwort fürchte.
Bin ich etwa ein Feigling? Die innere Stimme meint es zumindest.
 



 
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