Alltagsgeschichten

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Kapitano

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Elisabeth Putowski, meine älterere Nachbrin kämpfte sich Stufe für Stufe das enge Treppenhaus hoch und atmete schwer, auf jeder halben Treppe pausierte sie, um Kraft und Luft für den weiteren Aufstieg zu sammeln. Ich überholte sie in der Innenbahn und sie entschuldigte sich für ihr schwaches Herz.
Sie schaute durch das Treppenhausfenster in den Hof. Auf der schmalen Fensterbank stand eine verblühte Azalee in einem verkalkten Tontopf. Im Inneren des vertrockneten Grüns zeigten sich jedoch schon erste neue lilafarbene Knospen. Der Topf war eingefasst in eine grüne Faltmanschette aus Plastik, die an einen Faltenrock erinnerte. Ihr Blick durch das mit bunten Scheiben versehene Fenster fiel auf den kärglich begrünten Innenhof, der von Müllcontainern dominiert wurde und keinesfalls zum Verweilen einlud. Das Licht, das durch die blauen, gelben und orangefarbenen Scheiben des Treppenhausfensters fiel, verlieh dem Dunkel des Treppenhauses eine sakrale Stimmung. Bunte Lichtstreifen fielen auf den Linoleumboden. An manchen Stellen war das Linoleum so abgenutzt, dass schon die Flachsfasern im Inneren des Linoleums sichtbar wurden. Riechen konnte man das Linoleum schon lange nicht mehr. Elisabeth Putowski war nun 78 Jahre alt und lebte schon fast 40 Jahre in diesem Haus in der Kantstraße in Wilmersdorf.
Sie sah wesentlich jünger aus und ihre kesse Art in Verbindung mit ihren rot geschminkten Lippen und ihren blond gefärbten Haaren ließ sie wirken wie eine Frau in den frühen Sechzigern.
Sie war immer elegant gekleidet und obwohl sie in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung wohnte, hatte sie regelmäßig Besuch von vermögend wirkenden Damen ihres Alters.
Ihre Wohnung befand sich in der vierten Etage im Hinterhaus eines typischen Berliner Miethauses, das aus Vorderhaus, Seitenflügel und Hinterhaus bestand.
Ich wohnte eine Etage tiefer unter ihr. Als ich Jahre zuvor in das Haus einzog, kam ich sehr schnell mit ihr ins Gespräch. Schon beim Einzug begegnete ich ihr mit einem Umzugskarton unter den Armen im Treppenhaus. Uns beiden war im dritten Stock nach einer Pause zumute.
Sie begann über die Nachbarn zu plaudern, mich auszuhorchen und erzählte von früher. Es stellte sich heraus, dass sie die Tochter eines Kohlensackfabrikanten war, der früher in unmittelbarer Nähe hier in Wilmersdorf eine Kohlensackfabrik besaß – das Wort Fabrik hatte ich schon lange nicht mehr gehört!
Da ihr Vater mit Kohlensäcken ein beträchtliches Vermögen machte, muss es ihr in ihrer Kindheit gut gegangen sein. Doch darüber sprach sie nicht. Auch über ihre Mutter und über das, was sie selbst die letzten 50 Jahre gearbeitet hatte, schwieg sie. Stattdessen erzählte sie nur von ihrem Vater. Fritz Putowski, war ein Bauerssohn aus dem südlich von Berlin gelegenen Kleinstädtchen Niemegk.
Seine Mutter Annegret war Näherin, konnte weder lesen noch schreiben und einzig ihrem Fleiß, ihrem Geschick und vielleicht auch der von Natur aus guten weiblichen Ausstattung verdankte sie die Heirat mit dem alten, bereits verwitweten, Hans Putowski.
Hans brachte seinen in erster Ehe geborenen Sohn Ludwig mit in die Ehe mit Annegret. Schließlich kamen drei weitere Kinder hinzu: Fritz, Ute und Evi. Da der Bauernhof von jeher genug zum Essen bot wurde neben dem Nähen das Kochen zu Annegrets Leidenschaft. So war es kein Zufall, dass nach dem frühen Tode von Hans, der ältere Sohn Ludwig das Regiment am Hof übernahm und die Töchter Ute und Evi in den Harz zogen um dort zu Köchinnen ausgebildet zu werden.Fritz, der Vater meiner Nachbarin hingegen wurde in das beliebte Restaurant „Hannemanns-Mühle“ ins benachbarte Bad Belzig vermittelt, um hier eine Kellnerlehre zu absolvieren. Fritz konnte am Ende seiner Lehrzeit einen Barolo Stravecchio Gran Riserva Vigano von einem Barolo Stravecchio Gran Riserva Vigano Barolo Piemonte unterscheiden und bis zu vier Teller auf seinen ausgestreckten Armen balancieren.
Nacht für Nacht löste er die Etiketten von den Flaschen und klebte sie in ein altes Schulheft. Direkt daneben beschrieb er den Wein mit den Worten, die er beim Oberkellner wie bei geschulten Gästen gehört hatte.
Neben den Etiketten nahm er Woche für Woche Dutzende anfallende Kartoffelsäcke mit auf den Hof nach Niemegk, um sie in der Scheune zu stapeln. Seine Mutter nähte daraus dann die ersten Kohlensäcke, die Fritz an den örtlichen Kohlenhändler verkaufte.
Da in Berlin die Zahl der Bewohner und der Wohnungen seit der Gebietsreform stetig stieg, nicht jede Wohnung einen eigenen Keller hatte und die Bewohner oftmals auch nur kleinere Kohlenrationen kauften, explodierte der Bedarf an Kohlensäcken.
So zog auch Fritz in das Aufstrebende Berlin und begann kurz nach dem Ende des 1. Weltkriegs in Wilmersdorf mit der Produktion von Kohlensäcken. Er heiratete Helene , die Mutter meiner Nachbarin, machte ein Vermögen und investierte nach den kargen Jahren der Inflation in den späten 20er Jahren sein Geld in eine große Mietkaserne in der Französischen Straße in Berlin Mitte. Der 2. Weltkrieg verschonte das Haus, das – es lag im Ostteil der Stadt - 1948 in das Eigentum der DDR überging. Fritz und seine Frau Helene, die das Haus selbst verwalteten, wohnten mit Tochter Elisabeth jedoch im Westend in Westberlin. Sie hatten immer ein gutes Verhältnis zu den Mietern und waren akribisch in der Mieteraktenführung.
Letzteres sollte sich Jahrzehnte später auszahlen. Fritz und seine Frau konnten die Teilung Berlins nicht verkraften und verstarben bereits in den frühen 50er Jahren. Elisabeth musste sich als einzige Tochter um alles kümmern, um Beerdigung, Wohnungsauflösung und vieles mehr. Da auf dem Haus in Westend eine hohe Hypothek lag, musste sie ihr Elternhaus verlassen und zog 1953 in die Kantstraße. Zweizimmer, Küche, Flur und kein Bad. In den siebziger Jahren überredeten ihre Freundinnen sie, eine Duschkabine in der Küche aufzustellen.
Diese benutzte sie jedoch nie, stattdessen besuchte sie zweimal wöchentlich ihre Freundin in Halensee, um bei ihr zu baden.
Mit dem Fall der Mauer fiel das Haus in der Französischen Straße an die Familie zurück. Die akribische Aktenführung ihrer Eltern ermöglichte eine völlig unkomplizierte Rückübertragung. Der Wert der Immobilie belief sich 1991 auf 2 Millionen D-Mark.
Elisabeth Putowski lebte bis zu ihrem Tod weiterhin in ihrer Zweizimmerwohnung ohne Bad und besuchte mehrmals wöchentlich ihre Freundin in Halensee.
Elisabeth hatte weder Mann noch Kinder, in ihrem ererbten Haus befindet sich bis heute ein Bordell, der Gentlemans Club Bar Rouge! Eine Spezialität der Damen sind Wasserspiele.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Kapitano, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von DocSchneider

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Kapitano

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Elisabeth Putowski, meine ältere Nachbarin kämpfte sich Stufe für Stufe das enge Treppenhaus hoch und atmete schwer, auf jeder halben Treppe pausierte sie, um Kraft und Luft für den weiteren Aufstieg zu sammeln. Ich überholte sie in der Innenbahn und sie entschuldigte sich für ihr schwaches Herz.
Sie schaute durch das Treppenhausfenster in den Hof. Auf der schmalen Fensterbank stand eine verblühte Azalee in einem verkalkten Tontopf. Im Inneren des vertrockneten Grüns zeigten sich jedoch schon erste neue lilafarbene Knospen. Der Topf war eingefasst in eine grüne Faltmanschette aus Plastik, die an einen Faltenrock erinnerte. Ihr Blick durch das mit bunten Scheiben versehene Fenster fiel auf den kärglich begrünten Innenhof, der von Müllcontainern dominiert wurde und keinesfalls zum Verweilen einlud. Das Licht, das durch die blauen, gelben und orangefarbenen Scheiben des Treppenhausfensters fiel, verlieh dem Dunkel des Treppenhauses eine sakrale Stimmung. Bunte Lichtstreifen fielen auf den Linoleumboden. An manchen Stellen war das Linoleum so abgenutzt, dass schon die Flachsfasern im Inneren des Linoleums sichtbar wurden. Riechen konnte man das Linoleum schon lange nicht mehr. Elisabeth Putowski war nun 78 Jahre alt und lebte schon fast 40 Jahre in diesem Haus in der Kantstraße in Wilmersdorf.
Sie sah wesentlich jünger aus und ihre kesse Art in Verbindung mit ihren rot geschminkten Lippen und ihren blond gefärbten Haaren ließ sie wirken wie eine Frau in den frühen Sechzigern.
Sie war immer elegant gekleidet und obwohl sie in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung wohnte, hatte sie regelmäßig Besuch von vermögend wirkenden Damen ihres Alters.
Ihre Wohnung befand sich in der vierten Etage im Hinterhaus eines typischen Berliner Miethauses, das aus Vorderhaus, Seitenflügel und Hinterhaus bestand.
Ich wohnte eine Etage tiefer unter ihr. Als ich Jahre zuvor in das Haus einzog, kam ich sehr schnell mit ihr ins Gespräch. Schon beim Einzug begegnete ich ihr mit einem Umzugskarton unter den Armen im Treppenhaus. Uns beiden war im dritten Stock nach einer Pause zumute.
Sie begann über die Nachbarn zu plaudern, mich auszuhorchen und erzählte von früher. Es stellte sich heraus, dass sie die Tochter eines Kohlensackfabrikanten war, der früher in unmittelbarer Nähe hier in Wilmersdorf eine Kohlensackfabrik besaß – das Wort Fabrik hatte ich schon lange nicht mehr gehört!
Da ihr Vater mit Kohlensäcken ein beträchtliches Vermögen machte, muss es ihr in ihrer Kindheit gut gegangen sein. Doch darüber sprach sie nicht. Auch über ihre Mutter und über das, was sie selbst die letzten 50 Jahre gearbeitet hatte, schwieg sie. Stattdessen erzählte sie nur von ihrem Vater. Fritz Putowski, war ein Bauerssohn aus dem südlich von Berlin gelegenen Kleinstädtchen Niemegk.
Seine Mutter Annegret war Näherin, konnte weder lesen noch schreiben und einzig ihrem Fleiß, ihrem Geschick und vielleicht auch der von Natur aus guten weiblichen Ausstattung verdankte sie die Heirat mit dem alten, bereits verwitweten, Hans Putowski.
Hans brachte seinen in erster Ehe geborenen Sohn Ludwig mit in die Ehe mit Annegret. Schließlich kamen drei weitere Kinder hinzu: Fritz, Ute und Evi. Da der Bauernhof von jeher genug zum Essen bot wurde neben dem Nähen das Kochen zu Annegrets Leidenschaft. So war es kein Zufall, dass nach dem frühen Tode von Hans, der ältere Sohn Ludwig das Regiment am Hof übernahm und die Töchter Ute und Evi in den Harz zogen um dort zu Köchinnen ausgebildet zu werden.Fritz, der Vater meiner Nachbarin hingegen wurde in das beliebte Restaurant „Hannemanns-Mühle“ ins benachbarte Bad Belzig vermittelt, um hier eine Kellnerlehre zu absolvieren. Fritz konnte am Ende seiner Lehrzeit einen Barolo Stravecchio Gran Riserva Vigano von einem Barolo Stravecchio Gran Riserva Vigano Barolo Piemonte unterscheiden und bis zu vier Teller auf seinen ausgestreckten Armen balancieren.
Nacht für Nacht löste er die Etiketten von den Flaschen und klebte sie in ein altes Schulheft. Direkt daneben beschrieb er den Wein mit den Worten, die er beim Oberkellner wie bei geschulten Gästen gehört hatte.
Neben den Etiketten nahm er Woche für Woche Dutzende anfallende Kartoffelsäcke mit auf den Hof nach Niemegk, um sie in der Scheune zu stapeln. Seine Mutter nähte daraus dann die ersten Kohlensäcke, die Fritz an den örtlichen Kohlenhändler verkaufte.
Da in Berlin die Zahl der Bewohner und der Wohnungen seit der Gebietsreform stetig stieg, nicht jede Wohnung einen eigenen Keller hatte und die Bewohner oftmals auch nur kleinere Kohlenrationen kauften, explodierte der Bedarf an Kohlensäcken.
So zog auch Fritz in das Aufstrebende Berlin und begann kurz nach dem Ende des 1. Weltkriegs in Wilmersdorf mit der Produktion von Kohlensäcken. Er heiratete Helene , die Mutter meiner Nachbarin, machte ein Vermögen und investierte nach den kargen Jahren der Inflation in den späten 20er Jahren sein Geld in eine große Mietkaserne in der Französischen Straße in Berlin Mitte. Der 2. Weltkrieg verschonte das Haus, das – es lag im Ostteil der Stadt - 1948 in das Eigentum der DDR überging. Fritz und seine Frau Helene, die das Haus selbst verwalteten, wohnten mit Tochter Elisabeth jedoch im Westend in Westberlin. Sie hatten immer ein gutes Verhältnis zu den Mietern und waren akribisch in der Mieteraktenführung.
Letzteres sollte sich Jahrzehnte später auszahlen. Fritz und seine Frau konnten die Teilung Berlins nicht verkraften und verstarben bereits in den frühen 50er Jahren. Elisabeth musste sich als einzige Tochter um alles kümmern, um Beerdigung, Wohnungsauflösung und vieles mehr. Da auf dem Haus in Westend eine hohe Hypothek lag, musste sie ihr Elternhaus verlassen und zog 1953 in die Kantstraße. Zweizimmer, Küche, Flur und kein Bad. In den siebziger Jahren überredeten ihre Freundinnen sie, eine Duschkabine in der Küche aufzustellen.
Diese benutzte sie jedoch nie, stattdessen besuchte sie zweimal wöchentlich ihre Freundin in Halensee, um bei ihr zu baden.
Mit dem Fall der Mauer fiel das Haus in der Französischen Straße an die Familie zurück. Die akribische Aktenführung ihrer Eltern ermöglichte eine völlig unkomplizierte Rückübertragung. Der Wert der Immobilie belief sich 1991 auf 2 Millionen D-Mark.
Elisabeth Putowski lebte bis zu ihrem Tod weiterhin in ihrer Zweizimmerwohnung ohne Bad und besuchte mehrmals wöchentlich ihre Freundin in Halensee.
Elisabeth hatte weder Mann noch Kinder, in ihrem ererbten Haus befindet sich bis heute ein Bordell, der Gentlemans Club Bar Rouge! Eine Spezialität der Damen sind Wasserspiele.
 



 
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