Alptraum

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Alptraum

Ich sitze im Wartezimmer meines Lebens und friere. Auf dem Boden kauere ich, die Wand im Rücken. Unter mir ein alter Teppich. Das Radio läuft die ganze Zeit, obwohl ich die Musik nicht mag - aber die Stille ist mir unerträglich. Mir gegenüber hängt das Naziplakat: der Bomber mit dem Totenschädel statt Cockpit und der blauweißroten Trikolore aller Feinde des Reiches. "Verdunkle - der Feind sieht dein Licht!" Eigentlich will ich aufstehen und das Plakat abreißen, die Propaganda, alle Propaganda will ich aus meinem Leben tilgen, doch mir fehlt die Kraft...

Während ich still gegen das Nichts kämpfe, nicht gewinne und nicht verliere, heult die Sirene los und wie selbstverständlich wanke ich wie ein Zombie in den Luftschutzraum, von dem ich bis gerade nicht mal wußte, daß er existiert. Meine Nachbarn, allesamt Fremde, sind schon dort und der alte Mann, der den Luftschutzwart gibt, drängelt, ich möge mich beeilen. In dem feuchtkalten Kellerraum laufen nackte, tropfende Rohre an Wand und Decke entlang; auf dem Boden an den Wänden liegen ein paar Sandsäcke. Ich lasse mich auf einen freien Platz sacken. Sofort kriecht mir die Feuchtigkeit aus dem Sackleinen in den Hosenboden und mir erwächst das Gefühl, als hätte ich vor Stunden eingenäßt und würde jetzt in meinem eigenen, erkalteten Urin sitzen. Eine verlorene Glühbirne schwebt knapp unter der Decke und kämpft mit wenig Erfolg gegen die Dunkelheit an. Erst durch das Schnaufen neben mir registriere ich den Mann, der dort sitzt. Ich könnte nicht sagen, ob er sich gerade erst dort hingesetzt hat oder schon dort saß, als ich noch in einem kalten Uterus schwamm. Aus den Augenwinkeln betrachte ich ihn: er ist knochig und fahl und in seinem Mundwinkel hängen einige Tabakkrümel. Seine Haare sehen aus wie ein Unfall: neben fast kahlen Stellen hängen lange, fettige Strähnen. Jetzt spüre ich seinen Blick auf meinem Kopf und als unsere Augen sich begegnen, liest er die Frage in meinen und sagt: "Ich war beim Friseur, als der Alarm losging." Mein Kopf nickt leicht, um Verständnis zu signalisieren. Nun ruht sein Blick auf meinen Haaren und seine Sprache ist verändert, klingt auf einmal nach Balkan, so daß ich nur noch Fragmente verstehe; "Faschista" fällt mehrfach. Ich mühe mich ab ihm zu erklären, daß ich zwar ein Hautkopf bin, daß dies aber nicht Ausdruck meiner politischen Gesinnung ist, sondern genetisch bedingt ist. Ich erzähle von den Geheimratsecken väterlicherseits und der Tonsur mütterlicherseits, die mir mein italienischer Opa vererbt hat. Besonders deutlich betone ich, daß mein Opa Italiener ist, doch mein Nachbar sagt nur: "Mussolini!" und verzweifelt breche ich meine Erklärung ab und starre wieder vor mich hin und mir gegenüber hängt wieder das Plakat mit dem englischen, amerikanischen, französischen Totenkopfbomber.

Ich sitze alleine im kalten Wartezimmer meines Lebens und in der Ferne höre ich das Pfeifen der fallenden Bomben und die dumpfen Detonationen und ich frage mich, was ich morgen machen soll, falls ich nicht getroffen werde und kein Wecker befreit mich mit seinem Klingeln.
 
Du kämpfst still gegen das NICHTS?

- Ich glaube, du kämpfst hier gegen die Schuld bzw. die Schuldzuweisung - und das ist doch recht viel. Und zu gewinnen gäbe es vielleicht die Selbstachtung (zurück), wer weiß, vielleicht. Hat mir jedenfalls gefallen.

Liebe Grüße

Birgit


(und jetzt wirklich "Gute Nacht"!; macht ja süchtig, die Leselupe...!!!)
 
B

beisswenger

Gast
Respekt, Herr Poet: das ist wirklich gut und könnte in ein
tragisch-komisch-lustiges Anti-Kriegs-Filmchen, wie z.B.
"La vita e bella" eingebaut werden. Leider können die Deutschen mit ihrer zwischen Großkotz und Minderwertigkeitskomplex kämpfenden "Rassenseele" (Psychologie der Massen/Gustave LeBon) so ein Filmchen nie produzieren. Das können die Südländer viel besser!
 
S

Sansibar

Gast
Hallo Frank,
wenn du ein Zeuge jener Zeit warst, so bitte ich dich inständig alles aufzuschreiben. Mir ist das aus vielerlei Gründen wichtig. Die meisten haben derart verdrängt das sie sich noch nicht einmal an Bombenangriffe erinnern wollen, geschweige denn darüber reden. Ich werde mir alles ausdrucken für den Fall das es authentisch ist und du es erlaubst.
Gruß
Sansibar
 

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Kein Zeitzeuge

Hallo Sansibar,

es freut mich, daß meine Erzählung bei Dir den Eindruck erweckt hat, ich hätte selbst etwas so schreckliches wie einen Bombenangriff erlebt, das spricht für mich dafür, daß mir die Schilderung sehr authentisch geraten ist.

Tatsache ist aber, daß ich Jahrgang 1971 bin und deshalb nichts dergleichen erleben mußte. Mein Wissen über diese Ereignisse habe ich aus den Medien, dem Geschichtsunterricht und von meinen Großeltern, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben.

MfG
 
S

Sansibar

Gast
Krieg

Hallo Frank,
ich bedaure außerordentlich das du so jung bist !!!!!!
Im Ernst, vielleicht ist es gut das du sowas nie erfahren mußtest.
Gruß Sansibar
 
Lieber Frank,

daß du Jahrgang 71 bist heißt leider nur hier, so etwas nicht erlebt zu haben; - dessen sollten wir uns bewußt sein: daß der Frieden kein Privileg der Jugend ist und daß es einen heutigen Frieden auch nicht gibt. Jetzt zur Stunde in dieser Minute, erleben das, was du beschrieben hast, was dir als Albtraum widerfuhr, Kinder, die nicht einmal in der Lage sind, wenigstens rational zu begreifen, was als "Krieg", "Vertreibung" und dgl. ihnen geschieht. Manchmal braucht es dazu nicht einmal den tatsächlichen Krieg; das Gefühl, "Feind" von jemandem zu sein, entsteht vielerorts z.B. in ausländischen Familien; und dann erklär den Kindern dort, warum sie sich vor wem z.B. in diesem unserem Lande fürchten müssen.

Birgit Kachel
 

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Erinnerung

Hallo Birgit,

ich bin mir der von Dir dargestellten Tatsachen durchaus bewußt (trotz meiner Jugend - war es das, worauf Du anspielst?), trotzdem danke für Deine Erinnerung.
 



 
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