Als eine Gondel Trauer trug

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Raniero

Textablader
Als eine Gondel Trauer trug

Beppino, der absolute Star unter den gondolieri, zeigte sich sprachlos, im wahrsten Sinn des Wortes.
So etwas war ihm in seiner langjährigen Laufbahn noch nie widerfahren.
Wie viele Touristen hatte er in dieser Zeit über die Wasserstraßen Venedigs geschippert und durch seinen unvergleichlichen Gesang betört, mit seiner glasklaren Tenorstimme, einer Stimme, die nicht nur von Laien eingeschätzt wurde, zu Höherem berufen zu sein, zu Auftritten an geweihten Stätten wie der Met oder der Scala.
„Du bist zu Höherem berufen“, lautete denn auch der Ratschlag, der ihm seit längerer Zeit von wohlmeinenden Freunden, darunter auch von professionellen Musikliebhabern, stets aufs Neue erteilt wurde, doch Beppino zeigte sich auch ohne Karriere an der Oper zufrieden.
Er liebte es vielmehr, die Gäste der Stadt, manchmal auch die Einheimischen, singend mit seiner Gondel, durch Venedig zu begleiten und ihnen hierbei die zahlreichen Sehenswürdigkeiten anzupreisen, für ein nicht gerade geringes Salär, versteht sich.
Auf all diesen Fahrten hatte er Menschen aus der ganzen Welt seine Heimatstadt näher gebracht, Menschen unzähliger Nationen auf dem Canal Grande und seinen Nebenarmen hin- und herbewegt, mit seinem ruhigen Ruderschlag, und ihnen hierbei die schönsten Wunschkonzerte, von der großen Arie bis zur einfachen Folklore dargeboten.
Eine Fahrt wie die heutige jedoch war ihm noch nie untergekommen, und niemals zuvor war ihm ein solches, ihn in seiner Ehre zutiefst verletzendes Ansinnen angetragen worden, wie es die vier Fahrgäste aus dem Norden, aus deutschen Landen, vorgebracht hatten. Da verlangten doch die Herrschaften, zwei Paare mittleren Alters, ernsthaft von ihm, er möge ihnen die ganze Stadt zeigen, mit seiner Gondel, doch er solle dabei die Schnauze halten.
Um genau zu sein, exakt diese Formulierung hatten sie zwar nicht gebraucht, in ihrem radebrechenden Italienisch, doch er hatte es aber so und nicht anders aufgefasst, denn das herrische ‚non cantare, bloß nicht cantare‘ stellte eine einzigartige Beleidigung für ihn dar.
Beppino war außer sich; einem Sänger seines Formats, einem direkten Nachfahren Carusos, etwas derartiges abzuverlangen, ihm einen solch unsittlichen Antrag zu machen, das grenzte, nein es überbot einen Rufmord.
Gleichwohl erklärte er sich nach anfänglichem Sträuben mit grimmiger Miene bereit, dem Wunsch der merkwürdigen Touristen nachzukommen, denn diese hatten die von ihm erhobene bereits ziemlich üppige Gage schlagartig verdoppelt, wenn, ja wenn er denn während der Fahrt schwiege!

Und so nahm denn diese seltsame Tour ihren Lauf, auf den Kanälen der Lagunenstadt, mit einem verbissen schweigenden Gondoliere und ebenso wortkargen Gästen, und sehr bald schon setzte nicht nur auf den Wasserstraßen, sondern auch auf den vielen Brücken und selbst in den nahen Gassen der Stadt große Verwunderung ein.
Fast allen der zahlreichen Boots- und Schiffsführer sowie vielen Einheimischen und selbst zahlreichen Touristen, die sich nicht zum ersten Mal in Venedig aufhielten, war er bekannt, der schöne Beppino mit der ebenso schönen Stimme, und allen war es ein Rätsel, dass er davon keinen Gebrauch machte und stattdessen mit finsterem Gesichtsausdruck das Ruder bewegte.
Bald schon erklangen die ersten Fragerufe anderer Gondoliere, in hämischen Tönen, und sie wollten wissen, warum der stadtbekannte Sänger stumm war wie ein Fisch.
„Was ist mit dir, Pino, hast du Krach mit deiner Alten?“
„Warum singst du nicht, Caruso, haben sie dir nicht genug bezahlt?“
‚Wenn die wüssten‘, dachte ein missgelaunter Beppino, ‚für den Preis würden die auch die Klappe halten.‘
Einerseits freute er sich über die unerwartet hohe Einnahme, andererseits jedoch machte ihm der Umstand, als bester Sänger der Stadt nicht singen zu dürfen, doch arg zu schaffen, und darüber hinaus machte er sich jetzt auch noch zum Gespött von ganz Venedig.
Flehentlich blickte Beppino seine deutschen Fahrgäste an:
„Ein bisschen singen nur, un poco, signori!“
„Bist du wohl still“, klang es barsch zurück, „was meinst du wohl, wofür wir dich bezahlt haben?“

Nun aber bekamen die anderen Gondoliere Mitleid mit ihrem Startenor; sie fühlten, dass da etwas nicht stimmte, bei dieser ungewöhnlichen Fahrt und mit diesen merkwürdigen Fahrgästen.
Heimlich verständigten sie sich untereinander und begannen, einer nach dem anderen, die schweigsame Gondel von Beppino zu eskortieren, und auf diese Weise bildete sich bald eine ganze Prozession von Gondeln, wie an einem hohen Feiertag zu Ehren der Stadt.
Sehr bald schon hatten sich durch weitere Mundzumundpropaganda über Mobiltelefone, die auf keinem Boot fehlten, alle Gondeln der Stadt ausnahmslos dem Schweigezug angeschlossen – aus Solidarität mit dem stummen Beppino hatten die anderen Gondelführer ihre Gesänge eingestellt – da hallte es wie ein Schicksalsruf über den Canal Grande, auf dem sich die große Prozession gerade in Richtung Rialtobrücke bewegte.
„Volare, oho!“ rief eine dröhnende Männerstimme, ein Tourist aus Südwestgrönland, inmitten der großen Gondelpolonaise, und damit war das Zeichen gegeben.
Hundertfach erklang es nun aus den Kehlen der anderen Fahrgäste, zu denen sich die vielen Stimmen der Menschen auf den Brücken und den nahen Gassen gesellten, die alle herbeigeeilt waren, um dem merkwürdigen Schauspiel auf den Kanälen beizuwohnen, und selbst auf der Seufzerbrücke, der ‚Ponte di Sospiri‘ erklangen keine Seufzer, sondern als Antwort ein fröhliches ‚Cantare, ohohoho‘, um das schöne nicht nur in Italien so beliebte Lied fortzusetzen.
Fast alle Gondoliere stimmten ebenfalls ein, aber zuerst nur fast alle, dann aber, unter den aufmunternden Blicken der anderen Bootsführer in Richtung Beppinos Gondel fasste sich dieser schließlich ein Herz und hell übertönte seine lupenreine Tenorstimme die der Anderen, und fast akzentfrei sang er die deutsche Fassung des weltberühmten Schlagers: „Wie wär’s, wie wär’s mit uns zwein, das wär‘ für dich einmal neu...“
Nun endlich fielen auch die deutschen Trauergäste in den Schlager ein und sangen aus vollem Halse mit.

Als die Prozession sich nach Stunden aufgelöst hatte und sich Beppino von seinen deutschen Gästen verabschiedete, die nun auf einmal gar nicht mehr aufhören wollten, zu singen, sagte er mit listigem Augenaufschlag: „Beppino doch cantare!“
 



 
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