Altbaumythos

tribun

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Lange hatte er auf seinem Fensterbrett eine kleine Nelke stehen. Aus heutiger Sicht nun bedeutungslosen Gründen hatte er vor Monaten das Erdreich entzweiende Gewächs in einem Blumenladen nahe seiner Heimatstadt gekauft. Von je her war eher unerfahren und unbeholfen in Dingen, welche Pflege und Aufmerksamkeit erforderten. Von einer gewissen Regelmäßigkeit, die man erwarten wollte ganz zu schweigen. Nichts desto trotz und ohne eines Anlasses als nur der Tat wegen, hatte sich die Nelke in seinem Haus eingefunden. Gestern bemerkte er, dass nur noch ein trockener Halm im Blumentopf steckte.
Die Nelke war verdorrt und er wusste, da er sie fast erschaffen hatte, dass es kein Wiedersehen geben konnte. Ohne viel Aufsehens nahm er den Blumentopf und ging damit durch sein Zimmer, dass er seit unzähligen Wintern bewohnte, auf und ab. Eine Überlegung wollte er anstellen, die über das Schicksal des Blumentopfes entscheiden sollte. Immerhin könne man ja etwas neues darin beherbergen. Vielleicht einen Kaktus oder etwas nützlichere Kresse. Er ging kreuz und quer, überschritt den Parkettboden ein aufs andere mal. 37 Schritte von Wand zu Wand in der Breite und 86 von dem Südfenster, dass zur Sonnenseite gerichtet den Stellplatz für den Blumentopf lieferte, zum Nordfenster. Aber da sein Weg von einem Tisch und einem Stuhl immer auf´s neue blockiert wurde und er wegen diesen nun hinderlichen erscheinenden Gegenständen eine kleine Schleife laufen musste, die ihn stets aus seinen Überlegungen riss, beschloss er, den Topf erstmal auf dem Parkett abzustellen.
Im selben stellte er sich dann vor den Tisch. Und wie er nun so stand, fing ihn die Erinnerung ein: mit wie viel Mühe er ihn – diesen einen Tisch - vor all den Wintern in sein Zimmer geschleppt hatte.
Da er damals zu stolz war, die Nachbarn um Hilfe zu fragen - schließlich war er gerade neu - hatte er einen ganzen Tag damit verbracht, das sperrige Erbstück durch das Treppenhaus und die Tür zu verfrachten. Wenn doch nur jemand käme, hatte er sich oft dabei gewünscht und erschrak zugleich peinlich berührt, da die Anderen seine Unbeholfenheit bestimmt belustigend empfunden hätten. Nichts desto trotz hatte er es wie so oft geschafft. Er war es, der etwas gegen jedes Vorurteil erreicht hatte. Und nun fiel ihm alles wieder ein. Der Tisch, ein rechteckiges Ungetüm in Nussbaumbraun. An den Ecken thronten geschnitzte Holzköpfe und in die Tischplatte hatte er vor Jahren - es muss kurz vor dem Auszug aus der Wohnung gewesen sein, die er mit seiner damaligen Lebensabschnittsgefährtin bewohnt hatte, denn zu dieser Zeit hatte er sich ein silbernes Klappmesser gekauft - die Anfangsbuchstaben K. F. eingeritzt. Nun stand ihm der Tisch im weg. Und nicht nur das. Auch ein Stuhl war daran gefesselt. Mit einer Kordel hatte er den Stuhl an das dem Nordfenster zugewandte Tischbein gebunden.
Aus irgendeinem Grund hatte er den Tisch genauso platziert. Ja stimmt, darunter waren die losen Bretter des Parkettbodens. 5 Stück und in der Länge von knapp 60 cm und die Tischbeine umschlossen diesen verdeckten Durchbruch. Es würde zu lange Dauern, bis er den Tisch weggezerrt hätte, ohne dabei das Versteck zu beschädigen, denn die Last des Tisches würde unweigerlich die Brettchen durchbrechen. Das konnte er in keinem Fall riskieren. Kurzweilig kramte er noch in Erinnerungen und kurzweiligen, unpraktischen Gedanken.
Folglich musste er seine Planungen für den weiteren Gebrauch des Blumentopfes in Schlaufengängen fortsetzen. Schnell vertiefte er sich wieder in die Überlegungen und vergaß dabei, alle Mühen, die er in den Tisch investiert hatte. Auch das silberne Taschenmesser und die Initialien entwischten seinen Gedanken und purzelte zurück in die Bedeutungslosigkeit von einigen Gestern. Nach etwa neun Umrundungen schloss er seine Überlegung mit dem Öffnen des Fensters und einem gekonnten Wurf des Blumentopfes auf die wenig befahrene Straße ab. Wenn er keine Blume mehr hat, dann bräuchte er auch keinen Blumentopf. Dies muss ihm durch den Kopf gehen, als er zu diesem weiten Wurf ausgeholt hat und sich damit gleichsam zurück zu den Gedanken an den Tisch katapultiert. Kurz darauf, zieht er das silberne Messer, dass die ganze Zeit in seiner Brusttasche getragen wurde und er durchtrennt die Kordel, die den Stuhl an den Tisch gekettet hat. Er kniet nieder und schiebt die Bretter des Parkettbodens beiseite, greift in das sich darunter auftuende Loch. Kramt vorbei an einem luftdicht verschlossenem Sack eine kleine Kiste mit Photos hervor. Ein Bild zeigt ihn, wie er um den Tisch ein Eisbahnnetz gebaut hatte und ein kleiner Junge ihn dabei begeistert anstrahlt. Mit dem Bild geht er ins Bad.
Erst als eine Vielzahl vergangener Tage den Geruch aus dem Bad nicht mehr verschleiern konnten ergriff der Hausmeister des Altbaus Maßnahmen.
 

Schakim

Mitglied
Hallo, tribun!

Eine geballte Ladung an Ideen um eine vertrocknete Nelke endlich aus dem Fenster zu befördern.

Mit dem Schluss habe ich Mühe. Vielleicht erklärst Du das noch ...

Ich wünsche Dir einen schönen Tag!
Schakim
 



 
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