Alter Ego

Raniero

Textablader
Alter Ego

Das war ihm bisher noch nie widerfahren, dem leidenschaftlichen Opernliebhaber und hauptberuflichen Journalisten.
Alle großen Häuser des Erdkreises, ob die Metropolitan in New York, die Scala in Mailand oder die Phönice in Venedig, um nur einige der ersten Adressen zu nennen, hatte Clemens Herchenröder bereits zwar nicht besungen, aber besucht, und viele dieser Tempel vokalen Hochgenusses sogar mehr als einmal. Zuweilen funktionierte es mit der Kartenreservierung im Vorfeld nicht immer auf Anhieb, trotz des Presseausweises, den er stolzen Hauptes vorwies, aber irgendwie hatte es dann doch zum guten Schluss stets geklappt, fast ...
Clemens hatte sich eine Karte vormerken lassen, auf seinen Namen, an keiner geringeren Stätte als der Wiener Oper, einem Haus mit großer Tradition und gleichgroßem Bewusstsein, und eine beziehungsreiche Oper stand, auf dem Programm: ‚La forza del destino, die Macht des Schicksals‘ von Giuseppe Verdi.
Gemäß einer alten Gewohnheit traf der Journalist erst kurz vor Beginn der Aufführung ein, schließlich verfügte er ja über eine vorbestellte Platzkarte im Parkett, nicht irgendeinen Platz in einer Halunkenloge oder gar einen Stehplatz hinter einer Säule.
Wenn es um seine Passion ging, wurden keine Kosten gescheut, schließlich gönnte man sich ja sonst auch etwas im Leben, warum sollte man dann hierbei hintenanstehen.
In nonchalanter Art bewegte sich Herchenröder auf die entsprechende Kasse zu, aber als er dort vorstellig wurde und nach seiner Karte fragte, erlebte er eine böse Überraschung.
„Tut mir leid, mein Herr, Ihre Karte ist bereits abgeholt worden, vor einer Viertelstunde“, beschied ihm die Dame im freundlichen aber bestimmten Tonfall.
„Aber das kann gar nicht möglich sein, gnädige Frau, ich bitte Sie“, entrüstete sich der Opernfreund, „das war eine Vorbestellung auf meinen Namen, Clemens Herchenröder. Wer soll sie denn abgeholt haben, meine Gnädigste?“
„Sie selbst, mein Herr“, antwortete die Gnädigste, in leicht ungnädigem Ton,
„da erinnere ich mich genau; ich habe sie Ihnen doch vorhin ausgehändigt, können Sie sich denn nicht mehr daran erinnern?“
Herchenröder konnte sich keinesfalls daran erinnern, und er brachte seinen Unmut darüber nun ein wenig lauter zum Ausdruck.
„Wie bitte? Was sagen Sie denn da? Ich bin gerade erst eingetroffen, wie können Sie mir dann, frage ich Sie, die Karte vorhin ausgehändigt haben?“
Einige Besucher im Foyer wurden aufmerksam.
Die Dame an der Kasse blieb kühl.,
„Glauben Sie mir, es ist so, wie ich es sage. Soweit ich mich erinnern kann, haben Sie selbst vor wenigen Minuten Ihre Karte von mir bekommen, und sind anschließend hineingegangen, ins Parkett. Es tut mir leid, aber nach meinem Kenntnisstand sitzen Sie drin und somit ist für mich damit die ganze Angelegenheit erledigt“.
Die ganze Angelegenheit drohte zum Eklat heranzuwachsen.





Clemens Herchenröder holte tief Luft, bevor er sich Luft machte.
„Soso, Sie haben mich hineingehen sehen? Nach Ihrem Kenntnisstand also, meine Gnääädigste“, betonte er gefährlich lang anhaltend, „sitze ich also im Parkett? Dann lassen Sie uns doch prüfen, durch gemeinsame Inaugenscheinnahme, ob wir Ihren Kenntnisstand nicht aktualisieren können, indem wir vor Ort feststellen, ob ich schon drinsitze oder nicht. Kommen Sie, gehen wir hinein, vielleicht sitze ich tatsächlich schon auf meinem Platz in Reihe fünf und habe es nur noch nicht bemerkt, haha!“
Die Gnädigste ließ sich auch diesmal nicht aus der Ruhe bringen; offensichtlich war sie schon andere Verhaltensweisen gewohnt, während ihrer langjährigen Tätigkeit.
„Das können wir gern machen, aber dazu brauchen wir nicht hineinzugehen. Warten Sie mal einen Moment“.
Sie griff zum Telefon und bat ihre Kollegin im Parkett, festzustellen, ob der betreffende Platz schon belegt sei.
„Ja, Monika, was sagst du? Ist belegt? Platz sechzehn, Reihe fünf? Von einem Herrn? Kannst du mal feststellen, wie der Herr heißt?“
Den Journalisten beschlich ein ungutes Gefühl.
„Wie sagst du, heißt der Herr? Clemens Herchenröder? Na, also! Dankeschön, Monika.
Sehen Sie, es ist, wie ich es sagte, Herr Herchenröder; finden Sie sich doch einfach mit der Tatsache ab, dass Sie schon drin sitzen“.
Das wollte Clemens aber auf keinen Fall, sich mit dieser ‚Tatsache‘ abfinden. Allerdings konnte er einen anderen Fakt nicht in Frage stellen; es saß tatsächlich jemand drin, auf seinem vorbestellten Platz, der seinen Namen trug oder vorgab, diesen zu tragen, er selbst war es jedoch nicht.
Offensichtlich hatte sich jemand anderer auf seinem Platz breitgemacht.
Ein Doppelgänger?
„Das werden wir gleich haben, Madame“, rief er der Kassiererin zu und stürmte mit hochrotem Kopf zum Eingang.
„Da kommen Sie nicht rein, mein Herr“, rief ihm die Dame hinterher, „Sie haben ja keine Karte!“
Clemens stutzte und verlangsamte seine Schritte.
In der Tat, da musste er ihr recht geben, er hatte ja keine Karte, denn diese hielt ein Anderer in Händen; einer der sich genauso nannte, wie er und scheinbar eine große Ähnlichkeit mit ihm hatte, ein Fremder, der jetzt auf seinem Platz saß.
„Bitte“, flehte er die Dame an der Kasse an, mit den Tränen kämpfend, „lassen Sie mich Ihnen beweisen, dass ich der Richtige bin; der richtige Clemens Herchenröder. Hier ist mein Ausweis!“
„Ihr Ausweis nützt mir nichts, mein Herr“ entgegnete die Dame lapidar, „der drinnen hat meiner Kollegin auch seinen Ausweis gezeigt; er heißt tatsächlich Clemens Herchenröder. Es ist wohl auch Clemens Herchenröder“, fügte sie mit maliziösem Lächeln hinzu.
Der Journalist stand unmittelbar vor einem Nervenzusammenbruch.
„Aber wie, bitte“, flüsterte er kaum hörbar; „kann ich nur beweisen, dass ich der Richtige bin; ich, Clemens Herchenröder, der Opernliebhaber?“
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf.
„Halt, warten sie mal, ich hab’s. Bitten Sie doch mal Ihre Kollegin, der da drinnen möge ihr seinen Spitznamen nennen. Seinen nickname, wissen Sie?“
Die Kassiererin wusste, was ein nickname war, aber sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was damit bewiesen werden sollte. Aber was soll’s, dachte sie, diese Opernfreunde sind schon eine merkwürdige Spezies.
Erneut nahm griff sie zum Telefon.
„Monika, hier ist noch mal Ute. Frag mich jetzt nicht, warum, aber frag doch den Herrn Herchenröder einmal, ob er einen Spitznamen hat“.
Die Antwort folgte auf dem Fuße.
„Wie bitte, Monika? Er hat keinen? Er hat keinen“, gab sie dem vor Glück strahlenden Journalisten weiter,. „Ich weiß zwar noch immer nicht, was das soll“ bemerkte die Dame an der Kasse, „aber haben Sie denn einen, einen nickname?“
„Nick“, antwortete Clemens Herchenröder.
„Ja, was nun, haben Sie einen oder nicht?“
„Nick!“, antwortete Clemens Herchenröder ein zweites Mal.
„Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?“
Es dauerte eine kleine Weile, bis sie begriff, dass vor ihr ein Mann stand, der einen nickname namens Nick trug, und darüber hinaus auf diese Tatsache stolz zu sein schien.
Schließlich musste sie doch lachen.
„Und was wollen Sie damit beweisen, Nick?“ fragte sie vorsichtig
„Na, ja, bitten Sie doch noch mal ihre nette Kollegin da drinnen, sie möge einmal nachschauen, was auf der Rückseite der Platzkarte steht, die dieser Herr sich angeeignet hat, widerrechtlich“.
Als die Kassiererin die Antwort auf ihre entsprechende Frage von der netten Kollegin erhielt, bekam sie fast einen Lachkrampf.
„Da steht tatsächlich ‚Nick‘ drauf, hinten auf der Karte; so etwas habe ich ja noch nie gehört!“

Unmittelbar darauf wurde der Journalist und Opernliebhaber Clemens Herchenröder ins Parkett geleitet, von der Kassiererin persönlich; das Orchester intonierte dazu in Abänderung des Programms eine andere Musik von Verdi; den Triumphmarsch aus ‚Aida‘.
Verdi bleibt Verdi, dachte sich Clemens Herchenröder, als er seinen doch recht hart umkämpften Platz im Parkett einnahm, und er dankte dem Schöpfer im Himmel, dass er sich frühzeitig schon einen Spitznamen zugelegt hatte; ein Nickname, der ihm zwar nicht das Leben, aber immerhin doch letztlich einen ungestörten Operngenuss gerettet hatte.
Den falschen Herchenröder jedoch, diesen Mann ohne nickname, jagte man unter Buhrufen hinaus; hierbei wurde dieser ebenfalls vom Orchester mit einem Stück aus einer Verdioper begleitet; der Szene ‚A terra, e piangi!, aus Othello, was soviel bedeutet wie ‚Zu Boden, und weine!‘
Zu Boden ging er zwar nicht, aber den Tränen war er schon recht nahe.


Seit dieser Zeit erkundigt sich Clemens Herchenröder, der Journalist und Opernkenner, ein jedes Mal, wenn er ein Opernhaus aufsucht, zuvor an der Kasse, ob er nicht schon drinnen sitzt, im Parkett; man kann ja nie wissen.
 



 
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