Altrich, zwischen Wittlich und Cochem - ein Wochenende

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Über Sylvia muss ich mal was schreiben, aber nicht jetzt. Nur dass ich sie geliebt habe, das kann ich hier sagen, und dass wir ein Paar waren. Denn dadurch lernte ich, anlässlich eines Leichenschmauses, ihre Cousine Nancy kennen. Nancys Name wird eigentlich französisch ausgesprochen, da sie aus Luxemburg kommt. Sie hat aber einen Deutschen geheiratet. Manfred ist ein vierschrötiger Kerl mit roten, kurzen Haaren und Sommersprossen, er sieht immer aus, als sei er wütend. Dabei ist er nur laut und gesellig. Der Einfachheit halber kürzt Manfred den Namen seiner Frau ab und bellt sie augenrollend an: „NÄNZ!“

Sylvias Familie stand den beiden skeptisch gegenüber. Das sah man daran, dass noch nie jemand Nänz und Manfred zu Hause besucht hatte, in ihrem Heim auf diesem schönen Erdenrund, in Europa, dort in der Bundesrepublik Deutschland, dem Bundesland Rheinland-Pfalz, zwischen Trier und Koblenz, genauer zwischen Wittlich und Cochem: in Altrich.
Manfred dröhnte, wann immer es ging, jedem Anwesenden einzeln ins Ohr, dass er, der Anwesernde, unbedingt kommen müsse, das Haus sei so schön geworden, der Pool jetzt auch in Betrieb – stets wurde er mit faden Ausreden abgewimmelt. Irgendwann saß er Sylvia und mir gegenüber und beklagte sich, dass die Verwandtschaft wohl keine Lust habe, nach Altrich zu kommen. Da ich betrunken war, merkte ich nicht, wie Sylvia mir unter dem Tisch die Beine blutig trat, als ich sagte: „Ach, wir kommen gern mal, na klar. Manfred! Wir kommen gern!“
Noch bevor ich am nächsten Morgen nüchtern war, hatte Manfred angerufen und mit Sylvias Eltern alle Formalitäten geregelt. Wir würden in zwei Wochen kommen, da sei Dorffest, und das Altricher Dorffest, da kämen die Leute aus Wittlich und Cochem herbeigeeilt, das würde uns gefallen!

Zwei Wochen und viele Anrufe aus Altrich später fuhren wir über eine Straße aus Betonplatten, nachdem wir den Ort endlich gefunden hatten. Zilli-Billi-und-Willi-Häuser säumten den Weg, gestaltet in den Grenzen der Originalität, die die Fertigbauweise vorgibt. Ganz am Ende der Straße, bevor ein Feldweg begann, hing ein Zigarettenautomat an einer Stange. Wir hielten vor dem einzigen Haus, das aus richtigen Steinen bestand. Dort wohnten Nancy und Manfred. Auf unser Klingeln öffnete niemand, also gingen wir in den Garten, wo die beiden glücklich vor einem Swimming Pool aus Gummi standen. Freudig begrüßten sie uns, und als wir die wichtigsten Daten des Pools kannten, hieß es endlich: „Alex, Bier?! -- Nänz!“ Da konnte ich nicht nein sagen. Also, ich konnte es wirklich nicht, denn anders als mit Bier ließ sich die Vorstellung, hier ein Wochenende zu verbringen, nicht ertragen. Uns wurden zwei Hunde vorgestellt, ein kleiner schwarzer, der aussah wie eine Katze, und ein großer schmutziger, vor dem ich gleich Angst bekam, denn ich habe eine Hundephobie. Die seien beide ganz jung, erklärte Manfred in unnötiger Lautstärke, und noch nicht völlig stubenrein, aber das lernten sie ja bald.

In der Küche erzählte uns Manfred, dass er sich hier so ein bisschen als Helfer für die Jugendlichen sehe, die kämen ja sonst nie auf einen grünen Zweig, hohe Arbeitslosigkeit, viele Kriminelle und so weiter. Einer, der Jörg, habe schon mal jemanden ermordet. Er, Manfred, trete die Knechte häufiger mal in den Arsch, besorge ihnen Arbeitsstellen und Kleidung. Was ja sehr schön ist.
Geplant war, dass wir jetzt gleich mal auf einen Sprung zu den Nachbarn gingen, da säßen ein paar von den Jungs im Garten, die hätten Manfred und Nänz eingeladen zum Grillen. Es habe im Globus Rippchen im Sonderangebot gegeben, und die 10 Kilo, die vor einer Woche gekauft wurden, müssten weg. Danach dann alle aufs Dorffest.
Der Garten war ein verwilderter Hinterhof. Das Haus gehörte einem Mann, der, so Manfred, früher im Stahlwerk gearbeitet hat. Dort ist er eines Tages in 3000 Grad heißen Stahl gefallen. Und hat überlebt, freilich ohne noch Finger oder Zehen zu haben, auch von der Haut – nichts mehr übrig. Der Mann habe angefangen zu trinken, bis alles Geld und auch das Auto weg waren, und nun sitze er nur noch zu Hause und saufe, alles sei verschimmelt in dem Haus, alles stinke wie die Pest. Im Hinterhof hockten 3 junge Menschen an einem Holztisch. Es waren Jörg der Mörder (ein Mörder: lange schwarze Haare, Tattoos, Muskelshirt), ein kahlköpfiger 17jähriger und der Sohn des Hausbesitzers. In der glühenden Sonne stand ein Tapeziertisch, darauf lag ein Übelkeit erregender Berg Rippchen. Eine Regentonne, die mir bis zur Brust reichte, enthielt ein Netz, darin schwammen Mixery-Dosen. Ich hasse Biermixgetränke, besonders wenn zwei so schöne Sachen wie Bier und Cola sich vermischen, wodurch beide dramatisch verlieren. Aber da es nichts anderes gab, nahm auch ich so eine lauwarmes Dose und hörte angespannt der aus einem alten Kassettenrekorder kreischenden Musik zu, den Klassikern der Böhsen Onkelz. Verstohlen blickte ich ab und zu an dem Haus hoch. Einmal schien es mir, als würde der Vorhang leicht zur Seite geschoben, von einer verstümmelten Hand. Geredet wurde über Hitler und Auschwitz, über Juden und Ausländer, die Autobahn. Wir aßen Rippchen, tranken warmes Mixery. Der kahle 17jährige hatte noch das Problem, dass er keine Stiefel mehr besaß, die letzten seien verschwunden, andere Schuhe habe er nicht. Manfred versprach Abhilfe und ermahnte die Jungs, nicht zu vergessen, dass sie sich am Montag auf einem Hof zur Arbeit melden sollten. „Die verpennen das doch meist“, sagte er mir später. „Und wenn sie mal was anfangen, isses nach einer Woche wieder rum“, wegen Prügeleien und Suff.

Der Nachmittag war vorbei, und man merkte allen die freudige Nervosität an – gleich geht’s los aufs Dorffest! Mir war alles egal, Sylvia war die ganze Zeit stumm. Ihr anfangs höfliches Lächeln war einer undurchsichtigen Miene gewichen.
Altrich Zentrum empfing uns (die Jungs waren unabhängig von uns dorthin gegangen) mit lauter Musik, Autoscooter und ähnlichen Spielen, Würstchenständen. Viele Menschen drängten sich durch die aromatischen Schwaden. Zwei riesige Zelte bestimmten die Szene, aus beiden drang Schlagermusik. In einem der Zelte gab es nur Wein. Wir gingen in das andere. Dort gab es zwei Bitburger-Stände und zahllose, lange Holzbänke. Das Licht spiegelte sich in Bierlachen. Auf den Bänken sprangen Minderjährige herum, die die Songs von Wolfgang Petry mitjohlten. Bier gab es nicht direkt, man musste sich zuerst Chips kaufen. Elf Chips entsprachen einer sogenannten Stange, man bekam dann eine Art Donnerbalken mit 11 eingestanzten Löchern, in denen die Plastikbecher standen. So eine Stange wollte ich, also stellte ich mich an der kleinen Chipsbude an und sah tröstend zu meiner Freundin hinüber, die weiterhin keinen Gesichtsmuskel bewegte. Als ich endlich dran war, staunte ich etwas, denn obwohl viele Leute sich um Bier anstellten, verkaufte nur eine von zwei dicken Frauen die Chips. Im hinteren Bereich der Bude saß die andere. Sie hatte unordentliches Haar und ein fett glänzendes Gesicht. Die Hände hatte sie im Schoß, über einer blau gepunkteten Schürze gefaltet. Ihre hellen Augen waren auf einen unbestimmten Punkt in der Kuppel des Zeltes gerichtet, eine Insel der Träume in dieser lauten, feuchten, stinkenden Halle. Sagte ich Halle? Hölle, meinte ich. Während ich meine Chips in Empfang nahm, sah ich gebannt auf diese friedliche runde Frau. Plötzlich, ganz unversehens, bebte ihr Körper ein klein wenig, bliesen sich ihre Wangen ein bisschen auf; und langsam, ohne aus ihrem Traum zu erwachen, ließ sie die Luft aus dem Mund entweichen, mit einem kleinen Geräusch, dass ich mehr sah als hörte.

Bratwurst und Wolfgang Petry, Mädchen, die sich auf verbraucht geschminkt hatten, kurzgeschorene Jungen, denen sie Blicke zuwarfen, mit diesem Schauspiel verbrachte ich meine elf Bier. Jemand hatte, wohl zur Deeskalation, dieses Bier stark verwässert, so dass ich noch völlig nüchtern war, als meine Stange sich dem Ende zuneigte. Wir saßen mit Nancy an einem Tisch vor dem Zelt, als Manfred ausser Atem zu uns kam. „Scheiße, Massenschlägerei, der Jörg ist dabei! Die sind in den Wald geflüchtet, wir müssen hinterher! Wenn die da Feuer machen, brennt uns hier alles ab!“ Trotz der Aufregung wirkte sein Geschrei routiniert. Blitzartig befanden wir uns in Manfreds weißem Fiesta und rasten über einige Straßen auf einen Feldweg zu und schließlich in den nahen Wald. „Dort! Feuer! Ein Licht!“, riefen wir immer wieder, doch wenn wir in die Richtung des Lichtes fuhren, war es schon wieder weg. Es muss ein, zwei Stunden gedauert haben, jedenfalls war es etwa drei Uhr, als Manfred die Suche aufgab. Er hatte jetzt auch keine Lust mehr auf das Fest, na, und uns war das nur Recht. Erschöpft machten wir uns auf den Heimweg, ich musste auch dringend aufs Klo.
Dass ich da nicht der einzige war, merkte ich, als ich den Hausflur betrat, denn beide Hunde hatten auf den Teppich geschissen. Ein wenig fassungslos gingen wir hoch in unser Gästezimmer. Das Bett war noch warm von dem großen Hund, der bis eben darin gelegen hatte.

Am Sonntag waren Sylvia und ich früh wach, unsere Gastgeber auch. Manfred würde heute damit zu tun haben, nach den Jungs zu gucken, und so war es im Sinne aller, dass wir nach einem kleinen Frühstück bald aufbrechen würden. Geredet wurde nicht viel. Als Manfred bemerkte, dass in seinem Ei zwischen all dem Denaturierten ein totes Küken steckte, musste er sich erbrechen gehen.
 



 
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