Am Aussichtspunkt

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Kölle

Mitglied
Am Aussichtspunkt

Die letzten Meter des Aufstiegs waren beschwerlich, vor allem wegen ihrem Kind, das die Strapazen nicht mehr ertragen wollte und am Schluss quälend oft nörgelte und schimpfte. Das kostete die Mutter, die ihre Tochter mehr oder weniger vor sich hertrieb, viel Nerven, während der Mann - ein paar Meter voraus - die beiden zu einer gewissen Eile hinter sich her zog.

Endlich erreichten die drei den lang ersehnten Aussichtspunkt und legten eine Pause ein. Sie setzten sich auf eine freie Bank, holten den Vesper aus ihren Rucksäcken und aßen - in der Erschöpfung wortkarg - die belegten Brote und zurechtgeschnittene Apfelschnitze; sie tranken. Als die Kräfte zurückkamen, bestätigten sie einander, was für einen wundervollen weiten Blick man heute ins Land hatte. Die Mutter fragte ihre Tochter, ob sie das auch so erlebe. Das Kind nickte.
Als Hunger und Durst gestillt waren, packten sie die Frischhaltedosen und Getränkeflaschen in die Rucksäcke zurück. Der Mann schnürte noch einmal seine Wanderschuhe fester, stellte sich vor den Abhang und lehnte sich an die Brüstung. Er genoss den weiten Blick ins Landesinnere, identifizierte die Städtchen und Dörfer, die er kannte. In der Ferne küssten sich Himmel und Erde hinter einem blassblauen Schleier.
Dieser weite freie Blick: ja, das war er! Über den Dingen stehen, sich nicht im Detail verlieren. Das war er. Dieser Blick war wie ein Lebensgefühl, das er Atemzug um Atemzug genoss, bis er - leicht verzögert - die Worte seiner Frau wahrnahm: “Im Gegensatz zu mir packst du nur deine Sachen ein, während ich mich auch um unserer Tochter kümmere.”
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete: “Das hört sich wie ein Vorwurf an?!”
Sie sagte: “Ich beobachte nur, was offensichtlich ist!”
Er drehte sich um, zeigte mit einer Hand erst auf sie und dann auf sich und sagte: “Aber du vergleichst mich doch mit dir. Du willst mir sagen, wie toll du alles machst!”
“Nein. Ich beobachte nur, was offensichtlich ist! Nicht mehr und nicht weniger.”
Mit versteinerter Miene drehte er sich zurück zum Abhang, der nun steiler wirkte. Wie oft hatte er genau das in den verschiedensten Variationen gehört?! Tatsächlich kam es ihm nie in den Sinn, sich um seine Tochter so zu kümmern, wie seine Frau es tat. Das Schlimmste daran aber war, dass er hatte keinen blassen Schimmer hatte, wie er dieses Fürsorgebedürfnis in sich wachrufen könnte. Wie er es aus seinen seelischen Tiefen bergen könnte. Er fühlte Ohnmacht, und spürte, wie er sich aus dieser Ohnmacht heraus selbst verurteilte: Du bist ein schlechter Vater!
Sein Lebensgefühl, eher unnahbar über den Dingen zu schweben, rutschte quasi den Abhang hinter. Um seine Verstimmung nicht zu zeigen, fragte er, der Familie halb zu- und halb abgewandt: “Fertig?!” und machte sich, ohne eine Antwort aufzuwarten, zum Abstieg bereit. Und es quälte ihn der Gedanken, dass er seine Kränkung nicht wirklich vor seiner Familie verbergen konnte.
 

Nosie

Mitglied
Lieber Kölle,
Auch deine Geschichte gefällt mir sehr. Wie gut kenne ich dieses Gefühl, wenn man selber gerade ein Hoch erlebt, der Partner aber gerade im Frust schwimmt und das auch zum Ausdruck bringt. Die Stelle, wo der Abhang nach der Kränkung auf einmal steiler ist, gefällt mir besonders.

Eins hab ich in meinem fotgeschrittenen Leben gelernt. Es geht dem Partner oft genug ebenso wie einem selber. Übereinstimmung ist nur begrenzt zu haben. Und Schuldgefühle erzeugen ist eine beliebte Waffe in Partnerschaften, die Frauen (bin selber eine) ganz besonders gut beherrschen.

Liebe Grüße
Nosie
 

Kölle

Mitglied
Am Aussichtspunkt

Die letzten Meter des Aufstiegs waren beschwerlich, vor allem wegen ihrem Kind, das die Strapazen nicht mehr ertragen wollte und am Schluss quälend oft nörgelte und schimpfte. Das kostete die Mutter, die ihre Tochter mehr oder weniger vor sich hertrieb, viel Nerven, während der Mann - ein paar Meter voraus - die beiden zu einer gewissen Eile hinter sich her zog.

Endlich erreichten die drei den lang ersehnten Aussichtspunkt und legten eine Pause ein. Sie setzten sich auf eine freie Bank, holten den Vesper aus ihren Rucksäcken und aßen - in der Erschöpfung wortkarg - die belegten Brote und zurechtgeschnittene Apfelschnitze; sie tranken. Als die Kräfte zurückkamen, bestätigten sie einander, was für einen wundervollen weiten Blick man heute ins Land hatte. Die Mutter fragte ihre Tochter, ob sie das auch so erlebe. Das Kind nickte.
Als Hunger und Durst gestillt waren, packten sie die Frischhaltedosen und Getränkeflaschen in die Rucksäcke zurück. Der Mann schnürte noch einmal seine Wanderschuhe fester, stellte sich vor den Abhang und lehnte sich an die Brüstung. Er genoss den weiten Blick ins Landesinnere, identifizierte die Städtchen und Dörfer, die er kannte. In der Ferne küssten sich Himmel und Erde hinter einem blassblauen Schleier.
Dieser weite freie Blick: ja, das war er! Über den Dingen stehen, sich nicht im Detail verlieren. Das war er. Dieser Blick war wie ein Lebensgefühl, das er Atemzug um Atemzug genoss, bis er - leicht verzögert - die Worte seiner Frau wahrnahm: “Im Gegensatz zu mir packst du nur deine Sachen ein, während ich mich auch um unserer Tochter kümmere.”
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete: “Das hört sich wie ein Vorwurf an?!”
Sie sagte: “Ich beobachte nur, was offensichtlich ist!”
Er drehte sich um, zeigte mit einer Hand erst auf sie und dann auf sich selbst und sagte: “Aber du vergleichst mich doch mit dir. Du willst mir sagen, wie toll du alles machst!”
“Nein. Ich beobachte nur, was offensichtlich ist! Nicht mehr und nicht weniger.”
Mit versteinerter Miene drehte er sich zurück zum Abhang, der nun steiler wirkte. Wie oft hatte er genau das in den verschiedensten Variationen gehört?! Tatsächlich kam es ihm nie in den Sinn, sich um seine Tochter so zu kümmern, wie seine Frau es tat. Das Schlimmste daran aber war, dass er keine Vorstellung entwickeln konnte, wie er dieses Fürsorgebedürfnis in sich wachrufen könnte; wie er es aus seinen seelischen Tiefen bergen könnte. Er fühlte Ohnmacht, und spürte, wie er sich aus dieser Ohnmacht heraus selbst verurteilte: Du bist ein schlechter Vater!
Sein Lebensgefühl, eher unnahbar über den Dingen zu schweben, rutschte quasi den Abhang hinter. Um seine Verstimmung nicht zu zeigen, fragte er, der Familie halb zu- und halb abgewandt: “Fertig?!” und machte sich, ohne eine Antwort aufzuwarten, zum Abstieg bereit. Und es quälte ihn der Gedanke, dass er seine Kränkung nicht wirklich vor seiner Familie verbergen konnte.
 

Kölle

Mitglied
Liebe Nosie,

ich freue mich, dass du in dem Text etwas gefunden hast, was auch mit dir zu tun hat. "Schuldgefühle erzeugen" war nicht mein Thema, aber ich kann mir gut vorstellen, dass man/frau das herauslesen kann. Oder war es vielleicht doch mein Thema?!?

Danke für dein Feedback.

Lg Kölle
 

Kölle

Mitglied
Am Aussichtspunkt

Die letzten Meter des Aufstiegs waren beschwerlich, vor allem wegen ihrem Kind, das die Strapazen nicht mehr ertragen wollte und am Schluss quälend oft nörgelte und schimpfte. Das kostete die Mutter, die ihre Tochter mehr oder weniger vor sich hertrieb, viel Nerven, während der Mann - ein paar Meter voraus - die beiden zu einer gewissen Eile hinter sich her zog.

Endlich erreichten die drei den lang ersehnten Aussichtspunkt und legten eine Pause ein. Sie setzten sich auf eine freie Bank, holten den Vesper aus ihren Rucksäcken und aßen - in der Erschöpfung wortkarg - die belegten Brote und zurechtgeschnittene Apfelschnitze; sie tranken. Als die Kräfte zurückkamen, bestätigten sie einander, was für einen wundervollen weiten Blick man heute ins Land hatte. Die Mutter fragte ihre Tochter, ob sie das auch so erlebe. Das Kind nickte.
Als Hunger und Durst gestillt waren, packten sie die Frischhaltedosen und Getränkeflaschen in die Rucksäcke zurück. Der Mann schnürte noch einmal seine Wanderschuhe fester, stellte sich vor den Abhang und lehnte sich an die Brüstung. Er genoss den weiten Blick ins Landesinnere, identifizierte die Städtchen und Dörfer, die er kannte. In der Ferne küssten sich Himmel und Erde hinter einem blassblauen Schleier.
Dieser weite freie Blick: ja, das war er! Über den Dingen stehen, sich nicht im Detail verlieren. Das war er. Dieser Blick war wie ein Lebensgefühl, das er Atemzug um Atemzug genoss, bis er über die Worte seiner Frau erschrak: “Im Gegensatz zu mir packst du nur deine Sachen ein, während ich mich auch um unserer Tochter kümmere.”
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete: “Das hört sich wie ein Vorwurf an?!”
Sie sagte: “Ich beobachte nur, was offensichtlich ist!”
Er drehte sich um, zeigte mit einer Hand erst auf sie und dann auf sich selbst und sagte: “Aber du vergleichst mich doch mit dir. Du willst mir sagen, wie toll du alles machst!”
“Nein. Ich beobachte nur, was offensichtlich ist! Nicht mehr und nicht weniger.”
Mit versteinerter Miene drehte er sich zurück zum Abhang, der nun steiler wirkte. Wie oft hatte er genau das in den verschiedensten Variationen gehört?! Tatsächlich kam es ihm nie in den Sinn, sich um seine Tochter so zu kümmern, wie seine Frau es tat. Das Schlimmste daran aber war, dass er keine Vorstellung entwickeln konnte, wie er dieses Fürsorgebedürfnis in sich wachrufen könnte; wie er es aus seinen seelischen Tiefen bergen könnte. Er fühlte Ohnmacht, und spürte, wie er sich aus dieser Ohnmacht heraus selbst verurteilte: Du bist ein schlechter Vater!
Sein Lebensgefühl, eher unnahbar über den Dingen zu schweben, rutschte quasi den Abhang hinter. Um seine Verstimmung nicht zu zeigen, fragte er, der Familie halb zu- und halb abgewandt: “Fertig?!” und machte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, zum Abstieg bereit. Und es quälte ihn der Gedanke, dass er seine Kränkung nicht wirklich vor seiner Familie verbergen konnte.
 



 
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