Am Ende der Welt

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tinta

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Warnung! Diese Erzählung ist etwas länger ausgefallen. Aber es lohnt sich! Ich freue mich über jeden Kommentar. Ehrlich! Liebe Grüße, Tinta
........ :)

Eigentlich heiße ich Carlotta. Und ich mag es gar nicht, wenn Cynthia mich „Kalli“ nennt. Da denkt doch jeder gleich an einen fettwanstigen Fernfahrer im rotbeige kariertem Hemd! Ich habe es meiner Schwester nie ganz austreiben können. Immer, wenn etwas Hochdramatisches passiert ist, wenn ihr der Nagellack in der Handtasche ausgelaufen ist oder wenn sie mich halbnackt, nur mit einem Frottier-Bademantel bekleidet vom Nachbarn aus anruft, weil sie sich aus ihrer Wohnung ausgesperrt hat – das waren die Müllmänner schuld, nur die Müllmänner - dann nennt sie mich „Kalli“. Gerade eben war wieder so ein Fall. Mein Handy klingelte und kaum dass ich abhob, ertönte sirenenhaft, laut und vernehmlich, so dass es wirklich jeder in dem Frisörsalon hörte: „Kalliiii! Ich muß Dir etwas erzählen...“ Wie peinlich. Ich verkroch mich mit meinem Handy, das Handtuch auf dem Kopf, ohne viel Federlesens im Damenklo. Was dann kam, ließ mich meinen unliebsamen Spitznamen schnell vergessen. Ich meine, wann passiert es schon einmal, dass die eigene Schwester auf einer Incentivereise in der Türkei ist und dort beim Muschelessen eine interessante Entdeckung macht?

„Cynthia, kreisch doch nicht so in den Hörer! Ich verstehe Dich ja kaum. Nun fang bitte noch mal von vorne an.“
Cynthia schnappt nach Luft. „Ich war heute mittag in einem Restaurant. Zum Muschelessen. Und dann beiß ich plötzlich auf etwas Hartes. Eine Unverschämtheit! Ein sündhaft teures Restaurant und die machen die Muscheln noch nicht mal or-dentlich sauber. Ich nehme also das Teil aus dem Mund, um
es dem Ober um die Ohren zu werfen. Und was glaubst
Du, was es war?“
„Ein Ehering?“ Könnte ja sein, dass die Muschel diebisch war.
„Was soll ich denn damit? Eine Perle, Kalli. Eine Perle!“ Huhu, denke ich, andere Leute tauchen danach.
„Und da wußte ich es.“
„Was?“
„Das dies mein Glückstag ist.“
Das leuchtet ein. „Und? Ist es Dein Glückstag?“
„Wart’s ab! Heute abend fand eine Verlosung statt. Das Reisebüro, wo mein Chef auch diese Incentivereise gebucht hatte, war äußerst großzügig. Zu verlosen hatten sie einen Flug nach Manhattan, einen nach London und eine Kreuzfahrt in die Karibik. Ich zog also ein Los und polierte meine Perle.“
„Du poliertest Deine Perle?“
„Na klar, ich hab‘ sie feste gerubbelt wie ein Glückslos. Und jetzt kommt’s: Rate mal, wer den Hauptpreis gewonnen hat?“
„Nein!“
„Doch!“
„Nein! Du hast den Hauptpreis gewonnen? Eine Kreuzfahrt in die Karibik?“
„Für zwei Personen. Jawohl. Und jetzt rate mal, wen ich mit-nehme?“
„Nein!“
„Doch!“
„Neiiiin! Ich fasse es nicht!“
„Süße, wirf alle Diäten über Bord. Falls Dir nichts mehr
paßt, in der Karibik gibt es Hullahuppröckchen!“

Was dann kam, weiß ich nicht mehr so genau. Jedenfalls stand plötzlich der Frisör (ein Mann!) in der Damentoilette und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Vielleicht habe ich gekreischt. Eventuell auch einen Hüpfkreiseltanz vollführt. Vermutlich auch ein paar Mal an die Tür getrommelt bei meinem Rapsong. Jedenfalls lag das Handtuch auf dem Boden, ich rauchte mit zitternden Händen eine Zigarette und verlangte gebieterisch nach Champagner.

„Welcome to Miami Airport!“ Cynthias Koffer kommt sofort. Wo bleibt meiner? Wir warten und warten. Die Leute reißen ihre Gepäckstücke vom Band. Na bravo! Mein Koffer wurde geklaut. Das fängt ja gut an.
„Sieh mal. Dieses gräßliche Teil da vorne. Ist das nicht Dein Koffer?“
Tatsächlich. Ganz allein steht er da auf seinen Röllchen, genau zwischen den Gepäckbändern und wartet auf mich. Erleichtert schlinge ich meine Arme um ihn.
„Hach! Ich hätte wenigstens einen Adressaufkleber dran machen können. Jetzt muß ich ihn öffnen und nachsehen, ob es auch mein Koffer ist.“
„Unsinn! Wer außer Dir sollte sonst so einen häßlichen Koffer haben?“ Hm. Schön ist er wirklich nicht. Dunkelblau mit lila Ecken und pinkfarbenen Rollen. Außer mir läuft keiner mit solch einem Koffer herum. Ich zerre ihn also hinter mir her.

Verdammt schwer, so ein Koffer. Kein Wunder bei den Kleidervorschriften auf einem Kreuzschiff. In dem Prospekt war die Rede von Cocktailkleidern zum Captains Dinner, von Kostümen bei halboffiziellen Abenden und „legèrer Sommerkleidung“ bei den „casuals“. Da muß man für jeden Fall gerüstet sein, ist doch klar. Pumps, Federboa, Glitzerhandtäschchen, Pareos für das Sonnendeck. Da kommen schnell 34 Kilos zusammen. Jedenfalls bin ich froh, als unser Taxifahrer unser Gepäck im Kofferraum verstaut. Unser Driver ist ganz nett und fährt schnittig, die Fahrt vergeht rasend schnell. Plötzlich sind da diese Schiffe. Riesig groß. Unglaublich. Das letzte in der Reihe überragt seine Vordermänner um einiges. Es ist die „Voyager of the Seas“. Unser Schiff.
„Gute Güte“, hauche ich und nehme meine Sonnenbrille ab.
„Oh! You’ve got blue eyes“, ruft der Taxifahrer entzückt.
„Ich kotz gleich!“ antworte ich und hechte aus dem Taxi raus. Natürlich habe ich schon Kreuzfahrtschiffe gesehen, ich meine, jeder kennt schließlich das „Traumschiff“, oder? Aber noch nie, noch nie in meinem ganzen Leben, habe ich vor einem derartigen Koloß gestanden. Selbst Cynthia ist sprachlos.

„To the ship!“ steht auf weißen Schildern. Sie weisen uns den Weg in eine Halle, wo wir mit „Ma’am“ angesprochen werden und eine „Bluecard“ verpaßt bekommen. Fürs bargeldlose Zahlen und für unser Kabine. Dann besteigen wir einen Aufzug. Auf dem Teppich steht, dass heute Sonntag ist. Ob die den Teppich jeden Tag wechseln? Für diesen Fall nehme ich mir vor, sämtliche Teppiche als Souvenir mitgehen zu lassen. Alles ist perfekt organisiert, ruckzuck werden wir zu unserem Zimmer geleitet. Von Verena, das ist unsere „Cabin Assistant“.

„Hast Du gehört? Ein Zimmermädchen für uns ganz allein!“
„Na, die wird viel zu tun bekommen“ kichert Cynthia.
Die Kabine ist gemütlich. Am besten gefällt mir das Bullauge zwischen den beiden Betten. Ein kleines Sofa, ein Glastisch, eine Minibar...
„Ist das nicht ein Traum?“ haucht Cynthia.
„Kneif mich! Oder nein, kneif mich besser nicht, das gibt bloß blaue Flecken. Laß uns lieber gleich die Koffer auspacken.“
„Okay. Viel Zeit haben wir nicht. In einer Stunde müssen wir zur Rettungsübung in dem Speisesaal.“
1407. Das ist mein Code. Das weiß ich genau, ist schließlich mein Geburtstag. Ich drehe an den Rädchen und drücke auf den lila Knopf. Doch mein Koffer, das Biest, läßt sich nicht öffnen. Verdammt warm hier. Cynthia räumt bereits den Kleiderschrank ein. Hoffentlich läßt sie mir noch Platz in dem Schrank.
„Der blöde Koffer geht nicht auf!“
„Gottchen! Er ist nicht nur häßlich, er klemmt auch noch!“
„Cynthia! Das ist nicht witzig. Er geht nicht auf!“
„Laß mich mal. Welchen Code hast Du?“
„1407.“
Sie nestelt an dem Schloß herum. Und ist genauso erfolglos wie ich.
„Vielleicht hast Du ja gar keinen Code eingerichtet. Mache
ich auch nie. Warte mal...“ Sie dreht alle Rädchen auf Null
und siehe da – der Deckel springt auf. Dem Himmel sei Dank!

„Kalliiii! Was hast Du denn für Sachen mitgenommen?“
„Wieso?“
Oben auf liegt ein beiger Pullover mit einem blauen Streifen vorne. Gestrickt. Olivgrüne Shorts. Birkenstocks.
„Körnerfresserklamotten!“ Ich greife wahllos hinein, schreie „NEIIIN!“ und pfeffere eine Herrenunterhose durch die Luft. Sie trifft das Bullauge und fällt schlapp hinunter. Auf dem Hosenlatz ist ein Smiley. Frech grinst es mich an. Oh nein! Hätte ich nur nie auf meine Schwester gehört!

„Das ist nicht mein Koffer“, japse ich.
„Das sehe ich auch.“
Gute Güte! Was mache ich denn jetzt bloß? Was soll ich nur tun? Auf einem Kreuzschiff. Mit Kleiderordnung. Und ich habe noch nicht mal Unterwäsche dabei! Geschweige denn Nagellack!
„Jetzt gehen wir erst mal zur Rettungsübung und danach den-ken wir in Ruhe nach“, bestimmt Cynthia und weil ich sonst nichts Besseres weiß, machen wir das auch.

Gleich nach der Rettungsübung haben wir uns zielstrebig zur Cocktailbar begeben. Nach dem dritten Glas geht es mir bedeutend besser.
„Die hamm hier best‘mt ‚ne Shoppingmeile.“
„Meinsse?“
„Hömal, ts größte Kreuzschiff vonner Welt. Ham die doch gesach! Da wer‘n se ja wohl auch G‘schäfte hier ham.“
„Stimmt. Wofür habbich denn ‚ne bluecard?“
Das Skyline von Miami rückt immer weiter weg, die Sonne plumpst gerade ins Meer, als Cynthia und ich die erste Boutique betreten. Es folgen acht weitere Geschäfte. Sie sehen wunderschön aus, die Kleider und Hosen. Sie haben nur einen Haken. Die Preise machen mich wieder nüchtern.

„Das krieg’n wir schonn hin. Nimmse einfach ‚n bißchen ab. Dann passen Dir mein‘ Kl‘motten wie ang‘gossen.“
Unser erstes Dinner an Bord verpassen wir, allerdings nicht wegen meiner Diätpläne, sondern weil wir unseren Rausch ausschlafen. Kurz vor Mitternacht wollen wir zum Deck 14,
das ist das Sonnendeck. Den Aufzug können wir nicht nehmen, denn in Cynthias Kleid sieht man meinen Bauch. Von jetzt an werden sämtliche Treppen genommen. Bei Deck 5 fällt mir etwas ein. In irgend einem Prospekt über die „Voyager of the Seas“ habe ich gelesen, dass hier täglich 24000 Gerichte für die rund 6000 Menschen an Bord zubereitet werden. 24000 Mahlzeiten am Tag! Köstlichkeiten rund um die Uhr. Wie soll man dabei abnehmen?
„Laß uns doch lieber den Lift nehmen. Außerdem will ich wissen, ob die bereits den Teppich gewechselt haben.“
Sie haben. Der Teppich unter unseren Füßen informiert uns, dass ein neuer Tag beginnt.

Eine sternenklare Nacht, zwei Diven auf Sonnenliegen, über uns Sirius, Orion und Beteigeuze, der große und der kleine Wagen und... „Da! Eine Sternschnuppe!“
„Wünsch‘ Dir schnell was, Cynthia!“
Stille. Das Meer, Cynthia und ich. „Und? Hast Du?“
„Hm.“
„Wie sieht er aus?“
„Groß. Dunkelhaarig. Braune Augen. Einer von der Sorte, wie man sie hier garantiert nicht trifft. Eher der Abenteuer-Mann.“
„Camel oder Marlboro?“
„Camel natürlich. Was soll ich mit einem Westernheld?“
„Weiter.“
„Er sieht mich an. Lange. Dann nimmt er meine Hand und haucht: So lange habe ich auf Dich gewartet. Mit Dir will ich bis ans Ende der Welt...“
„Ha! Wo hast Du das denn her? Bestimmt aus einem Roman
von Barbara Cartland!“
„Kalli! Das habe ich mir selbst ausgedacht! Und überhaupt, Barbara Cartland ... ich weiß nicht mal, wer das ist!“
„Glaube ich Dir nicht. Mir ist kalt. Dir auch?“
„Hm.“
„Ich besorg‘ uns was Warmes. Bin gleich wieder da.“
Auf dem Weg zu unserer Kabine treffe ich Verena. Freundlich nicke ich ihr zu. Ich fühle mich bereits upperclassmäßig. Ein eigenes Zimmermädchen! Als ich unsere Kabine betrete und meinen Koffer durchwühle und zwei Baumwollpullis heraus-
ziehe, flattert mein Höhenrausch allerdings rasant schnell zum Bullauge heraus. Strickpullis zum Abendensemble. Glücklicherweise ist es dunkel. Lässig werfe ich sie mir über die Schulter, bis zur Cocktailbar muß ich halt noch frieren. Cynthia und ich hüllen uns in die Pullis und süffeln unsere Margheritas. „Geht’s uns gut!“ seufzt Cynthia.
„Das sieht man.“ Eine dunkle Stimme läßt uns hochfahren. Gleich an meiner Liege steht ein Mann. Sieht gut aus. Zumindest in der Dunkelheit. Er hat ein Pareo um die Hüften gebunden. Türkis mit Seesternen drauf.
„Das ist mein Pareo!“
„Oh! Und Du trägst meinen Pullover!“ Er schaut zu Cynthia und ruft: „Und Du auch! Ich vermute, Ihr habt meinen Koffer und ich Euren?“
„Gute Güte. Ja! Mein Koffer ist wieder da! Wunderbar! Stimmt. Ähm, ja. Bist Du auch sicher, dass es wirklich meiner ist? Ich meine, hast Du ihn überhaupt aufgekriegt? Aber klar, natürlich, Du trägst ja meinen Pareo. Entschuldige, mir fällt nur gerade ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. Bin nur etwas durcheinander, ja, das wird es sein“, stottere ich und dann fällt mir wieder ein, was ich noch sagen wollte: „Ich heiße übrigens Carlotta. Und das ist meine Schwester Cynthia.“
„Salut, Cynthia. Ich bin Jean-Jacques.“
„Salut“, haucht Cynthia.
„Bist Du Franzose?“ Himmel! Setzt jetzt ihr Denken aus?
„Oui! Ich lebe in Paris.“
„Paris!“ echot Cynthia und es hört sich an wie „Pariiiie“.
„Darf ich mich zu Euch setzen?“ Am liebsten würde ich ihn gleich in die Kabine jagen, meinen Koffer zu holen, aber die Höflichkeit verbietet das natürlich. Abgesehen davon steht meine Schwester neben sich. Sie bittet ihn zu sich auf die Liege. Eindeutig zu viele Margheritas.
„Wie hast Du ihn aufgekriegt?“
„Wen? Den Koffer?“ Ich nicke. Wie ein Körnerfresser sieht er nicht aus. Höchst dubios, das Ganze.
„1407. Das ist das Datum für jeden Franzosen!“
Spinnt der? „Wieso?“
„Französischer Nationalfeiertag, Sturm auf die Bastille“, spult Cynthia herunter und rückt näher an Jean-Jacques heran. „Ach so, natürlich, klar.“
„Bist Du ein echter Pariser?“ Ich muß mich schon sehr über
meine Schwester wundern. Was die alles wissen will!
Immerhin entspannt sich ein lebhafte Unterhaltung. Jean-Jacques beherrscht die Kunst des Erzählens recht gut. Er berichtet von Ferien bei seiner Oma in der Bretagne, wo er
als Kind seine Initialien in die Felsen ritzte. Und Krebse fing. Und wie seiner Tante Mathilde in Marseille auf dem Markt ein Fisch in den Korb hüpfte. Gleich neben die Äpfel. Jean-Jacques untermalt die Geschichte mit entsprechenden Gesten und Geräuschen. So ganz nebenbei stelle ich fest, dass wir an seinen Lippen hängen. Cynthia noch mehr als ich.

„Wollt Ihr noch etwas zu trinken? Ich hole mir noch einen Gute-Nacht-Trunk.“
„Willst Du schon zu Bett?“ fragt Cynthia. Als ich mich aufmache, Harry an der Bar noch einen Besuch abzustatten, frage ich mich, ob das Einbildung war. Oder haben ihre Augen tatsächlich geblitzt, als ich ging?

„Nun sag‘ schon! Habt Ihr geknutscht?“ Cynthia grinst und frühstückt weiter. Wir hocken auf dem 13. Deck und blicken übers Meer. Unergründlich. Weit und überall. Doch mich interessiert im Moment etwas anderes.
„Habt Ihr oder habt Ihr nicht?“
„Ja, meine Süße. Wir haben.“
„Nein!“
„Doch!“
„Mit dem Körnerfresser?“
„Ist er gar nicht. Er ist Journalist.“
„Na klar. Und als nächstes erzählst Du mir, dass er eine Reportage schreibt. Über die Mißhandlung von Körnerfressern auf einem Kreuzschiff mit Kleiderordnung. Klar, klar! Ich hole mir jetzt erst mal ein Croissant. Und dann will ich alles wissen!“ Unterwegs fällt mir ein, dass Jean-Jacques Unterhosen im Koffer ganz apart waren. Wenigstens etwas.
Als ich zurück komme, sitzt Jean-Jacques an unserem Tisch. Cynthia hängt an seinen Lippen, dies Mal buchstäblich. Aha.

„Bonjour!“ flöte ich.
„Bonjour, Callie“, antwortet Jean-Jacques. Vor lauter Schreck lasse ich fast meinen Teller fallen. Wie hat der mich genannt? Kalie? Die Betonung auf dem ‚I‘ bringt es aber. Das klingt eher nach einem schlanken Seiltänzer als nach einem fettwanstigen Fernfahrer.

Ich will es kurz machen, Jean-Jacques wich in den folgenden Tagen nicht mehr von unserer Seite. Genauer gesagt war es eher Cynthias Seite. Aus unserer Reise zu Zweit wurde nichts, fortan traten wir als Trio auf. Anfänglich bereitete mir das wenig Freude, allerdings entpuppte sich Jean-Jacques als äußerst amüsanter Begleiter. So warf ich also meine Bedenken und er seine Birkenstocks über Bord (Cynthia hasst diese Schlappen). Auf Jamaica suchten wir zu Dritt eine Kaffeebohnenkette für Tante Mathilde aus und auf Labadee, einer kleinen Insel, teils haitianisch, teils „dom-reppisch“, ergab sich etwas, dass ich unbedingt noch loswerden will:

„Weißt Du, wie ich mich fühle?“ Cynthia schaukelte in einer Hängematte zwischen Palmen, während ich mit einem Stöckchen Wolken in den Sand malte. „Hm. Ich versuch’s mal, mir vorzustellen. Du schwebst zwischen Himmel und Erde. Du glaubst, Du wirst den Boden niemals berühren. Alles ist unwirklich....“
„Wie im...“ begann Cynthia.
„Tackatuckaland“, schaltete Jean-Jacques sich ein.
„Genau! Genau das wollte ich sagen“ kreischte Cynthia. „Gibt’s Pippi Langstrumpf auch in Frankreich?“
Gute Güte! Bei Verliebten setzt der Verstand einfach aus. Das weiß doch jedes Kind, dass Astred Lindgrens Bücher in sämtlichen Sprachen dieser Welt zu haben sind. Nur in Esperanto vielleicht nicht. Trotzdem, das war der Moment, als ich diese Eingebung hatte. Ich sah meine Schwester vor mir, ganz in Weiß gekleidet, ein Pfennig-Absatz ihres Pumps hatte sich in das Kopfsteinpflaster gleich vor der Kirche gebohrt und sie brüllte nach Leibeskräften: „Kalliiii! Kalliiiie! Ich bin so glücklich!“

Aber ich wollte mich ja kurz fassen. Eine Woche währte unser Traumurlaub in jenem Sommer. Sieben Tage können gleichzeitig so kurzweilig wie fünf Minuten und so intensiv wie ein ganzer Monat sein. Oder so lang wie ein Flug von Miami nach Düsseldorf. Meiner unsagbar traurigen Schwester konnte ich während des gesamten Rückflugs kein einziges Wörtchen entlocken. Sämtliche Formalitäten, Antworten an die Stewardessen und dergleichen mußte ich für sie erledigen. Sie hatte beschlossen, fortan nicht mehr zu reden. Vermutlich hätte sie es verlernt, wenn nicht Jean-Jacques angerufen hätte, kaum, dass sie ihre Wohnung betrat. Da hat sie alles nachgeholt und stundenlang mit ihm telefoniert. Es folgten Besuche. Mal war Jean-Jacques hier, mal besuchte Cynthia ihn in Paris. Auf dem Eiffelturm, da hat er ihr dann erzählt, dass er als Journalist viel auf Reisen sei. Seit er Cynthia kenne, könne er sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Mein Handy klingelt. Ich geh mal rasch dran.
„Ja?“
„Kalliiii? Ich muß Dir etwas erzählen!“
„Cynthia. Ich heiße Carlotta. Ich sag‘ ja auch nicht Cindy zu Dir.“
„Ach, darum geht’s doch jetzt gar nicht! Ich hab‘ jetzt auch keine Zeit...“
„Wo steckst Du?“
„Im Badezimmer. Im Kowloon Hotel in Hongkong.“
„Wie? Was machst Du im Badezimmer?“
„Dich anrufen! Jean-Jacques ist nebenan. Rate mal, was er gerade zu mir gesagt hat?“
„Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?“
„Weißt Du noch, als wir auf dem Kreuzschiff waren?“
„Natürlich! Wie könnte ich das vergessen?“
„Kannst Du Dich noch daran erinnern, was ich mir gewünscht habe? Als ich die Sternschnuppe sah?“
„Nein!“
„Doch!“
„Nein!“
„Doch!“

Das nenne ich wirklich eine aktuelle Berichterstattung: Nachdem er Cynthia soeben ins Ohr flüsterte, dass er auf sie gewartet habe, sein Leben lang (Hilfe! Mir stehen die Haare zu Berge!) und dass er mit ihr bis ans Ende der Welt wolle (und jetzt kriege ich auch noch eine Gänsehaut), stellte Jean-Jacques seine Frage:

„Meinst Du, Du könntest eine Fischsuppe à la Marseillaise machen?“
„Bitte was?“
„Meinst Du, Du könntest das? Eine Fischsuppe à la Marseillaise?“
Meine Schwester hatte zwar keine Ahnung, wovon er sprach, nickte aber trotzdem mit dem Kopf.
„Merci, mon dieu!“ rief Jean-Jacques. „Dafür wird Tante Mathilde Dich lieben!“

Mist! Das Handy klingelt schon wieder. Sekunde, ich geh mal ganz rasch dran.

„Kalliii! Ich bin’s noch mal. Ich muß Dir noch etwas erzählen!“
„Was denn jetzt schon wieder? Cynthia, Du rufst aus Hong Kong an. Das ist sicher teuer!“
„Das ist nebensächlich. Immerhin habe ich eine ganz beson-dere Nachricht für Jean-Jacques Schwägerin. Du ahnst nicht, was Jean-Jacques mich gerade gefragt hat! Du ahnst es einfach nicht! Rate mal!“
„Nein!“
„Doch!
„Nein! Ehrlich? Ohne flunkern?“
„Ja! Ja! Ja!“


Epilog:
Anscheinend war das eine echte Vision, dich ich auf Labadee hatte. Am 14. Juli diesen Jahres, knapp zwei Jahre, nachdem sie sich auf der „Voyager of the Seas“ kennengelernt hatten, heirateten Cynthia und Jean-Jacques. Die Trauzeugen waren Tante Mathilde und ich. Kurz nach Verlassen der Kirche, blieb Cynthias Absatz tatsächlich stecken. Während Cynthia sich halbtot lachte, brachen Mathilde und ich jeweils einen Pfennigabsatz resolut vom Schuh ab. Auf flachen Schuhen kann man ohnehin besser tanzen.
 

majissa

Mitglied
Es hat sich

wie versprochen gelohnt. Deine Story gefällt mir. Sie ist erfrischend, witzig und charmant. Die Dialoge haben genau die richtige Länge und wirken lebendig. Nicht zuletzt durch das stets wiederkehrende "Nein!Doch!Nein!Doch!...".
Eigentlich bekannt dafür, nächtens zum Lachen in den Keller zu gehen, habe ich an einigen Stellen heftig geschmunzelt. So beispielsweise beim türkisfarbenen Pareo. Apart auch der Teppich mit aktueller Tagesangabe.
Die äußere Form des Textes ist der bewegten Handlung gekonnt angepasst.

Ein wenig gestolpert bin ich nur über den Dialog zwischen den betrunkenen Schwestern. Da wäre weniger mehr gewesen. Und auf die Hinweise, es kurz machen zu wollen, würde ich verzichten. Sonst hat man unweigerlich den Eindruck, daß du übereilt zum Ende kommen wolltest, keine Lust mehr hattest. Das schadet dieser schönen Geschichte nur, zu der es hoffentlich noch weitere Kommentare geben wird.

Liebe Grüße
Majissa
 

tinta

Mitglied
Am Ende der Welt. Zum Lachen in den Keller...

Liebe Majissa, ich habe mich nicht nur sehr gefreut über Deinen Kommentar, sondern hocke auch noch grinsend vor dem Bildschirm (dabei kann der doch nun mal überhaupt nix damit anfangen). Zum Lachen in den Keller, so so. Freut mich, dass Du dies Mal nicht ein Stockwerk (oder gar zwei) tiefer gewandert bist und Dich genauso amüsiert hast wie ich beim Schreiben :). Danke auch für Deinen Tipp, ich werde drüber nachdenken. Lieben Gruß, Tinta
 



 
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