Am Kanal

Hilga

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Am Kanal

Der Ball traf mit einem harten Knall seine rechte Schulter. Wie ein Blitz schoss der Schmerz in seinen Kopf und zwang ihn, kurz die Augen zu schließen. Er hatte sie schon eine Weile dabei beobachtet, wie sie immer wieder den Ball warf. Wie ein Wirbelwind war der große braun-weiße Hund los geschossen, und hatte ihn wieder zurück gebracht. Langsam war er weiter zum Bootsanleger gegangen, ohne die Beiden aus den Augen zu lassen.

Seit zwei Wochen ging er jeden Abend nach der Arbeit ein Stück am Kanal entlang. Von seinem Büro waren es nur wenige Schritte bis zur Wiese und dem asphaltierten Weg, der hier zum Spazieren einlud. Heute war einer der wenigen sonnigen Herbsttage, an denen jeder noch einmal die Schönheit des bunten Laubs und die Wärme der Sonne genießen wollte, bevor der Winter kam. Er versuchte jedes Mal ein wenig weiter zu gehen. Soweit er es mit dem kaputten Bein eben schaffen konnte. Fast jeden Tag hatte er sie seit dem hier gesehen. Von weitem. Manchmal saß sie einfach auf einer Bank und starrte auf das träge dahinfließende Wasser. Manchmal ging sie tief in Gedanken versunken den Weg entlang. Einmal war sie so dicht an ihm vorbei gelaufen, dass sie seinen Ärmel leicht gestreift hatte. Wie es wohl wäre, mit ihr in einem Café zu sitzen, und sich zwanglos zu unterhalten? Früher hatte er keine Probleme damit gehabt, jemand einfach so anzusprechen und einzuladen. Damals hatte er mit seinen Freunden Wetten abgeschlossen, ob er es unter einer halben Stunde, bis zum ersten Kuss schaffen würde. Das schien ein ganzes Leben zurück zu liegen.

Sie hatte ihn seit einiger Zeit regelmäßig hier gesehen. Man konnte erkennen, dass jeder Schritt schmerzte, während er sich schwer auf den Stock gestützt den Weg zum Anleger entlang bewegte. Trotzdem kam er jeden Tag und bei jedem Wetter. Sie bewunderte diese Kraft und Hartnäckigkeit. Sich einfach gegen den Schmerz stemmen und weiter gehen. Sie hatte oft das Gefühl, das nicht zu können. Seit der Massenkarambolage auf der Autobahn, war ihr Leben ein Trümmerhaufen. Sie hatte auf dem Beifahrersitz gesessen, ihr Mann war gefahren und ihr kleiner Sohn hatte hinten in der Babyschale selig geschlafen. Geistesgegenwärtig hatte ihr Mann hart gebremst, und war ganz knapp hinter dem anderen Fahrzeug zum Stehen gekommen. Der Kleine hinten war aufgewacht, und hatte angefangen zu weinen. Von dem harten Bremsmanöver und dem Ruck des Gurts war sie noch ganz benommen, als sie ihren Gurt öffnete um auszusteigen und den Kleinen auf den Arm zunehmen. Dann war im Bruchteil einer Sekunde das Unfassbare über sie hereingebrochen. Ein LKW raste ungebremst in das Heck ihres Wagens. Wahrscheinlich hatte sie sich den Kopf irgendwo angeschlagen. Das Nächste, an das sie sich erinnerte, war das Krankenhaus. Sie war bis auf eine leichte Gehirnerschütterung unverletzt, aber ihr Leben war zu Ende. Sie waren beide tot. Seit dem Tag lebte sie nur noch mechanisch, wie ein Roboter. Sie funktionierte, meistens zumindest. Der Hund zwang sie, jeden Tag mehrmals nach draußen zu gehen. Das war gut so. Auch nach fast zwei Jahren haderte sie immer noch damit, dass sie überlebt hatte. Warum musste sie sich hier weiter durchs Leben quälen, während die beiden Menschen, die sie liebte dort auf sie warteten?

Heute spielte sie mit dem Hund. Der Ball hatte ihn ausgerechnet an der Schulter getroffen, die von der Belastung durch das Gehen mit dem Stock ohnehin immer ein wenig zog. Der Schmerz war bis in seine Fingerspitzen geschossen und sein Arm fühlte sich an, als sei er gelähmt. Es war ein wenig so, als ob man diese bestimmte Stelle am Ellenbogen traf. Als er die Augen wieder öffnete stand sie dicht vor ihm. So dicht, dass er glaubte, einen Hauch ihres Parfums zu riechen. Sein Herz schlug schneller.
"Es tut mir sehr leid, ich habe nicht aufgepasst. Bitte entschuldigen Sie." Während sie sprach versuchte sie vorsichtig den Sand, den der Ball auf seinem Mantel hinterlassen hatte, abzureiben. Ihre zarte Berührung an seiner Schulter ließ ihn den Atem anhalten. Als ihr Finger versehentlich sein Kinn streifte, fuhr ein kleiner Stromstoß in sein Herz und konnte nur schwer den Drang unterdrücken, nach ihrer Hand zu fassen. Mit einem Ruck drehte er sich weg.
"Lassen Sie das." Oh nein! Das hatte er doch gar nicht sagen wollen. Verflixt.
"Natürlich, Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten." Mit einem Seufzer wandte sie sich ab. Der Hund hatte den Ball schon zurück gebracht, aber sie hob ihn nicht auf, um ihn noch einmal zu werfen. Stattdessen ging sie wenige Schritte näher ans Kanalufer und setzte sich ins Gras. Sein Herz klopfte noch immer im Hals. Warum tat er immer so etwas? Warum hatte er nicht einfach ein zwangloses Gespräch begonnen, und sie zu einem Kaffee eingeladen? Einfach. Ha.

Schwer auf seinen Stock gestürzt ging er weiter zum Bootsanleger. Er spürte ihren Blick in seinem Rücken. Was dachte sie wohl jetzt? Dass er ein unfreundlicher Blödmann war, natürlich. Langsam ging er auf dem feuchten Holz bis ganz nach vorn. Das Hochwasser gurgelte dicht unter den Holzplanken, zwischen den Stützen des Anlegers hindurch. Im Sommer konnte man kaum das Fließen des Kanals erkennen, aber jetzt, nach den kräftigen Herbstregen der letzten Zeit, hatte das Wasser es eilig. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich noch einmal ihren Duft und ihre Hand an seiner Schulter vorstellen. Ein Kloß formte sich in seiner Kehle und wieder spürte er wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Er sollte jetzt sofort zurückgehen, und sich bei ihr entschuldigen. Vielleicht bekam er eine zweite Chance.

Seine Augen folgten achtlos einem Motorboot, das vorbei schoss. Die Bugwelle schwappte nach wenigen Augenblicken über den Anleger. Erschrocken wollte er einen Schritt zurück machen, als sein Stock auf den nassen Planken wegrutschte. Wie in Zeitlupe spürte er, wie er nach vorn kippte. Seine Hände griffen noch nach dem Steg, aber das glitschige Holz rutschte ihm durch die Finger, ohne seinen Sturz zu bremsen. Als sein Blick im Fallen das Ufer streifte, sah er, dass sie aufgesprungen war und zum Anleger rannte. Dann tauchte er in das eiskalte Wasser. In der plötzlichen Kälte verkrampfte sich sein ganzer Körper und er sank wie ein Stein, obwohl er doch eigentlich recht gut schwimmen konnte. Als er nach einer Schrecksekunde seinen Körper wieder unter Kontrolle hatte, versuchte er wieder nach oben zu kommen. Etwas hielt ihn am Rücken fest. Sein Mantel hatte sich anscheinend irgendwie an den Stützen des Anlegers verhakt. Er musste ihn ausziehen, aber die Spannung im Stoff zog seine Arme nach hinten und er konnte die Knöpfe nicht erreichen. Hilflos starrte er mit weit aufgerissenen Augen nach oben zur rettenden Wasseroberfläche, während sein ganzer Körper nach Sauerstoff schrie. Plötzlich schäumte das Wasser vor ihm auf und er spürte Hände auf seinen Schultern. Als die Luftblasen verschwunden waren sah er ihr Gesicht direkt vor sich. Was waren das für Stimmen in seinem Kopf?
"Lass ihn gehen."
"NEIN, ER GEHÖRT MIR."
"Ein Leben für ein Leben. Ein Tausch. Lass ihn gehen."
"WARUM?"
"Er hat so viel Kraft und Lebenswillen. Lass ihm sein Leben."
"DU WILLST MIT MIR FEILSCHEN?"
"Ein Tausch."
Plötzlich riss sie ihren Blick von ihm los, und begann seinen Mantel zu öffnen. Als der letzte Knopf nachgab, fasste sie unter seine Arme und zog ihn nach oben. Keuchend schnappten beide nach Luft, als sie die Wasseroberfläche erreichten. Die starke Strömung hatte sie schon einige Meter vom Anleger abgetrieben. Japsend versuchte er den Kopf über Wasser zu halten und schlug dabei wild um sich. Ihr Gesicht war an seiner Schulter und atemlos keuchte sie in sein Ohr:
"Ich bringe Sie zum Ufer, aber Sie müssen schon still halten, sonst schaff ich es nicht." Immer noch hielt sie ihn mit beiden Händen wie in einer Umarmung fest und verzweifelt versuchte er, seinen Kopf höher aus den Wellen zu heben. Mit einem geübten Griff drehte sie ihn herum, so dass sie jetzt hinter seinem Rücken war und von hinten unter seine Achseln fasste. Er keuchte immer noch und schnappte verzweifelt nach Luft, versuchte aber seine Bewegungen besser zu kontrollieren. Mit schnellen Beinbewegungen zog sie ihn seitlich aus der Strömung weg. Die Eiseskälte des Wassers lähmte seinen Körper und immer wieder schwappten Wellen über sein Gesicht. Seine Lunge brannte und seine Arme und Beine fühlten sich taub und schwer an. Obwohl er nur wenig mithelfen konnte, sah er die Spundwand des Kanals näher kommen. 'Wie wollen wir hier aus dem Wasser kommen?', schoss es plötzlich durch seine Gedanken. Als sie die Wand fast erreicht hatten, ließ sie ihn plötzlich auf einer Seite los. Mit einem Ruck stoppte das Treiben in der Strömung, als sie die rostigen Metallstufen packte, aber dann glitt ihre Hand an seinem Rücken ab. Mit einem hektischen Griff versuchte sie seinen Kragen zu fassen und sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Er griff mit beiden Händen in ihre Richtung, fand ihren Arm und klammerte sich daran fest. Keuchend hielt sie sich mit einer Hand an der Leiter fest, während die andere sein Handgelenk umfasste. Er sah wie sie die Augen schloss, und wollte schreien: 'Nein, nicht aufgeben!', aber Wasser schwappte in sein Gesicht und nur ein gurgelndes Husten kam hervor. Die Strömung wollte ihn wegzerren, aber ihr Griff hielt sein Handgelenk und sie zog ihn näher an die Leiter heran. Dann packte er mit beiden Händen das kalte Metall, und krampfte seine Finger darum.
"Festhalten!", keuchte sie und sah ihn eindringlich an. Er nickte wortlos und presste sich so gut er konnte an die Leiter. Sie schloss wieder die Augen und alle Kraft wich aus ihrem Körper. Ihr Arm glitt kraftlos an seiner Schulter herunter und er starrte wie gelähmt auf ihre Hand, die langsam aber unaufhaltsam an der Leier abrutschte.
"Nein!", schrie er und versuchte im letzten Moment nach ihr zu greifen. Kurz spürte er noch den Stoff ihres Ärmels, dann fuhr seine Hand ins Leere.

Über ihm an der Leiter beugten sich Menschen herunter, und zogen ihn hoch, während er verzweifelt versuchte seinen Kopf zu ihr herum zu drehen. Als er auf der Uferböschung saß, sprach ihn ein Sanitäter an, aber er konnte nur stumm auf den leblosen Körper starren, der langsam von ihm weg trieb. Starr vor Angst sah er zu, wie zwei Personen vom Anleger der Tauchschule ins Wasser sprangen, und kurz darauf ihren schlaffen Körper an der Spundwand hoch zogen. Dann nahmen ihn zwei Leute in die Mitte, hüllten ihn in eine knisternde, silberne Folie und brachten ihn zum Rettungswagen.

Was waren das für Stimmen gewesen, da im Wasser? Zwei hatten gestritten. Worum? Um Leben? Seins und Ihres? Und war das jetzt so gekommen, der Tausch? Hatte Sie das so gewollt?

Er spürte, dass jemand ihn in einen Sitz drückte, und anschnallte. Im nächsten Augenblick wurde die Trage in den Wagen geschoben, und die Sanitäter sprangen in das Auto. Mit heulender Sirene startete der Wagen und rumpelte in Richtung Straße. Von seinem Sitz konnte er nur ihre Beine sehen und wie betäubt starrte er auf die Wassertropfen, die vom Ende der Trage auf den Boden platschten. Die Sanitäter waren in routinierter Betriebsamkeit, ohne das er verstand was sie da taten. Satzfetzen drangen abwechselnd mit dem Piepsen von Geräten an seine Ohren:
"Ein Milligramm Adrenalin, Hände weg, Schock, noch nicht, noch mal, ja, gut jetzt" Irgendwann piepste das Gerät in regelmäßigen Stößen. Die Sanitäter entspannten sich sichtlich. Sie erreichten schließlich das Krankenhaus, und eilig wurde die Trage weg geschoben. Er wollte aufspringen und ihr folgen, wäre aber ohne seinen Stock fast der Länge nach hingefallen. Für einen Augenblick hatte er das ganz vergessen. 'Ja, der Stock schwimmt wohl noch im Kanal', schoss es ihm durch den Kopf.
"Wo bringen Sie sie hin?" Einer der Sanitäter drehte sich zu ihm herum, während der Andere ihn in einen Rollstuhl setzte.
"Intensiv", antwortete er knapp, und verschwand durch die milchige Glastür.

Wie im Nebel ließ er die Aufnahmeprozedur mit den vielen Fragen über sich ergehen. Dann fand er sich in einem Bett wieder. Irgendwie hatten sie sogar einen altmodischen Schlafanzug und einen viel zu großen Bademantel für ihn organisiert. Eine Krücke stand neben dem Bett. Sie war ins Wasser gesprungen, und hatte ihn aus dieser ausweglosen Lage befreit. Hatte sein Leben gerettet. Und jetzt? Wie ging es ihr? Wo war sie? Intensiv, wo ist das? Schwerfällig stand er auf und schlich zum Aufzug. Als er endlich den Eingang zur Intensivstation gefunden hatte, wollten sie ihn nicht herein lassen. Umständlich erklärte er , was passiert war und nach einiger Diskussion schien die verantwortliche Schwester endlich zu verstehen, warum er sie unbedingt sehen musste.
"Eigentlich geht das nicht, aber in dem Fall ausnahmsweise." Damit öffnete sie endlich die Tür und wies ihn in das erste Zimmer auf der rechten Seite. Dann stand er nehmen ihrem Bett und starrte in ihr blasses Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen aber die gleichmäßigen Zacken auf dem Monitor, beruhigten ihn. Warum hatte sie das nur getan? Sie hatte sich selbst in Gefahr gebracht. Die Angst um ihr Leben hatte sein Herz fast aussetzen lassen, als sie plötzlich von ihm weg trieb. Tränen stiegen in seine Augen, als er an die furchtbaren Augenblicke dachte. Er war sicher, sie wäre tot, bis das Gerät im Krankenwagen das Gegenteil behauptet hatte. Immer noch konnte er es kaum fassen. Ungläubig starrte er in ihr schmales, blasses Gesicht. Nach einer Weile zog er einen Stuhl heran und setzte sich ganz dicht neben sie. Er legte einen Arm auf ihre Decke und stützte seinen Kopf darauf. Ihre Lider flatterten zuerst nur ein wenig, dann öffnete sie die Augen und starrte an die Decke. Wieder hörte er diese Stimmen in seinem Kopf.
"Warum bin ich noch hier?"
"BIST DU NICHT FROH, DAS DU NOCH DA BIST?"
"Nein."
"DAS SOLLTEST DU ABER. ICH KOMME NOCH FRÜH GENUG ZU DIR.
"Du hast sie alle genommen, warum mich nicht auch? Es ist zu schwer, ohne die, die man liebt."
"DAS IST LANGE HER. DU BIST NOCH NICHT AUF DER LISTE. DU KANNST DICH NEU VERLIEBEN."
"Ach, bist du jetzt auch Amor?"
"ICH BIN ALLE, DAS WEISST DU DOCH."
"Und warum hast du ihn auch genommen?"
"HAB ICH NICHT. ER IST NOCH DA."
"Danke." Das war nicht in seinem Kopf. Das letzte Wort hatte sie laut gesagt.
Langsam drehte sie den Kopf zur Seite und als ihre Blicke sich trafen, lächelte sie. Das war das wunderbarste und wärmste Lächeln, das er je gesehen hatte und es bohrte sich, wie eine Pfeilspitze, tief in seine Mitte. Hastig griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest. Wortlos starrte er sie an.
"Wir sollten mal zusammen einen Kaffee trinken", flüsterte sie sehr leise.
 



 
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