Am Meer

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kleinebärin

Mitglied
Einmal im Jahr muss ich das Meer sehen.

Dann reise ich auf die Insel an die Nordsee.
Laufe am Strand entlang, so weit mich die Beine tragen. Bis ich das Inseldorf weit hinter mich gelassen habe und die Promenadenwanderer und anderen Strandläufer als kleine Punkte in der Ferne zurück bleiben.
Der Wind ist stark, so mag ich ihn. Er treibt mich voran, leert meinen gedankenvollen Kopf und reinigt mich. Von allen Eindrücken der Zivilisation.
Wenn ich meine Schritte nicht mehr fühle, nur noch das Salz auf den Lippen schmecke und das Meer einatme, dann treffe ich sie manchmal. Sie kommen von dort, wo am Horizont das Meer ins Schwimmen gerät und die Wolken trifft. Sie steigen auf aus diesem Pastell und schweben an meiner Seite…
Meine Großmutter ist wieder jung. Auf ihrem Gesicht liegt ein Lächeln, das mich wissen lässt wie gut es ihr geht, das mich wärmt und mit Licht erfüllt.
Lächelnd gehe ich weiter, meiner Großtante entgegen. Obwohl ihre Haare nicht mehr grau und dünn sind, sondern voll, schimmernd und blond, erkenne ich sie sofort. In ihren blauen Augen liegt ein Strahlen, und ihre Schönheit erfüllt mich mit Staunen und Freude.
Es gesellt sich auch ein Schulkollege aus fernen Zeiten zu mir. Und in mir höre ich, wie er mir zuflüstert: „Uschi, mach keinen Quatsch…“ Wie damals im Erdkundeunterricht, als er neben mir saß. Im Weggehen dreht er sich um, zwinkert mir zu, und ich kichere fröhlich, genau so wie früher.
Häufig begegne ich auch meinem Onkel. Ihn erkenne ich immer sofort, obwohl nach seinem Übergang viele Erdenjahre vergingen bis ich geboren wurde. Denn wir sind Seelenverwandte im Erheben der Stimme gegen das Verschleiern der Wahrheit. Seine Gegenwart erfüllt mich mit tiefem Frieden, umhüllt mich wie ein wärmender Mantel. Wortlos beantwortet er meine Fragen, die ich ebenso wortlos an ihn herantrage.
Einmal treffe ich meinen Vater, doch er sieht mich nicht. Irrt mit leerem Blick umher, an mir vorbei. Seine Gestalt ist gebeugt und von der Krankheit gezeichnet. So wie in seinen letzten Jahren. Er spricht nicht mit mir. Ihn umgibt eine große, dunkle Traurigkeit, die sich auf mich hinabsenkt. Er ist noch nicht angekommen, bewegt sich müde zwischen dem Hier und Drüben. Ich fühle, dass auch der Groll, den ich noch immer gegen ihn hege, ihn festhält. Und ich beginne, meine schweren Gedanken dem Wind anzuvertrauen…

Einmal im Jahr, mindestens einmal im Jahr, überkommt mich die Sehnsucht nach Ihnen.
Dann muss ich das Meer sehen…

_________________
© uma
 

FrankK

Mitglied
Hallo, kleinebärin

Ich öffne die Leselupe und dieser Text lächelt mich an:
Einmal im Jahr muss ich das Meer sehen.
Diese Aussage unterschreibe ich blind.

Ich war gerade in der richtigen Stimmung für diesen wundervollen Text. Einfach traumhaft.


Viele Liebe Grüße
Frank
 
S

suzah

Gast
hallo kleinebärin,

einmal im jahr das meer sehen, das spricht mir aus der seele. der text gefällt mir in der ersten hälfte sehr gut, dann sind es mir eigentlich zu viel personen, die du nennst, bis du zu deinem vater kommst.

"...Horizont das Meer ins Schwimmen gerät und die Wolken trifft. Sie steigen auf aus diesem Pastell"

ins schwimmen gerät, stört mich etwas, ich meine es würde reichen zu sagen: "... horizont das meer die wolken trifft".
du schreibst von starkem wind, dann ist die nordsee meist aber nicht pastellfarbig sondern dunkler grau-grün-blau, pastellfarbig bei ruhiger see und abendstimmung.

"überkommt mich die Sehnsucht nach Ihnen."
kleiner tippfehler: "ihnen".

liebe grüße suzah
 

MarenS

Mitglied
Eine sehr schöne Geschichte. Ja, das Meer hat so seine Eigenheiten. Wenn ich mich recht erinnere wird es dort, wo es auf den Horizont trifft und ins schwimmen gerät, wie du so schön schreibst, wirklich pastellfarbig. Man kann kaum den Übergang von Meer zu Himmel ausmachen.
Der Wind, auch er hat seine Eigenheiten.
Er treibt mich voran, leert meinen gedankenvollen Kopf und reinigt mich. Von allen Eindrücken der Zivilisation.
Ich kann dir zu diesen Gedanken nur gratulieren. Ich nenne es für mich durchpusten, allen angestauten Mist entfernen.

Sehr gerne gelesen!

Grüße von Maren
 

kleinebärin

Mitglied
Einmal im Jahr muss ich das Meer sehen.

Dann reise ich auf die Insel an die Nordsee.
Laufe am Strand entlang, so weit mich die Beine tragen. Bis ich das Inseldorf weit hinter mich gelassen habe und die Promenadenwanderer und anderen Strandläufer als kleine Punkte in der Ferne zurück bleiben.
Der Wind ist stark, so mag ich ihn. Er treibt mich voran, leert meinen gedankenvollen Kopf und reinigt mich. Von allen Eindrücken der Zivilisation.
Wenn ich meine Schritte nicht mehr fühle, nur noch das Salz auf den Lippen schmecke und das Meer einatme, dann treffe ich sie manchmal. Sie kommen von dort, wo am Horizont das Meer ins Schwimmen gerät und die Wolken trifft. Sie steigen auf aus diesem Pastell und schweben an meiner Seite…
Meine Großmutter ist wieder jung. Auf ihrem Gesicht liegt ein Lächeln, das mich wissen lässt wie gut es ihr geht, das mich wärmt und mit Licht erfüllt.
Lächelnd gehe ich weiter, meiner Großtante entgegen. Obwohl ihre Haare nicht mehr grau und dünn sind, sondern voll, schimmernd und blond, erkenne ich sie sofort. In ihren blauen Augen liegt ein Strahlen, und ihre Schönheit erfüllt mich mit Staunen und Freude.
Es gesellt sich auch ein Schulkollege aus fernen Zeiten zu mir. Und in mir höre ich, wie er mir zuflüstert: „Uschi, mach keinen Quatsch…“ Wie damals im Erdkundeunterricht, als er neben mir saß. Im Weggehen dreht er sich um, zwinkert mir zu, und ich kichere fröhlich, genau so wie früher.
Häufig begegne ich auch meinem Onkel. Ihn erkenne ich immer sofort, obwohl nach seinem Übergang viele Erdenjahre vergingen bis ich geboren wurde. Denn wir sind Seelenverwandte im Erheben der Stimme gegen das Verschleiern der Wahrheit. Seine Gegenwart erfüllt mich mit tiefem Frieden, umhüllt mich wie ein wärmender Mantel. Wortlos beantwortet er meine Fragen, die ich ebenso wortlos an ihn herantrage.
Einmal treffe ich meinen Vater, doch er sieht mich nicht. Irrt mit leerem Blick umher, an mir vorbei. Seine Gestalt ist gebeugt und von der Krankheit gezeichnet. So wie in seinen letzten Jahren. Er spricht nicht mit mir. Ihn umgibt eine große, dunkle Traurigkeit, die sich auf mich hinabsenkt. Er ist noch nicht angekommen, bewegt sich müde zwischen dem Hier und Drüben. Ich fühle, dass auch der Groll, den ich noch immer gegen ihn hege, ihn festhält. Und ich beginne, meine schweren Gedanken dem Wind anzuvertrauen…

Einmal im Jahr, mindestens einmal im Jahr, überkommt mich die Sehnsucht nach ihnen.
Dann muss ich das Meer sehen…

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© uma
 

kleinebärin

Mitglied
Liebe Suzah, liebe Maren,

danke für die Kommentare und Anregungen.
Dem Fehlerteufel am Ende bin ich entgegen getreten.

Über die Farben und das Pastell muss ich nachdenken. Mal sehen, ob ich es aufnehme.

Liebe Grüße

Kleine Bärin
 

revilo

Mitglied
Hallo Ursula,

was für Dich das Meer ist, sind für mich die Berge, die ich einmal im Jahr gemeinsam mit meiner Familie erklimme. Du hast das Gefühl der notwendigen Abgeschiedenheit nahezu perfekt beschrieben. Deine Retroperspektiven sind glänzend eingearbeitet! Gerne gelesen von revilo
 

kleinebärin

Mitglied
Lieber Revilo,

danke für Deinen positiven Kommentar.

Es ist wie Du sagst, dieses ganz unmittelbare Verbunden-Sein oder vielleicht besser gesagt "Sein" in der Natur mit ihrer Schönheit, was so Besonders ist.

Viele Grüße
Kleine Bärin
 

revilo

Mitglied
Hallo Ursula,
ich nenn´Dich einfach so_OK? Ich mag an Deiner Geschichte, daß Du die Abgeschiedenheit mit dem Leben kombinierst.
Meergeschichten gibt es viele. Aber Deine ist richtig gut.....
etwas weingeschwängert von revilo
 



 
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