Am Strand

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Estrella

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Am Strand

Marie stand am Ufer und blickte über das Meer.
Grau war es an diesem Nachmittag und spiegelte die Farbe des trüben Oktoberhimmels wieder. Der Strand lag einsam und verlassen hinter ihr, nichts erinnerte mehr an das bunte Treiben des Sommers. Selbst Maries dunkelblaue Augen schienen jegliche Leuchtkraft verloren und den trostlosen Grauton dieses ungemütlichen Herbsttages angenommen zu haben. Der Wind fuhr in ihre langen blonden Haare und wehte ihr immer wieder einzelne Strähnen vor das Gesicht. Doch sie schien es gar nicht zu bemerken. Ihr Blick war starr auf den Horizont gerichtet, schien sich im Unendlichen zu verlieren.
Wie sollte es nun weitergehen? Carlos hatte ihr soeben klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie nicht mehr sehen wollte, dass es keine gemeinsame Zukunft für sie geben könne. Dabei hatte alles so romantisch angefangen, und er hatte ihr so viele Versprechungen gemacht.

Wäre sie doch bloß niemals auf diese Zeitungsannonce gestoßen: Aupairmädchen für deutsche Familie in Moraira, Spanien gesucht. Sie hatte sofort einen Atlas zur Hand genommen und diesen schön klingenden Namen auf der Karte gesucht. Er lag an der Costa Blanca zwischen Valencia und Alicante.
Noch am gleichen Tag hatte sie Kontakt zu der Familie aufgenommen und nach zwei Tagen eifrigem Mailens schließlich die Zusage bekommen. Für Marie war dies endlich ein Anlass gewesen, der langweiligen Routine ihres Alltags zu entkommen. An ihrem Job als Sekretärin bei einer kleinen Druckerei hatte sie schon lange keinen Spaß mehr gehabt, und ihre letzte Beziehung lag nun auch schon fast ein Jahr zurück. So versprach dieses verlockende Angebot eine willkommene Abwechslung zu werden und Marie, die schon immer eine Spielernatur gewesen war, stürzte sich mit klopfendem Herzen in ihr Spanienabendteuer. Elli und Markus Sonnenberg nahmen sie herzlich in Empfang und ihre beiden Kinder, ein Junge von neun Jahren und ein Mädchen von sechs schlossen sie auch sofort ins Herz.

Sie verbrachte einen wunderschönen, sorglosen Sommer, natürlich auch Dank Carlos. Trotz ihrer gedrückten Stimmung musste Marie lächeln, als sie an ihre erste Begegnung mit ihm dachte. Es war in einem Möbelgeschäft gewesen. Elli hatte sie gebeten, nachzufragen, was eine neue Kommode mit Schubladen für das Kinderzimmer kosten würde. Marie war damals noch nicht lange in Spanien gewesen, und ihre Spanischkenntnisse hatten daher noch sehr zu wünschen übrig gelassen. Elli hatte ihr zwar ungefähr gesagt, wie sie sich ausdrücken musste, aber als Marie dann „quanto cuesta un armario con cojones?“ herausgebracht hatte, was soviel wie ‚was kostet ein Schrank mit Schubladen’ heißen sollte, konnte sie nicht verstehen, warum sie nur schallendes Gelächter geerntet hatte. Bis ein gutaussehender junger Mann, Carlos, sie aufgeklärt hatte.
„Diesen Fehler machen leider alle Touristen irgendwann einmal“, hatte er in fliesendem deutsch gesagt, „ das Wort für Schubladen ist ‚cajones’ und nicht ‚cojones’. Dann hatte er sich zu ihr hinübergebeugt und ihr ins Ohr geflüstert: „ Cojones bedeutet männliches Geschlechtsteil.“ Marie war zunächst rot angelaufen, hatte aber dann in das allgemeine Lachen mit eingestimmt. Carlos hatte sie danach noch auf einen ‚Café con leche’, einen Milchkaffee eingeladen.


Sie hatten sich seit dem Zwischenfall in dem Möbelgeschäft fast jeden Tag gesehen und waren sich langsam nähergekommen. Carlos war siebenundzwanzig Jahre alt, also genau fünf Jahre älter als Marie. Er war Rechtsanwalt und arbeitete in der Kanzlei seines Vaters. In den Sommermonaten war diese auf Grund der Hitze nur bis Fünfzehn Uhr geöffnet, und so hatten sie sich oft am Strand getroffen, wo Marie die Nachmittage mit den Kindern verbrachte. Abends, wenn diese dann im Bett waren und Elli und Markus nicht weggehen wollten, hatten sie in einem der vielen Fischrestaurants gegessen oder sich mit einer Flasche Rotwein und einigen Windlichtern bewaffnet auf die Klippen gesetzt. Hier war es auch, wo sie zum erstenmal miteinander schliefen. Carlos war ein sehr zärtlicher, behutsamer Liebhaber. Marie durchzuckte ein wohliger Schauer, wenn sie an Carlos muskulösen Körper dachte, an seine schwarzen Locken und daran, wie seine Hände sie überall berührt hatten und er ihr zum ersten Mal ‚te quiero mi corazon’ ins Ohr geflüstert hatte. Maries Herz wurde im Sturm erobert und sie war noch nie glücklicher gewesen, als in jenem Sommer.

Eine Möwenschar zog laut kreischend ihre Kreise am Himmel und holte Marie in die graue Wirklichkeit zurück. Wie zufällig streichelte sie über ihren Bauch. Noch war er schön flach und verbarg, dass dort seit ungefähr sechs Wochen ein neues Leben heranwuchs. Wie geschockt war sie doch gewesen, als ihre Regel ausgeblieben und der Schwangerschaftstest positiv gewesen war. Wie würde Carlos wohl reagieren? Würde er zu ihr stehen, schließlich waren sie ja beide daran beteiligt gewesen. Sie hatte so schnell wie möglich mit ihm geredet. Doch sie meinte noch immer dieses Würgegefühl im Hals zu spüren, als sie an seine Worte dachte, leise geflüsterte Worte, die jedoch in ihrem Innersten wie laute Schreie geklungen hatten: „Es tut mir leid, aber wir können nicht zusammenbleiben, es ist schon lange abgemacht, dass ich die Tochter des Kompagnons meines Vaters heiraten werde. Sie hat bisher in Madrid studiert und kommt nun zurück." Er hatte sie also die ganze Zeit nur als netten Zeitvertreib benutzt, bis er endlich eine Andere heiraten konnte. „Ich weiß, du kannst das nicht verstehen“, hatte er versucht zu erklären, „aber meine Familie ist sehr altmodisch und traditionsbewusst. Mach dir keine Sorgen wegen des Kindes, ich werde mich erkundigen, wo du es wegmachen lassen kannst.“ Wie Peitschenhiebe hatten seine Worte auf sie gewirkt. Dieses Kind, ihr Kind, schien ihm überhaupt nichts zu bedeuten. All seine Worte, seine Versprechungen lösten sich auf wie der Schaum, welchen die Wellen auf dem Sand des Strandes zurückließen. Marie hörte nicht auf, ihren Bauch zu liebkosen. Hatte sie das Recht, dieses aufkeimende Leben einfach auszulöschen? Doch andererseits, was wäre, wenn sie das Baby behalten würde? Käme sie in einem fremden Land als alleinstehende Mutter zurecht? Nach Deutschland wollte sie auf keinen Fall mehr zurück, dafür hatte sie sich bereits viel zu sehr an die mediterrane Lebensweise gewöhnt. Fragen über Fragen stürzten auf sie ein und verlangten nach einer Antwort.

Sie drehte sich um und ging langsam am Strand entlang. Dabei versuchte sie, das Wirrwarr ihrer Gedanken zu ordnen, Lösungen zu finden. Weiter vorne sah sie eine Mutter mit ihrem Kind, es schien gerade erst laufen gelernt zu haben. Es stakste unsicher auf seinen kleinen dicken Beinchen über den Sand und fiel ungefähr bei jedem fünften Schritt auf die Nase. Seine Mutter half ihm jedes Mal wieder auf und klopfte den Sand von seiner Kleidung. Marie blieb stehen und betrachtete eine Weile dieses vertraute Zusammenspiel von Mutter und Kind. Plötzlich wusste sie, dass sie das Baby, ihr Baby behalten wollte.
Sie würde auch ohne dazugehörigen Vater zurechtkommen und dem Kind eine liebevolle Mutter sein. Und als ob noch jemand ihre Entscheidung begrüßen würde, riss in diesem Augenblick die Wolkendecke auf. Ein erster vorwitziger Sonnenstrahl berührte die Wasseroberfläche und hinterließ einen silbernen Kreis. Voller Hoffnung machte sich Marie auf den Rückweg. Ihre blauen Augen erstrahlten in altem Glanz und blickten nun zuversichtlich in die Zukunft.
 

Andrea

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Am besten gefällt mir der fünfte Absatz, direkt dahinter rangiert der dritte Absatz. Beide gewinnen dadurch, daß sie sehr einprägsam und lebendig den Kern der Geschichte voranbringen. Ein Großteil der anderen Absätze besteht aus Aufzählungen, aus Einzelheiten und Vergangenheitsbildern, die nicht zwingend notwendig sind. Ist die Gastfamilie wichtig? Die genaue Lage des Ortes? Die Art der Kontaktaufnahme? Oder auch wer sie in das Möbelgeschäft geschickt hat? Sie war da, um einen Schrank zu kaufen; das ist wichtig. Auch eine Menge von der Liebesgeschichte und dem Hintergrund Carlos‘ ist nicht zwingend notwendig; so rutscht der vierte Absatz stark in einen Aufzählungscharakter ab.

Einige Informationen kommen zu falschen Zeitpunkt, etwa würde ich „Wie sollte es nun weitergehen“ und die folgenden restlichen Sätze des ersten Absatzes streichen, denn den gesamten Inhalt wirst du später ja noch einmal aufgreifen. Übrigens gelingt dir in diesem ersten Absatz vorher überaus elegant die Kurve weg vom Klischee und Schmalz hin zu einer atmosphärisch dichten Naturbeschreibung, die am Schluß sehr gelungen wieder aufgenommen wird. Einzig das ein oder andere Detail würde ich da streichen (z.B. daß sie blond ist, ist unerheblich).

Während ich also im ersten bis fünften Absatz streichen würde, war ich im sechsten etwas enttäuscht: „Plötzlich wusste sie, dass sie das Baby, ihr Baby behalten wollte. Sie würde auch ohne dazugehörigen Vater zurechtkommen und dem Kind eine liebevolle Mutter sein.“ Das ist der ganze Entscheidungsvorgang, den du deinen Lesern präsentierst. Noch dazu ist er, und hier ist viel (zu) Bekanntes, natürlich von einer glücklichen Mutter mit Kind motiviert, und plopp! Schon stecken wir im Klischee, das du im ersten Absatz so bravorös umschifft hast. Wenigstens versöhnst du die Leserschaft wieder, indem du die Bilder vom Anfang gekonnt wieder aufnimmst und auch hier wieder der gefährliche Balanceakt zwischen Pathos und Gefühl gelingt.

Fazit: Was die Detaildichte der Vergangenheit von Marie und der Liebesgeschichte betrifft: kürzen, straffen, streichen. Behalte immer den Blick auf das Wesentliche, auf die momentane Situation deiner Hauptfigur, und nutze alles andere nur, um dieses zu unterstützen. Was das Ende betrifft: ausarbeiten. Es muß kein großer innerer Konflikt folgen, kein Monolog über drei oder vier Absätze, aber ein bißchen mehr Motivation bei der Entscheidungsfindung wäre nett. Nebenbei wäre ich persönlich dir sehr dankbar, wenn nicht gerade ein auf die Nase fallendes Kind die letztendliche Ursache wäre.
 



 
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