Amor kann so gemein sei

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chrissieanne

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„Hey, Flocke! Wirst du das wohl lassen. Komm sofort hierher!"
Der kleine, weiße Hund hielt verdutzt inne und schaute zu seiner Herrin. „Ja, schau ruhig. Ich mag das nicht, wenn du an diese Bäume pinkelst. Hierher jetzt."
Flocke rannte, dass seine Ohren flogen. Nun saß er vor ihr, hechelte, und wedelte freudig. „Ja, lach mich nur aus, kleines Mistvieh. Du kannst doch keine Liebenden anpinkeln!"
Siegrid beugte sich hinab und kraulte ihren Hund liebevoll, was er mit einem Freudentanz unter Einbezug des gesamten Hinterteils honorierte. Dann kläffte er sie zweimal an und schoss wieder davon.
Siegrid lachte und lehnte sich auf ihrer Bank zurück. Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne schien, die Luft war lau und eine leichte Brise ließ das Laub der Bäume wispern. Wie anders sie aussahen. Dichtes Grün und fette Früchte. Schamlos boten sie sich in ihrer prallen Üppigkeit dar. Wären sie nicht dazu verdammt, auf ihren mächtigen Wurzeln festzustehen - sie würden übereinander herfallen. Würden die Früchte des anderen gierig fressen, sich das Laub von den Zweigen reißen. Ja, das würden sie.
Siegrid grinste, streckte sich mit einem „Aaaaaah", genoß die Sonne, die Aufregung. Flocke kam angerannt, sprang neben sie und stupste seinen Kopf an ihren Ärmel. Sie kraulte ihn. „Ja, gleich Flöckchen, lass mich noch ein bischen schwelgen." Der Hund legte sich, mit einem tiefen Seufzer. „So ist`s brav."
Unter der Erde hielten die Wurzeln Händchen..

Schon als sie das erste Mal diese Bäume gesehen hatte, waren ihr ähnliche Ideen gekommen. Nackt waren sie da, standen sich gegenüber in klirrender Stille. Nur der Schnee gewährte ihren Wurzeln Schutz vor der Eiseskälte. Wurzeln, die, ineinanderverwoben, zwei riesige Geschöpfe in Liebe verbanden - für alle Zeit. Fasziniert hatte sie dagestanden, während Flocke eifrig schnupperte - auch da pfiff sie ihn im letzten Moment zurück.
Und fing an zu heulen.
Sie war eigentlich überhaupt nicht romantisch veranlagt und Kitsch war ihr zuwider. Doch beim Anblick dieser Bäume ging sie mit ihr durch. Die Sehnsucht. Schluchzend ließ sie sich auf die Bank fallen. Flocke versuchte auf ihren Schoß zu springen, doch sie ließ ihn nicht. Keinen Trost gab es für ihre Einsamkeit. Warum nur waren Männer, die sie kennenlernte, allesamt geschmacklose, ignorante Idioten? Flockes Knurren durchbrach ihre trübseligen Gedanken, sie schaute auf.
Ein groß gewachsener Mann stand vor ihr und reichte ein Taschentuch. „Kann ich ihnen helfen? Ist etwas passiert?" Er trug einen altmodischen Mantel -so etwas registrierte sie sofort, sie hasste schlechten Geschmack. „Oh, nein. Es ist alles in Ordnung. Es ist nur... ich weiß auch nicht - danke schön." Verlegen schneuzte sie ins Tuch. Er setzte sich neben sie. „Die Bäume sind wunderschön, nicht wahr? Wie ein auf ewig verbundenes Liebespaar. Eine in die Natur gemeißelte Utopie."
Sie drehte den Kopf. Ein schönes Profil hatte er, sah man von der Frisur einmal ab. Und unglaubliche Augen, wie sie herzklopfend feststellen musste, als er sich zu ihr drehte. Hellgrün. Unter schwarzen Haaren. Nur diese Frisur! „ Das haben sie schön ausgedrückt. Genau deshalb hab ich weinen müssen." Er lächelte bezaubernd. „ Hab ich`s doch gewusst." Sie schwiegen eine Weile und schauten auf die Bäume, hinter denen das Sonnenlicht nun weiss und kühl hindurch schien. Der Fremde nahm einen Fotoapparat aus der Tasche und hielt dieses Bild für immer fest. Dann stand er auf. „Sie sollten nicht mehr so lange hier sitzen.. Sonst wären am Ende unsere Bäume noch schuld an ihrer Grippe. Das ist ganz sicher nicht ihre Bestimmung." Er zwinkerte ihr zu und ging fort. Flocke knurrte noch immer. Der Fremde hatte ihn gar nicht beachtet. „Flocki, ist gut jetzt. Komm, wir gehen."

Zu Hause in ihrem Loft auf dem Sofa, Flocke zu ihren Füßen, ein flackerndes Feuer im offenen Kamin, den teuren Rotwein in der Hand,dachte sie an ihn. Die ganzen folgenden Tage, in der Kanzlei, bei den Gerichtsverhandlungen, während der Gespräche mit den Mandanten, den Mittagessen mit KollegInnen, in der Sauna, den Telefonaten mit diversen Bekannten immer, ständig dachte sie an den fremden Mann unter den Bäumen. Nach einer Zeit ließ es etwas nach. Jedoch kamen immer wieder diese Momente. Nach drei Monaten war sie soweit. „Ich muss ihn wiedersehen. Unbedingt." Ihr Entschluss stand fest. Sie musste es versuchen. Mittlerweile war er in ihrer Phantasie zu einem wahren Wunderwesen mutiert. Klug, witzig, geschmackvoll, vielleicht etwas verschroben, phantasievoll und aufgeschlossen im Geist und in der Liebe.
Sie begann in diverse Zeitungen zu announcieren:

„An keiner Grippe sind sie schuld. Doch sie haben eine Schleife in mein Hirn gewebt: ich will dich wiedersehen, ich will dich wiedersehen, ich will dich
wiedersehen." Chiffre: Liebesbäume

Wochenlang war sie wie im Fieber. Stellte sich vor, wie er reagieren würde. Malte sich immer wieder das Wiedersehen aus. Flocke war äußertst ungehalten ob des seltsamen Verhaltens seiner Herrin. Sie war völlig nervös, bei nichts wirklich bei der Sache. Irgendwann setzte dann doch die Resignation ein. Traurig schlich sie durch die Tage, bis sie sich zwang, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen.
Und da kam er - der Brief.

„Verehrte Unbekannte. Mit Erstaunen las ich ihre Anzeige und bilde mir ein, der Begehrte zu sein. Ich traf eine weinende Frau unter zwei Bäumen, die wie Liebende gewachsen sind. Wenn sie dieses weinende Wesen sind, würde ich einer Begegnung mit großer Freude entgegensehen."

Siegrid jauchzte .Endlich. Sie tanzte durch die Wohnung und las den Brief wohl tausendmal. „Wie süß. Wie höflich. Fast schon gestelzt. Er ist bestimmt genauso aufgeregt wie ich."
Er hatte seine Telefonnummer angegeben. Es war zwar noch früh am Morgen - doch ein Wein musste sein. Und eine Zigarette. Irgendwo musste sie doch - als sie vor zwei Jahren aufgehört hat, hatte sie die letzte Schachtel - im Keller in der roten Kiste! Sie raste in den Keller, wühlte in der Kiste, fand die Schachtel, lief zurück ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch nahm einen Schluck Wein, zündete sich eine Zigarette an - und inhalierte tief.
„Jetzt oder nie."
Er war da, diese schöne Stimme, aufgeregt unsicher ausgetauschte Floskeln - und sie waren verabredet. Am Samstag abend in einer Jazzkneipe, die sie vorgeschlagen hatte. Er wohnte gar nicht weit von ihr entfernt. Unglaublich.

Sie war gern Anwältin, aber die letzten drei Tage waren furchtbar. Auf nichts konnte sie sich konzentrieren. Sie war verliebt. Tatsächlich. Seit Ewigkeiten war sie wieder verliebt.
Siegrid stand auf und Flocke sprang erfreut von der Bank. „Heute abend ist es soweit Flocki. Ich treffe mich mit diesem Mann. Vielleicht der Mann meines Lebens. Ich danke euch, Ihr Schönen." Sie warf den Bäumen eine Kusshand zu und lief zurück zum Wagen. Flocke rannte bellend vorraus.


Siegrid öffnete die Tür. Das Lokal war gut besucht Dicke Rauchschwaden hingen im Raum, und Duke Ellington betörte ihr Ohr. Flocke trottete hinter ihr her. Er hasste Kneipen. Sie sah durch die schwatzenden und lachenden Menschen einen Mann im grauen Anzug am Tresen sitzen. Da war er. Sie schob sich zu ihm durch und legte eine Hand auf seine Schulter. Er fuhr herum und sprang auf. "Oh, da sind Sie... guten Abend...wie schön." Er küßte ihre Hand. Wie süß. Der Anzug irritierte ein wenig und seine Frisur - das hatte sie vergessen. „Hallo, ähm... ja, da bin ich, und ich freu mich, dich wiederzusehen." Er räusperte sich und nestelte an seinem Kragen. „Ja, natürlich, entschuldigung. Du. Da bist du ja. Wie schön." Sie lachten beide und setzten sich auf Barhocker. Er hatte einen freigehalten.
„Es ist recht laut hier und sehr schlechte Luft. Du magst diese Kneipe?" Er schaute etwas angestrengt. „Ja, sehr. Ich liebe Jazz. Du nicht?" „Nun - aber wenn es dir gefällt. Das ist ja die Hauptsache." Irgendwas war komisch. Doch dann nahm er ihre Hand.
„Ich war so entzückt von deiner Anzeige. Ich habe dich auch nicht vergessen." Er raunte es in ihr Ohr, sie sah in sein Gesicht - diese Augen - der Mund. Und schon küßten sie sich. Er war etwas unbeholfen, doch nach einiger Zeit ging es sehr gut. „Lass uns zu mir gehen. Hier ist es ungemütlich."
Diese Kneipe als ungemütlich zu bezeichnen - dazu gehörte schon was. Doch Siegrid wollte ihn. Unbedingt.
Engumschlungen gingen sie die Straßen entlang, immer wieder knutschend. Vor seiner Haus angekommen, bellte Flocke empört. So viel Nichtbeachtung war er nicht gewöhnt
„Du hast einen Hund dabei?" fragte er entsetzt „Das merkst du jetzt erst?" lachte sie. „Der ist immer dabei. Flocke ist inklusive, wenn du mich willst." Er grinste blöd und zögerte. „Ach, was soll`s. Komm rein."
Sie stiegen den Hausflur hinauf. Immer wieder küßten sie sich, er wurde langsam fordernder, legte die Hände auf ihren Po. Etwas tolpatschig. Er schloss die Wohnungstür auf und trug sie über die Schwelle. Flocke bellte, sie lachte. Mit geschlossenen Augen ließ sich sich durch die Wohnung tragen. Schließlich stellte er sie auf die Füße. In seiner Umarmung öffnete Siegrid die Augen - und schrie auf.
Er zuckte zusammen, ließ sie los. „Um Himmels Willen , was hast du?"
Sie starrte.
Starrte auf die liebenden Bäume.

„Eine Fototapete." flüsterte sie.
„Eine Fototapete." wiederholte sie, während ihr entsetzter Blick über das Bett mit der Blümchensteppdecke, der Nachttischkommode mit Porzellankätzchen, und den Autogrammbildern von Margot Hellwig an der Wand glitten.
„Ja, ist sie nicht wunderschön geworden! Vorher hatte ich einen Sonnenuntergang mit Palmen, doch dieses Motiv ist viel ansprechender, nicht wahr? Außerdem erinnert es mich immer an...."
Ihr Pfiff ließ ihn verstummen.
„Flocke, nicht .....hierher!"
Doch es war zu spät.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
die

ganze zeit dachte ich O,o, wie wird das enden? du hast mich echt überrascht! sehr nette geschichte.
lg
 

sihl

Mitglied
Hallo chrissieanne

Deine Geschichte zieht und der Schluss macht Spass. Das Bild mit den Bäumen finde ich schön, wenn auch die Verwandlung von der Kitschhasserin zur glücklich Verliebten etwas gar rasch geschieht.

Was mich noch ein wenig stört, sind die allzu nahe liegenden Bilder (Klischees wären jetzt eine Spur zu böse). Anwältin mit teuren Kleidern, Loft und Rotwein...nun ja, hat die Frau auch ein Profil? Der Mann wirkt zunächst auch vorgestanzt, doch die Tapete erklärt dann einiges. In seinem Fall finde ich das Naheliegende OK.

Dann muss ich als Jazzer noch etwas mehr Präzision fordern. Mit Duke Ellington habe ich kein Problem, doch wie kann er "ein Ohr betören"? Wäre es nicht eher der Swing seines Klavierspiels/ das Raunen seiner Bläser o. ä., die gefallen? Und wäre das Verb dann nicht eher ein Gefallen, ein Hinreissen, ein Lächelnhinzaubern als ein Betören?

Zu guter Letzt würde ich den Text noch ein wenig eindampfen. Ich weiss: Man kann alle Texte kürzen, ausser die eigenen. Aber gelohnt hat es sich, zumindest bei mir, noch jedes Mal.

Schöne Grüsse

sihl
 

chrissieanne

Mitglied
liebe flammarion,
danke dir sehr, für deinen kommentar. freut mich, wenn sie dir gefällt, meine kleine geschichte.
schlaf schön und bis bald.

liebe(r) sihl,
die klischees sind bewußt betont. wobei der mann gar keine persönlichkeit, keinen namen gar nichts hat, während sie ja schon als vermeintlich kitschhassende (in wirklichkeit hoffnungslos romantische) frau von welt (die sich in einem schwachen moment sofort in den erstbesten verknallt, der sie dabei erwischt.
ich könnte ihre persönlichkeit mehr ausbauen, aber gleichzeitig soll der text gekürzt werden. mmmh.
was das kürzen, so wie er ist angeht, versteh ich schon. ganz glücklich bin ich auch nicht.
lass mir ein bißchen zeit ja? Bin ein bißchen träge veranlagt, und hab eh wenig Luft im moment.

bei duke ellington haste mich voll erwischt. "rotwerd"
da hab ich den erstgrößten, der mir einfiel genommen. aber den verkehrtesten was "betörte ihr ohr" angeht.
also entweder ich ändere den sound in der kneipe in ella fitzgerald oder dinah washington oder so (die ich beide liebe) oder ich ändere die formulierung.
weil, vor allem ella, kann ein ohr durchaus betören, ohne ihr unrecht zu tun, oder?

ich danke dir für deinen ausführlichen kommentar und wünsch dir eine gute nacht.
lg
chrissieanne
 

NewDawnK

Mitglied
Hallo chrissieanne,

eine sehr schöne Geschichte über die inneren und die äußeren Werte im Leben.
Fragt sich nur, wer am Ende das Rennen macht - Amor oder der gute Geschmack...
Gefällt mir!

Schöne Grüße,
NDK
 
E

Edgar Wibeau

Gast
Man kennt sie, deine delikaten Rendezous. Man hegt seine Ahnungen und die Pointe ist dann doch ganz anders als erwartet. Fototapete und Margot-Hellwig-Autogrammkarten. Es fehlten eigentlich nur noch die Caprifischer und eine mumifizierte Mutti im Schaukelstuhl. Besonders gut hat mir der finale Auftritt Flockes gefallen. Nur der Name ist vielleicht doch etwas spießig für das Schoßhündchen einer hippen Yuppie-Anwältin. Aber das trübte den Lesespaß in keiner Weise.
 

chrissieanne

Mitglied
hallo newdawnk,
danke für deinen freundlichen kommentar.
na, amor freut sich über seinen gelungenen coup,
aber ich denke mal, mit den beiden, das hat sich wohl erledigt.

hallo edgar,
schön, dich hier zu lesen und fein, dass dir die geschichte gefällt. "flocke" ist ein spießiger name? ach, nöö. hätt ich einen kleinen, weißen hund, ich tät ihn flocke nennen. wenn ich auch keine hippe yuppie anwältin bin. wäre für sie "whity" oder "snowheart" besser? *grinst*
und die mumifizierte mutti find ich gar keine schlechte idee. :)))

ach, und sihl, entschuldige, ich hab den ellington part noch gar nicht geändert. mach ich bald, versprochen. bin grad gräßlich träge. (oder sagte ich das schon?)

grüße an euch drei von
chrissieanne
 

NewDawnK

Mitglied
Ursprünglich veröffentlicht von chrissieanne
hallo newdawnk,
danke für deinen freundlichen kommentar.
na, amor freut sich über seinen gelungenen coup,
aber ich denke mal, mit den beiden, das hat sich wohl erledigt.
Hallo chrissieanne,

genau da denke ich völlig anders als Du.
Spätestens wenn Deine Protagonistin ihren Job verliert und die Schönheitschirurgie am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt ist, wird sich bestimmt noch herausstellen, welch glückliches Händchen der Amor in Deiner Geschichte hatte...

Gruß, NDK
 
M

MichaelKuss

Gast
Vielleicht hätte man hier und da ein bisschen komprimieren können, aber alles in allem: Prima Geschichte mit einem konzequenten Schluss. Für die Idee 9, für die Umsetzung 7, also 8 Punkte.
 



 
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