An einen Engel

Eve

Mitglied
An einen Engel

Mein Fuß ist schon seit einer halben Ewigkeit eingeschlafen, aber ich rühre mich nicht. Was ist schon ein totes Bein im Vergleich zu einem toten Herzen? Du liegst vor mir, bewegst Dich nur manchmal im Schlaf, vielleicht träumst Du schlecht? Wenn ich könnte, würde ich Dir einen ewi-gen Traum schenken, auf dass Du nie wieder davon erwachen müsstest. Auf das die Sonne Dir nie wieder die atemlose Stille der Nacht stehlen könnte. Deshalb sitze ich hier, an der Seite Dei-nes Bettes, wache über Dich und hoffe, Du kannst mich fühlen. Das Gefühl ist das Einzige, was uns bleiben wird, das Gefühl ist die einzige Ewigkeit, die es für uns geben kann.

Ich möchte nie wieder von Deiner Seite aufstehen, aber wir sollen unser Leben ganz normal weiterführen. Wie kann es das je wieder sein? Schon von dem Moment an, als Du Deinen Kopf durch die Tür in mein kleines Geschäft stecktest, war mein Leben nicht mehr normal, nicht mehr alltäglich. Weil ich einen Engel gesehen habe. Wir haben auf uns gewartet, weil wir nur gemein-sam existieren können, wir haben uns erkannt, weil wir schon viele Leben geteilt haben. Jetzt sehe ich Dich an und finde mich selbst in Dir, so wie Du, wenn Du Deine Augen in meine senkst. Ich erzähle Dir nichts von dem Schmerz, der mich zerreißt, wenn ich in den Fenstern zu Deiner Seele kein Wiedererkennen sehe. Manchmal weißt Du nicht, dass ich es bin, die neben Dir auf dem Boden sitzt, Deine Hand hält, zu Dir spricht. Manchmal haben wir nur das Gefühl in uns, das uns verbindet. So, wie Du langsam erblindest, werde ich langsam taub. Taub und stumm gegen die Welt draußen vor unserer Tür. Taub und zornig auf die anderen, die sorglos ihren täglichen Dingen nachgehen können, während ich hier drin einen aussichtslosen Kampf kämpfe. Aber wenn Du dann Deine Augen öffnest, die letzten Reste des Schlafes aus Deinem Kopf vertreibst, und ich einen winzigen Schimmer in ihnen aufblitzen sehe, dann bin ich wieder ruhig. Dann sehe ich meinen Engel.

Längst ist die Zeit des klagenden Fragens vorbei, jetzt ist die Zeit ein Geschenk, obgleich sie auch unser größter Feind ist. Ich habe aufgehört zu schlafen, denn Du könntest etwas brauchen wäh-rend ich meine Augen geschlossen habe. Es wird eine Zeit kommen, in der ich mich ausruhen kann ? und ich fürchte den Tag, an dem das geschehen wird. Dein leiser Atem ist meine schönste Musik, Dein Anblick mein liebste Bild. Ich kann meine Augen nicht schließen, weil ich jeden Moment mit Dir fest in mein Herz einbrennen muss. All Deine Pläne musstest Du aufgeben, weil Dir die Kraft dazu fehlt. Und die Zeit. Ich erzähle Dir Geschichten, Geschichten von uns und Geschichten, die wir zusammen erlebt hätten, wenn es uns erlaubt wäre. Und ich schwöre, dass ich Dein Leben fortführen werde, ich lebe einfach zwei Leben, denn dann ist Deines nicht verlo-ren.

Ich wollte tausend Dinge von Dir haben, Dinge, die Du in der Hand hattest, Dinge, die Du gern mochtest ? aber ich habe erkannt, dass ich nichts davon brauche, um bei Dir zu sein. Du bist in mir, in meinem Herzen, durch unsere Erinnerung sind wir zusammen ? für immer. Es gibt Tage, da ist mein Herz ruhig und gefasst, da bin ich zufrieden, Deine Hand zu halten, Dich anzusehen. Denn bald wird allein das schon nicht mehr möglich sein. Aber es gibt auch Tage, an denen ich es fast nicht ertrage, Dich dort liegen zu sehen, weil Du immer weniger wirst, weil Du mir zeigst, was Vergänglichkeit ist. Ich habe solche Angst vor dem Tod und darf es Dir nicht zeigen. Zum ersten Mal muss ich allein zurechtkommen, hältst nicht Du tröstend meine Hand. Stattdessen berühre ich Deine, die vor kurzem noch so kräftig war, mit meinen Fingern, ganz zart. Ich rede mir ein, dass alles gut wird. Verleugne den Schmerz, der seit Wochen in mir wütet und zehrt. Seit Du mir gesagt hast, dass Du Leukämie hast. Es ist Schmerz darüber, dass ich Dir Deinen nicht abnehmen kann, dass ich dazu verdammt bin, einfach nur still dasitzen zu können, während Du allein kämpfen musst. Ich wünschte, ich könnte auch nur einen Teil davon von Dir nehmen und selbst erleiden. Ich wäre glücklich, wäre das möglich. Das Glück verändert sein Gesicht, es wird genügsamer. Mich erfüllt eine stille Freude, wenn ich Dein entspanntes Gesicht sehen kann, wenn Du meine Finger ein klein wenig drückst, als Zeichen Deines Erkennens.

Du schläfst nicht immer, aber wenn, dann kann ich Dich beschützen. Mittags, wenn Du das letzte Bisschen Kraft für den Tag sammelst, machst Du Dir Sorgen. Sorgen um mich, Gedanken darüber, wie schwer das alles für mich sein muss. Aber mein Weg ist nicht so schwer wie Deiner. Denn Du hast das Gefühl mich zu verlassen, ohne eine Wahl zu haben. Du glaubst mir nicht, dass ich das nicht so sehe, Du weinst manchmal heimlich. Es ist, als ob uns beiden in Zeitlupe das Herz gebrochen wird, und wir dazu verdammt sind zuzusehen. Deine Krankheit ist nicht gnädig mit uns, sie zögert und wartet und schleicht. Sie zermürbt und ist doch die einzige Hoff-nung, die uns bleibt. Denn unter all den Schmerzen haben wir immer noch einander, können uns berühren, festhalten. Bald gibt es niemanden, der mich festhält, wenn sich der Boden unter mei-nen Füßen auftut und mich in wirbelnden Strudeln in die Tiefe reißt. In eine endlose Tiefe voller Dunkelheit. Aber nicht die Dunkelheit des Vergessens ? nein, es ist die Dunkelheit des wahnsin-nigen Schmerzes. Ich nehme mich zusammen, sage mir, dass wir uns wiederfinden werden, so wie wir es auch in diesem Leben getan haben. Aber wer weiß das schon genau? Du bist mein Engel, aber was, wenn ich kein Engel bin? In manchen Momenten wünsche ich mir, dass das schmerzvolle Warten ein Ende hat. Und bevor ich diese Gedanken richtig zu Ende gedacht habe, schlage ich meinen Kopf an die Wand, um sie zu zerstören, um sie auszulöschen. Denn ich wün-sche mir das für mich, damit ich nicht in ständiger Vorahnung und Angst vor dem schwarzen Loch leben muss. Es ist so still um mich geworden, es ist auch still in mir. Manchmal möchte ich schreien, aber das kann ich nicht. Ich behalte all meine Gefühle tief in mir versteckt, denn wenn ich einmal den Deckel öffne, werde ich nie wieder aufhören können.

Draußen geht die Sonne langsam auf, Du öffnest die Augen auf, siehst mich an. Mein Herz macht einen kleinen Satz, ich spüre das Leben in mir zurückkehren ? für Dich.
?Pia, ich liebe Dich.?
Und mehr brauche ich nicht, um stark zu sein. Das wird mein Anker sein, der mich irgendwann auf meinem tiefen Fall aufhalten wird, der mich zurückzieht. Vielleicht ist es wie Bungeespringen; irgendwann, wenn es vorbei ist, werde ich glücklich sein können, meinen Engel wenigstens kurz gekannt zu haben. Denn manche finden ihren nie.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Eve,

ja, mag sein, daß dein Werk vielen als zu trivial erscheint. Egal. Mir gefällt es. Vor allem der letzte Teil ging mir irgendwie an die Nieren. Schade, daß sich hier noch keiner zu Wort gemeldet hat.

Gruß Ralph
 

Renee Hawk

Mitglied
Hallo Eva,
hallo Ralph,

ich bin froh das es noch Menschen gibt die die Geschenisse der "Menschen" lesen. Ralph ich verstehe dich ...

Eva, es hat gut getan in den Gedanken eines Menschen zulesen der Abschied nehmen muß. Ich fühlte die Beklommenheit, die Angst des loslassens, die Furscht des Neuens und das ewige Gefühl der Liebe.

Trivial ist alles im Leben, und unser eigenes Leben ist angereichert mit Klischees und Trivialität, das ist der Grund warum wir nach "Höherem" streben und uns nicht mit der "kleinen Freude" zu frieden geben können.

Das Schiksal auf der Welt existieren zu dürfen ist schon trivial und klischee, machen wir das beste daraus und leben wir, mit allen Schmerzen, Ängsten und Freuden ...

Liebe Grüße
Reneè
 

Eve

Mitglied
Hallo Ralph und Renee

Schön, dass Euch die Geschichte gefallen hat. Sie ist aus einem Gefühl heraus entstanden - manchmal braucht es nicht immer der großen Worte oder Gedanken. Denn alles fängt ganz klein an, und wenn ich mich nicht mit den innersten, allem zugrunde liegenden Gefühlen (vielleicht sind sie auch trivial, deswegen aber noch lange nicht weniger ehrlich oder wichtig) auseinandersetze, ist es, als ob man ein Pferd von hinten aufzäumt ... oder so ähnlich. Es ist auch schön, mal einfach nur so etwas zu schreiben vor allem, wenn es einen dabei selbst ein bisschen klärt und befreit, da habt Ihr recht.

Gruß Eve
 
S

Sansibar

Gast
Engel

Guten Tag Eve und willkommen auf der Lupe,

deine Engelgeschichte gefällt mir, weil ich meine das es sie gibt. Ich mag mich der Lächerlichkeit preisgeben, dennoch muß man sie wohl erfahren und daher um sie zu wissen."Meine" Engel sind ganz gewöhnliche Menschen die uns in schwierigen Situationen beistehen uns helfen und erst viel viel später können wir verstehen das es kein "Zufall" war und ist.
Ich denke das die meisten Menschen ungewöhnliche Erfahrungen haben und hatten aber sie nicht mit Engeln in Verbindung setzen.
Möge dennoch deine Geschichte nicht wahr sein wünscht sich
Sansibar aus Sansibar
 
S

Sansibar

Gast
Engel

Guten Tag Eve und willkommen auf der Lupe,

deine Engelgeschichte gefällt mir, weil ich meine das es sie gibt. Ich mag mich der Lächerlichkeit preisgeben, dennoch muß man sie wohl erfahren und daher um sie zu wissen."Meine" Engel sind ganz gewöhnliche Menschen die uns in schwierigen Situationen beistehen uns helfen und erst viel viel später können wir verstehen das es kein "Zufall" war und ist.
Ich denke das die meisten Menschen ungewöhnliche Erfahrungen haben und hatten aber sie nicht mit Engeln in Verbindung setzen.
Möge dennoch deine Geschichte nicht wahr sein wünscht sich
Sansibar aus Sansibar
 

Eve

Mitglied
Hallo Sansibar aus Sansibar,

ich denke auch, dass es Engel gibt. Der Autor Albert C. Gaulden geht davon aus, dass alle Menschen Engel sind, auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen ...

Die Geschichte ist nicht wahr, zumindest nicht für mich, dennoch gibt es wohl in jedem Menschen Momente, in denen die Gefühle denen der beschriebenen Situation gleichen. Man kann Orte, Personen und Handlung tauschen, was übrig bleibt, ist das Gefühl, das ursprünglich vorhanden war und das Gerüst bildet.

Gruß Eve
 

Fee

Mitglied
Hallo Eve,
Deine Geschichte hat mich sehr berührt!

Ich habe letztes Jahr meinen Schwager begleitet, und hatte viele ähnliche Gedanken und Gefühle.
Es ist oft schwer, einen Menschen bis zu seinem letzten Atemzug beizustehen, aber es kann auch ein großes Geschenk sein.
Mich hat es weitergebracht und verändert, dafür bin ich dankbar.

Liebe Grüße von
Fee
 

Eve

Mitglied
Hallo Fee,

danke, dass Du auf meine Geschichte geantwortet hast. Du hast recht damit, dass gerade die Momente und Situationen, vor denen wir Angst haben und die uns schwer erscheinen, uns nachhaltig verändern. Es ist gerade dann schön und gut, das auch einmal in Worte fassen zu können.

Liebe Grüße

Eve
 



 
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