An kalten Tagen

Serpentina

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An kalten Tagen

Am heiligen Abend, oder vielleicht ist es auch der erste Weihnachtsfeiertag oder der zweite, wer weiß das schon an einem solchen Tag, an einem dieser Tage stehe ich mit meiner rot-weiß gestreiften Mütze, die ich auch im Sommer trage, an der Bushaltestelle. Eigentlich will ich gar nicht weg fahren, am heiligen Abend fährt sowieso kein Bus mehr. Ich stehe nur dort und warte, schaue mir die hell erleuteten Fenster an und erahne in vorbei huschenden Schattenrissen Familien. Vereinzelt fahren Autos vorüber, mit Menschen darin, die vom Weihnachtsmann wohl auch vergessen worden sind. Es schneit nicht.
Angestrengt versuche ich ein Weihnachtslied zu erlauschen oder ein Kinderlachen vielleicht- Fehlanzeige. Das einzige was an Weihnachten gemahnt sind die leergefegten Straßen und ein paar notdürftig aufgehängte Lichterketten mit Wackelkontakt.
Mit einem Mal kommt ein Bus angefahren, halb leer. Er hält an, drei Menschen steigen aus: Ein Mann, eine Frau, ein Kind. Das Kind sieht müde aus und wimmert ein wenig, als es von der Mutter an die Hand genommen und mehr oder weniger weiter gezerrt wird.
Ich erhasche einen Gesprächsfetzen: "Dass du auch jedes Mal auf dieses Thema zu sprechen kommen musst, obwohl heute doch...". Der Wind hat gedreht.
Ich stehe weiterhin in meinem Bushäuschen und warte. Mich beachtet niemand.
Nach einiger Zeit kommt eine dick eingemummelte Gestalt mit drei abgerissenen Plastiktüten, alle gelb-rot, um die Ecke gewankt. Sie stützt sich für einen Moment am nächsten Häusereingang ab und torkelt dann weiter. Fast ist sie schon an mir vorüber, das stutzt sie und dreht sich ruckartig zu mir um. Jetzt kann ich sehen, dass es ein Mann ist.
"Alles, alles Gute", stammelt er. Und "Haste... vielleicht mal`n Euro?"
Ich schüttle bedauernd den Kopf. Aber mit einer Zigarette kann ich aushelfen, weil heute doch Weihnachten ist. Ich gebe sie ihm und wünsche noch frohe Weihnachten, worauf er sich fahrig am Kopf kratzt und plötzlich nüchtern erwidert: "Ja, Weihnachten ist auch so kalt!"
Dann verlässt er mich wieder. Ich starre ihm noch einige Zeit lang nach und bin froh über den ersten Menschen, der heute mit mir gesprochen hat. Dann mache ich mich auf den Weg zur nächsten Haltestelle.
Als ich schon fast da bin, sehe ich plötzlich Menschen auf die Straße eilen, sich in die Arme fallen und ausgelassen mit Gläsern anstoßen. Dann gehen auch schon die ersten Knaller in die Luft. Einen Moment lang blicke ich mich irritiert um, dann vernehmen ich ein lautes "Frohes neues Jahr, ihr Lieben".
Es ist Silvester, nicht Weihnachten.
Langsam setze ich meinen Weg fort und denke noch, dass das der Einsamkeit wohl egal ist.
 



 
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