Angst

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Kryo

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Es war dunkel. Aber es handelte sich nicht um jene Art von seliger absoluter Dunkelheit, in die man sich, wie in eine warme Decke, hüllen konnte. Es war ein grausames Halbdunkel, das keines der furchtbaren Details ihrer Umgebung verbarg, sondern sie eher noch erschreckender und unheimlicher erscheinen ließ. Sie hatte Angst.

Der schmale Korridor, der vor ihr lag, war leer. Die Wände schienen aus dunklem, rötlichem Holz zu sein, auf dem ein Muster vertikaler Streifen aufgeprägt war. Ein ähnliches Muster verzierte den Boden, nur dass die Steifen dort horizontal verliefen. Sie machte einen Schritt nach vorne und der Korridor erwachte zum Leben indem er sich um sie herum dehnte, als wolle er ihr Vorankommen durch das Erweitern seiner Tiefe verhindern. Obwohl der kleine Teil ihres Verstandes, der noch in der Lage war klare Gedanken zu fassen, wusste, dass das was sie sah vermutlich nur eine Illusion war, die durch das seltsame Muster an der Wand verursacht wurde, fühlte sie wie Panik in ihr aufstieg. Sie versuchte ihre Augen zu schließen, aber der Korridor verschwand nicht, sondern schien nur noch dunkler zu werden. Jedoch wenigstens kam die furchtbare Bewegung zum Stillstand.

An beiden Wänden hingen gerahmte Bilder in gleichmäßigen Abständen jeweils sich gegenüber. Aus dem Augenwinkel betrachtet sah es so aus als ob etwas entsetzliches auf ihnen dargestellt war, aber als sie den Kopf drehte, um eines von ihnen direkt anzusehen sah sie nur eine wirbelnde Dunkelheit, die ihr das Gefühl gab, von ihr aufgesogen zu werden. Schnell wandte sie den Blick ab.

Der Schleier der Dunkelheit, die beweglichen Muster, die leeren Bilder - all das trieb sie bereits halb in den Wahnsinn vor Angst, aber das Schlimmste waren die Türen. Insgesamt waren es fünf. Vier von ihnen standen sich in gleichen Abständen paarweise gegenüber. Die verbleibende Tür markierte das Ende des Korridors in einiger Entfernung vor ihr. Diese letzte Tür war die schrecklichste.

Genau in diesem Augenblick, als wäre der Gedanke ein Auslöser gewesen, hörte sie es:

\'Poch... poch... poch...\'

Das Geräusch ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Es war ein langsames, fast lethargisches Klopfen, das einen irgendwie unmenschlichen Klang hatte. Und sie wusste ohne jeden Zweifel, dass es an sie gerichtet war. Sie war gelähmt vor Furcht und ihre Gedanken rasten. Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet, vielleicht hatten ihre Nerven ihr nur einen Streich gespielt.

\'Poch... poch... poch...\'

Sie öffnete den Mund um zu schreien, aber kein Ton drang heraus. Ihre Stimme war nicht im Stande den Korridor zu durchdringen, genauso wie ihre Augen nicht in der Lage gewesen waren, sich vor ihm zu verschließen. Diese Erkenntnis vertrieb auch noch die letzten Reste von Rationalität, die ihr Verstand aufgeboten hatte und an ihre Stelle trat nur ein einziger Gedanke. Sie musste weg von dieser Tür.

Getrieben von purer Angst schüttelte sie ihre Lähmung ab, warf sich verzweifelt herum und begann zu rennen. Am anderen Ende des Korridors befand sich noch eine Tür, die exakt genauso aussah, wie die, die nun hinter ihr lag, aber das war ihr egal. Das einzige was zählte war von jener Tür, jenem grauenhaften Klopfen und dem was immer es verursachte, wegzukommen.
Erst als sie für ein paar Sekunden in kopfloser Panik gerannt war merkte sie, dass etwas nicht stimmte. So schnell sie auch rannte, sie kam dem Ende des Korridors kein Stück näher. Er war wieder zum Leben erwacht in dem Moment in dem sie losgerannt war, aber diesmal war das was passierte mehr als nur eine Illusion. Die Tür am Ende des Korridors bewegte sich tatsächlich mit derselben Geschwindigkeit von ihr weg, mit der sie sich ihr näherte. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, aber ohne Wirkung. Sie kam der Tür nicht näher.

Schwer atmend blieb sie stehen. Dann, plötzlich, überkam sie von hinten ein Grausen, wie ein kalter Luftzug.

\'Poch... poch... poch...\'

Während sie sich ganz langsam umdrehte, wuchs in ihr die Angst vor dem, was sie bereits ahnte zu erblicken. Der Anblick des Korridors hatte sich nicht im Geringsten verändert seit sie losgerannt war - vier Türen an den Seiten, eine am Ende. Es war als hätte sie nicht einmal einen einzigen Schritt gemacht.

Für einen Moment stand sie einfach nur unbewegt da. Sie atmete schwer und ihr Herz schlug schneller. Kalter Schweiß begann ihr am ganzen Körper auszubrechen. Selbst durch den dunklen Nebel, der von ihren Gedanken Besitz ergriff erkannte sie eines: Es blieb nur ein Weg übrig für sie.

Zögernd und mit deutlichem Zittern bewegte sich ihr rechter Fuß nach vorn. Ein Teil von ihr schrie bei der Bewegung gepeinigt auf und versuchte verzweifelt sie aufzuhalten, sie rückgängig zu machen, aber es war zu spät. Der Korridor um sie herum erwachte abermals zum Leben, allerdings weniger eindringlich als zuvor. Diesmal war es wirklich nichts weiter als eine Illusion und als es aufhörte war sie jener entsetzlichen Tür einen Schritt näher. Ihre Hoffnung schwand. Etwas in ihr hatte sich an den Gedanken geklammert, dass es ihr auch in dieser Richtung nicht möglich sein würde, vorwärts zu kommen.

Als ob sie von der bloßen Aussicht auf Fortschritt angetrieben wurden, begannen sich ihre Füße wieder zu bewegen. Es war als hätten ihre Glieder einen eigenen Willen entwickelt, der sie zielsicher zu der Tür hin zog, selbst während ihr Verstand in Schrecken vor ihr zurückprallte. Schritt für furchtbaren Schritt kam sie näher. Sie war nun beinahe zwischen dem ersten Paar Türen, das den Korridor flankierte. Als sie genau deren Höhe erreichte, erwartete sie fast, kratzende Laute und gedämpftes Jammern von der anderen Seite zu hören, aber sie hörte nichts - nur Stille und dann:

\'Poch... poch... poch...\'

Sie wollte herumwirbeln und weglaufen, oder sich wenigstens zu Boden werfen und angstvoll den Kopf mit den Armen bedecken, aber sie hatte längst die Kontrolle über ihre Beine verloren, die ihren Schritt nur beschleunigten. Als sie noch näher heran kam, konnte sie fühlen wie alles was von ihrem Verstand übrig war aus ihr heraus gesogen wurde. Der nächste Schritt trug sie zwischen das zweite Paar Türen und diesmal war sie sich gewiss, dass sie aufschwingen würden, um ihr das unaussprechliche Grauen das hinter ihnen lauerte zu offenbaren. Aber sie rührten sich nicht. Anstelle dessen:

\'Poch... poch... poch...\'

Diesmal war es lauter, wie drei Hammerschläge die die gesamte Realität erschütterten. Und noch immer trugen sie ihre Füße näher heran. Nach einigen weiteren Schritten stand sie schließlich direkt vor der Tür. Sie ragte vor ihr auf und trieb ihren Geist durch ihre bloße Präsenz an den Rand des Wahnsinns. Sie wollte ihren Blick abwenden, aber es war ihr nicht möglich.

\'Poch... poch... poch...\'

Die Tür bebte in ihren Angeln. Ihre Hand bewegte sich vorwärts um nach dem Türgriff zu greifen. Sie wollte etwas tun - irgendwas - um die Bewegung aufzuhalten, aber sie war eine Gefangene in ihrem eigenen Körper und konnte nur zusehen wie sie schließlich den Knauf ergriff und begann ihn zu drehen.

Die Tür schwang ohne den geringsten Widerstand auf.

Hinter ihr lag ein weiterer Korridor. Und an seinem anderen Ende war eine Tür.
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Kryo,

willkommen in der Lupe.

Eine sehr stimmungsvolle Inszenierung von Angst ist Dir hier gelungen. Du visualisierst einen typischen Alptraum.

Noch spannender wäre es, wenn das ganze Bestandteil einer Geschichte würde, man also erführe, wer "sie" ist und warum sie sich in dieser angstbeladenen Situation befindet.

cu
lap
 

Kryo

Mitglied
Hallo,

danke für die ermunternden Worte. Die von Dir aufgeworfene Frage ist in der Tat interessant. Falls sich mir eine Antwort in Form von Inspiration offenbart, werde ich sie nicht zurückhalten.
Bis dahin bleibt dieser Teil allerdings vorerst der Vorstellung des Lesers überlassen :)

Grüße,
Kryo
 



 
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