Angst

emaku

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Das Gerüst

Er quält sich, Schritt für Schritt über den Abgrund in die Höhe. Die Füße auf dem schmalen Rohr rutschen immer wieder ab, die Hände klammern sich an die nächste Stange über seinem Kopf. Er ist verzweifelt, als er spürt, er könnte an seinem Vorhaben scheitern - wieder einmal. Er denkt an seinen Vater, den mutigsten Mann, der er je kannte. Der hielt nicht viel von seinem Sohn, dem er oft mit Ungeduld begegnete. So, dass er ihm lieber aus dem Weg ging, um nicht diesen Blick ertragen zu müssen, der ihn maß und in dem sich seine eigene Unfähigkeit spiegelte. Er schließt die Augen, spürt den Schwindel. Alles um ihn scheint zu schwanken. Nein, wenigstens das ist er sich schuldig! Einmal muss er es beweisen, dass er seine unglaubliche Feigheit überwinden kann, wenn er nur fest dazu entschlossen ist - und sei es, um zu krepieren!

Verbissen kämpft er sich weiter nach oben, vermeidet den Blick nach unten oder zur Seite, über das Panorama der Stadt. Er weiß, dass der Anblick berauschend sein kann, der Vater hatte es ihm oft beschrieben mit einem Funkeln in seinem Blick. Dieser Kick, wie er es nannte, den wollte er nie missen. Aber er, er hat nur Augen für die nächste Stange, die sich langsam von oben in sein Gesichtsfeld schiebt und für die Hand, die danach greifen muss. Tränen schießen ihm in die Augen, so anstrengend ist es, so furchtbar schwer. Obwohl er jung und gesund ist, ein kräftiger Bursche. Aber was nutzt das, wenn man eine Memme ist? Vater hatte ihn nie so genannt, aber er wusste, dass er das dachte. Und jetzt auch noch Ulrike. Er hält inne, lehnt für einen Moment seine nasse Wange an die verkrampften Hände. Er denkt an seine Frau, die ihn letzte Woche verlassen hat, mitsamt den Kindern. Das hatte andere Gründe, aber eigentlich hat alles mit seiner Angst zu tun, kein richtiger Mann zu sein. Dieses eine Mal muss er es schaffen! Aber wofür? Vater ist längst tot, Ulrike aus seinem Leben verschwunden. Mühsam richtet er sich wieder auf und macht
weiter, Schritt für Schritt, Griff für Griff. Langsam, ganz langsam, um nichts mehr falsch zu machen. Alles egal, egal - nur oben ankommen, einmal groß sein - und jetzt: alles dafür geben, alles!
Endlich ist es soweit, nur noch eine Stufe trennt ihn von der letzten Plattform, gleich ist er oben! Hände recken sich ihm entgegen, greifen entschlossen nach seinen und ziehen ihn das letzte Stück hinauf. "Du hast es geschafft! Glückwunsch! Er hat's geschafft!" Seine Kumpel lachen. "Jetzt ist er einer von uns!" "Aber dass du mir nicht noch einmal ohne Helm herumkraxelst!" Der Alte runzelt die Stirn, um dann gleich wieder in das Lachen der anderen einzustimmen. "Also Jung', dein Vater würde jetzt mächtig stolz auf dich sein!" Seine Ängste sind wie aufgesogen von der Kameradschaft der anderen, von ihren Händen, die ihn immer wieder anerkennend berühren, von ihren wohlwollenden Blicken, die ihn umfangen, von der Wärme ihrer Körper, die hier auf der obersten Plattform dicht gedrängt einander Halt zu geben scheinen. Alle sind da - alle! Und er ist jetzt einer von ihnen! Und dann spürt er es, was er nie für möglich gehalten hat: dieses Rauschen in seinen Adern, dieses unglaubliche Gefühl von Erregung und Freude zugleich, nachdem er es über sich gebracht hat, an seinen Kollegen vorbei einen Blick zu wagen, den Blick über die Stadt, und jetzt spüren kann, wie die Aufregung sich wandelt, von der Angst in eine nie gekannte Euphorie. Hier oben bin ich, hier ganz oben - jubelt es in ihm. Alles, was zu erringen war, hat er errungen - hier oben.

Sie feiern noch lange in dieser Nacht. Er hat was ausgegeben, was Feines zum Essen, keinen Alkohol - den braucht er nicht mehr. Denn morgen, ganz früh, geht's wieder los - hinauf! Da hat er Schicht.
 



 
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