Angst

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Raniero

Textablader
Angst

Wir befanden uns auf dem Rückflug von der Insel Sizilien, genauer gesagt, Catania, nach Deutschland; gegen Ende September 2001, ungefähr drei Wochen nach dem Tag, der die Welt in erschreckender Weise verändert hatte.
Der elfte September.
Genau vier Tage nach diesen furchtbaren Attentaten hatten wir den Hinflug angetreten, von einem deutschen Flughafen aus.
In diesen Tagen sprach man von nichts anderem, hörte nichts anderes, dachte nichts anderes.
Die Bodenkontrollen, speziell des Handgepäcks, vor unserem Abflug fielen dementsprechend aus. Übergenau, nervtötend, in einer gereizten Atmosphäre; selbst die kleinste Nagelfeile durfte nicht mit an Bord genommen werden.
Es war halt etwas eingetreten, was man bis dazumal nicht für möglich gehalten, mit dem man nie gerechnet hätte; die Genauigkeit, die Pingeligkeit der Kontrollen konnte man verstehen. Vereinzelt gab es hierbei Aufgeregtheit und Unmutsäußerungen; manch ältere Dame wollte nicht einsehen, dass sie auf ihr Reiseetui verzichten sollte. Einige wenige hatten offensichtlich in den letzten Tagen weder Nachrichten gehört, gelesen oder gesehen.
Endlich, nach einer doppelt so langen Wartezeit wie an normalen Flugtagen ging es in die Luft.
Der Hinflug, die Flugzeit selbst wurde problemlos bewältigt, rein technisch gesehen.
Die Flugangst, das bange Gefühl der Beklommenheit, war sicher bei den meisten Fluggästen größer als bei den sonstigen ‚normalen’ Flügen.
Uns beiden, meiner Frau und mir, erging es nicht anders; die Ereignisse des elften September, gerade vier Tage alt, standen uns während des gesamten Fluges vor Augen.
Während unserer Urlaubstage auf Sizilien waren die Attentate von Amerika das alles überragende Thema. In den Zeitungen, im Fernsehen, aber auch auf den Strassen, am Strand und in den Lokalen, man sprach überall davon; mit Entsetzen, mit Wut, mit Angst, aber auch mit Erleichterung, dass es einen selbst nicht getroffen hatte.
Carpe diem war ein oft gehörter Spruch in diesen Tagen.

Den Rückflug traten wir an wie zuvor den Hinflug; mit sehr gemischten Gefühlen.
Die Kontrollen im Flughafen von Catania waren nicht anders als beim Abflug vom deutschen Flughafen, vor zwei Wochen. Sehr genau, in überfüllter und angespannter Stimmlage; die Wartezeit dehnte sich dementsprechend aus.
Im Gegensatz zum Hinflug war es auf Sizilien nur ein paar Grade wärmer; ein Zustand, der die gereizte Stimmung nicht gerade wenig aufheizte und nur durch die Gemütslage der meisten Fluggäste nach einigen Tagen oder Wochen Strandurlaub etwas kompensiert wurde.
Schließlich hob die Maschine vom Boden ab.
Ungefähr zwei Flugstunden lagen vor uns.
Wir hatten es uns bequem gemacht, die Reiselektüre vor den Augen; ich studierte die neusten Nachrichten aus der Tageszeitung.
Nach ungefähr einer halben Stunde begann man damit, die Bordmahlzeit auszuteilen.
Ich ließ meine Blicke durch das Flugzeug schweifen.

Wie von ungefähr fiel mein Augenmerk auf einen Mann mittleren Alters auf einem Platz vier Reihen vor mir, auf der anderen linkseitig des Flugzeugganges gelegenen Seite. Vom Aussehen her ein orientalischer Typ, vielleicht türkischer, vielleicht arabischer Abstammung. Etwas weiter, auf einem Platz sechs Reihen vor der unseren, auf der gleichen Gangseite, bemerkte ich wenig später einen anderen Mann, ein wenig jünger als der erste, von ähnlichem Aussehen, vom ähnlichen Typ.
Ansonsten saßen in den Reihen vor und hinter mir, soweit ich sehen konnte, allesamt Menschen mitteleuropäischen Schlages, die meisten sicherlich Italienurlauber.
Plötzlich erhob sich der erstgenannte Mann und strebte in ruhigem Schritt den Gang in Richtung Bordtoilette, die von meinem Platz sehr gut zu sehen war, zu.
Dort angekommen, stellte er sich in wartender Haltung vor die Tür; offensichtlich besetzt.
In diesem Moment bekamen wir in unserer Reihe das Essen serviert.
Einen Augenblick dadurch abgelenkt, bemerkte ich erst danach, dass sich der zweite Mann mit dem orientalischen Aussehen erhoben hatte und gleichfalls der Toilette näherte.
Die Tür zur Toilette war noch immer nicht geöffnet worden; beide Männer standen nun hintereinander in Wartehaltung davor; sie blickten sich nicht an.
Mich beschlich ein Gefühl lähmender Angst.
Was ging da vor sich? War das ein Zufall?
Zwei Männer mit ähnlichem Aussehen, so ganz anderem Aussehen als wir, gemeinsam vor der Tür der Bordtoilette.
Was hatten wir nicht alles gelesen und gehört, bis in alle Einzelheiten hinein, auf welche Art die Terrorflugzeuge in den USA gekidnappt worden waren, was sich dort in der Luft abgespielt hatte.
Ich überlegte mir, ob ich meine Gefühle meiner Frau, die neben mir saß und ahnungslos mit ihrer Mahlzeit beschäftigt war, mitteilen sollte.
Ich unterließ es.
War alles nur ein Traum? Ein Alptraum?
Die Tür zur Bordtoilette öffnete sich, heraus trat eine junge Frau. Der erste von den beiden Männern betrat die Toilette. Der andere stand nunmehr allein vor der Tür.
Das Gefühl der Angst, der Beklemmung, stieg weiter hoch in mir.
Sollte ich, musste ich reagieren? Und wenn, wie sollte ich reagieren?
Konnte ich es riskieren, durch lautes Geschrei, durch warnende Rufe, eine gefährliche Panik unter den Passagieren zu erzeugen? Oder konnte ich durch meine Warnungen Schlimmeres verhindern?
Ich wusste keine Antwort.
Gebannt starrte ich weiter nach vorne.
Die Tür zur Toilette öffnete sich. Heraus trat der erste Mann von den beiden und ging mit ruhigem Schritt zurück zu seinem Platz.
Der zweite betrat die Toilette.
Ich hatte weder einen sichtbaren Kontakt, einen Austausch von Gegenständen noch sonst etwas Verdächtiges zwischen den beiden bemerkt.
Dennoch verharrte ich weiter in höchster Anspannung, in Alarmbereitschaft.
Mittlerweile hatten wir die Alpen überquert, langsam näherten wir uns dem Heimatflughafen.
Die leeren Tabletts wurden eingesammelt.
Erneut öffnete sich die Tür der Toilette, der zweite Mann trat heraus, auch er bewegte sich normalen Schrittes zu seinem Platz und setzte sich.
Es gab keinerlei Blickkontakt zu dem anderen Mann.
Schon wurden wir aufgefordert, unsere Sicherheitsgurte anzulegen;
wir waren im Landeanflug auf unseren Flughafen.
Eine viertel Stunde später waren wir gelandet. Sicher!
Der Alptraum war zu Ende.

Erst später, auf dem Nachhauseweg über die Schiene, berichtete ich meiner Frau von dem Wechselbad der Gefühle während des Fluges.
Gleichzeitig war ich betroffen darüber, feststellen zu müssen, dass auch ich nicht frei war von Vorurteilen gegenüber anders Aussehenden, fremd Aussehenden.
Ich hatte im wahrsten Sinne des Wortes eine Xenophobie, eine Angst vor dem Fremden durchlebt.

In der italienischen Sprache bedeutet das Wort xenofobbia, das sich von der griechischen Sprache her ableitet, nichts anderes als:
Ausländerfeindlichkeit.
 
H

HFleiss

Gast
Ja, Raniero, so ist es: Die Hysterie ist nicht zu bändigen. Und sie wird mit jedem Tag dank unseren Politikern immer schlimmer. Aber da du uns so hübsch erklärst, was Xenophobie heißt, hier noch eine Erklärung: Carpe diem heißt "Nutze den Tag". In diesem Zusammenhang, wie du dieses Wort gebrauchst, sehe ich darin keinen Sinn. Ein bisschen gestolpert bin ich über einzelne Formulierungen, besonders der Eingangssatz müsste unbedingt logisch aufgebaut werden, er ist stilistisch ein kleines Ungeheuer. Ein paar Straffungen täten dem Text gut. Aber gut und flüssig erzählt. Auf den letzten Satz kannst du verzichten. Der Leser weiß selbst, was er sich bei diesem Text denken muss, musst du ihm nicht auf die Nase binden. Wir hatten in der DDR eine Krimireihe "Der Staatsanwalt hat das Wort". Ich habe immer darauf gewartet, dass Przybylski anhob: Was lernt uns das, liebe Zuschauer? So ähnlich ging es mir auch mit deinem letzten Satz. Geh noch mal drüber und kürz ein bisschen ein.

Liebe Grüße
Hanna
 

denLars

Mitglied
Hiho, Raniero!
Eine nette, spannende Geschichte hast du da geschrieben. Vor allem gefielen mir die Beschreibungen der Gefühle und der Beklommenheit nach den Attentaten.
Im Flugzeug wird die Spannung langsam gesteigert, hervorgerufen durch die Beschreibung der vermeintlichen Attentäter.
Allerdings fällt auf, dass deine Sätze immer kürzer werden, je weiter der Text fortschreitet. Wenn dies beabsichtigt ist, um das Lesetempo und so die Spannung zu steigern- gut. Ist es eigentlich ungewollt, wäre es vielleicht ein kleiner Stil-Schnitzer. Ich habe nichts gegen kurze Sätze...längere machen nur, wie ich finde, ein wenig mehr her, (außerdem wurde mir dies früher immer bei meinen eigenen Geschichten eingetrichtert ;)...

Doch zurück zu deiner Geschichte:
Du greifst ein wichtiges Thema gekonnt auf und baust Spannung geschickt auf. Die Worterklärung am Ende fand ich ebenfalls gelungen und fügt sich gut in den Text ein.

Gut!

Dein Lars
 

Raniero

Textablader
Hallo Hanna, hallo Lars,

freut mich, dass Euch die Story gefallen hat, wenn auch die Beurteilungen unterschiedlich ausfielen.
:)

Carpe diem war meiner Meinung nach tatsächlich zu dem Zeitpunkt ein Spruch, welcher der Situation angemessen war, denn es hätte jeden von uns treffen können, zu falscher Zeit am falschen Ort zu sein.
In solchen Momenten empfinden viele Menschen das gleiche.

Gruß Raniero
 



 
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