Anna Moll

Anna Moll
Der Tod sass auf der Treppe und wartete auf Anna Moll. Es war der erste Tag des Sommers `98. Nach der Arbeit fuhr man noch in die Schwimmbäder, kraulte mitzählend einige Längen, sah, während die Sonne die Haut trocknete, den Ameisen zu, wie sie an den Schienbeinen hochkrabbelten und liess sich aufblasbare Plastikbälle versehentlich auf den Bauch werfen. Mit nassen Frottiertüchern in Plastiktaschen kehrte man in der warmen Dämmerung nach Hause. Im Ohr noch die ins Wasser sprin-genden Kinder, die jedesmal ein akkustisches Tryptichon erzeugt hatten. Zuerst die Ohrfeige des Aufpralls, dann das rasch dumpfer werdende Brausen des durchstossenen Wassers und zum Schluss das Kichern der ins Wasser zurückfallenden Spritzer. Anna Moll lebte alleine. Als sie mit der Post unter dem Arm die Haustür aufschloss, begoss eine Nachbarin, als wolle sie nicht gesehen werden, einen kleinen Kaktus. Anna nahm den Lift. Ihre Augen waren rot vom Chlorwasser und die Post bestand aus lauter Rechnungen, die sie in ihrer Wohnung auf den Boden warf, um sie nicht zu vergessen. Als Anna sich umdrehte, stand er da. Sofort befiel sie in allen Gliedern starker Muskelkater, und seinerseits betrachtete der Tod einen Menschen, dem an der Innenseite des Oberschenkels Urin herunterfloss. Alles in allem kein ungewöhnlicher Anblick. Anna fiel in den Tod hinein, stürzte mit ihm zu Boden und schlug mit dem Kopf gegen das Tischbein. Der Tod war feucht, schwitzte, hatte keinen festen Körper. Er lag zwischen ihr, in ihr drin, auf ihr drauf, sie begrub ihn. Der Gestank des Todes entpuppte sich als eine Landschaft aus Gerüchen, in der sich Anna auszukennen begann. Da gab es eine zwieblige Fäule, der gleichzeitig eine feine Süsse anhaftete und in einem entlegenen Duftwinkel entfaltete sich sogar eine behagliche alkoholische Wirkung. Anna besass den Tod für sich und auch der Tod konnte sich nicht beklagen. Er lag in einem Mädchen, das nach Vanille duftete. Als erstes schienen sich ihre Beine unter seinem wachsenden Gewicht aufzulösen, dann verflüssigten sich schnell die Arme, liefen unter den Kopf und durchtränkten ihr Haar. Einzig Anna Molls Rumpf wurde immer härter und krümmte sich wie ein abgebranntes Streichholz rückwärts in den Boden hinein. Nur die linke Brust ragte noch Tage heraus. Ein unwissender Gast hätte leicht darüber stolpern können.


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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