Annem-Trilogie Teil I: Der Nordweg

putorius

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Der Nordweg
Erster Teil der Annem-Trilogie


Der Regen hatte unerwartet früh, aber auch weitaus heftiger eingesetzt als angenommen. Calyr, der lediglich seine gewöhnliche Reisegarderobe trug hockte vor Kälte zitternd im Sattel und blinzelte angestrengt in die unbarmherzig dunkler werdende Nacht. Die Art und Weise, mit der sich sein Pferd auf dem immer schlüpfriger werdenden Weg vorwärts bewegte, gefiel ihm nicht denn die Schritte waren von Zeit zu Zeit deutlich unsicher geworden und er konnte spüren, wie sich die Nervosität seines Reittiers auf ihn selbst übertrug. Er fluchte leise. Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Er gestand sich zwar ein, die Entfernung zur Wegesrast falsch eingeschätzt zu haben, aber ausschlaggebend für die Verzögerung seiner Reise war für ihn eindeutig der unvermutet schlechte Zustand der schmalen Handelsstraße, die das Gebirge entlang eines eng verwundenen Tals durchschnitt. Es war dort so schmal, dass man selbst bei strahlendstem Sonnenschein beinahe im Dunkeln ritt und vom Himmel nur ab und an ein zackig sichelförmiges Stück blau sehen konnte. An zwei Stellen war die relativ häufig befahrene Straße durch die schweren Gespanne der Händler derart in Mitleidenschaft gezogen worden, daß Calyr es vorgezogen hatte vom Pferd abzusitzen, und die Gefahrenstelle mit größter Vorsicht zu passieren. Etwas später, an einer Brücke, hatte er zumindest Anzeichen emsiger Reparaturtätigkeiten entdeckt. Zu beiden Seiten der Gefahrenstelle hatte man vor nicht allzu langer Zeit frisch geschlagene Baumstämme aufgetürmt und zur Sicherheit die lädierte Stelle des Überwegs mit starken Tauen provisorisch verstärkt.
Calyr warf noch einmal einen Blick zurück zu dieser Brücke, dann trieb er sein Pferd an, weiter zu reiten. Es war anzunehmen, daß die Wegesrast zentraler Ausgangspunkt der Reparaturtrupps war und er bis dort hin wenigstens gut abgesicherte Wege vorfinden würde. Seinem Gefühl konnte Calyr schon immer trauen und das sagte ihm jetzt, daß die Rasthütte schon hinter der nächsten Biegung liegen mußte. Das Problem war nur, dass er hier im Regen und bei dieser Dunkelheit keine Biegung erkennen konnte. Er lauschte, aber er konnte nur das Rauschen des stürmischen Herbstwindes in den Baumwipfeln, das Prasseln der schweren Regentropfen und das dumpfe Grollen des Flusses Blaulauf unter sich hören. Es vermischte sich zu einem düsteren Konterpunkt, in dem eine Komponente fehlte: Leben.
Dann aber, als der schwache Blitz eines heraufziehenden Gewitters für einen Lidschlag lang durch die wehenden Nadelbäume zuckte, zeichnete sich der kantige Umriss eines Blockhauses zwischen den vor Nässe glänzenden Baumstämmen ab. Er brachte sein Pferd vor dem Haus zum Stehen und musterte irritiert das Gebäude. Es brannte kein Licht, aber die Fensterläden waren nicht geschlossen. Mit einiger Mühe gelang es ihm aber immerhin, das Schild zu entziffern, das über dem Eingang im Wind schaukelte. "Wegesrast Nordwegklamm". Calyr ließ sich fröstelnd aus dem Sattel gleiten, band seinen Schimmel an einen Baumstamm und zog beinahe unbewußt sein Schwert aus der Sattelhalterung, den Blick fest auf die schemenhaft dunkle Silhouette der Wegesrast geheftet. Das blanke Metall der Waffe blitzte silbern auf, als ein weiterer Blitz die Nacht kurz erhellte. Bei dem tosenden Unwetter war es überflüssig sich anzuschleichen, also ging er direkt zu einem der Fenster auf der Stirnseite des Hauses und lugte vorsichtig ins Innere, aber er konnte durch die teuren Butzenscheiben nichts außer Dunkelheit erkennen. Daher schob er sich nun zur Tür und prüfte den Riegel, aber sie war nicht verschlossen und öffnete anstandslos mit einem leisen Knarzen nach innen.
Calyr trat ein und drückte die Tür mit dem Rücken wieder ins Schloss. Einige Herzschläge lang genoß er die Stille und Trockenheit, aber dann lehnte er sein Schwert an die Wand, griff in seinen Hosenbund und zog einen Lederbeutel hervor. Er öffnete ihn mit vor Kälte steifen Fingern und sogleich trat ein sanfter grüner Schimmer aus, der die niedrige Balkendecke in einen eitrigen Olivton tauchte. Er zog den Gegenstand heraus, der für das Leuchten verantwortlich war: ein Eulenauge. Eulenaugen waren kleine durchsichtige Kugeln aus einem besonderen Mineral, in das Magier vom Weg des Lichts Leuchtzauber zu legen befähigt waren. Diese Leuchtkugeln konnte man dann zu Ringen, Talismanen oder - wie in Calyrs Fall - zu einem Amulett weiter verarbeiten. Nachdem er es sich um den Hals gehängt hatte, nahm er sein Schwert wieder in die Hand und sah sich in dem dunkelgrünen Zwielicht um. Es gefiel ihm nicht, was er sah.
Die gesamte Einrichtung war zertrümmert worden und lag über den ganzen Dielenboden verstreut. Auch die Treppe, die in das Obergeschoß führte, hatte gelitten. Das Geländer fehlte ganz, und am oberen Ende, wo sie durch die Decke brach, klaffte ein riesiges Loch, als hätte sich etwas hindurch gezwängt, das eigentlich nicht hätte durch passen sollen. Das dunkle Glänzen der Treppe ließ darauf schließen, daß Wasser eindrang und das wiederum bedeutete, daß vom Dach nicht sehr viel mehr übrig war als von der Treppe. Aber was bei allen drei Höllen konnte eine derartige Verwüstung anrichten? Er sah sich genauer im Raum um, in der Hoffnung Anhaltspunkte für die Natur des Urhebers zu finden. Dann aber durchzuckte ein besonders gleißender Blitz die Nacht und unterbrach seine Untersuchungen abrupt. Der Blitz ließ die Fenster rundum erschrocken aufglühen und im selben Augenblick krachte der Donner mit einer solchen Wucht, daß der Boden erzitterte wie unter dem Keulenhieb eines Riesen. Die plötzliche Helligkeit hatte die Fenster in Calyrs Augen gebrannt, die nun als violette Geisterbilder vor seinen Augen tanzten. Er stand wie gelähmt im Raum. Aber nicht weil er erschreckt worden war, sondern weil in dem Donner noch ein zweites Geräusch zu hören gewesen war. So undeutlich zwar, dass es mehr gefühlt als gehört werden konnte, aber zugleich so fremdartig, daß es ihm einen Schauer den Rücken hinab rieseln ließ.
Die Neugier trieb ihn langsam zur Tür, die er vorsichtig einen Spalt weit öffnete. Die Gischt des gegen die Hauswand prasselnden Regens benetzte kalt und naß sein Gesicht, so dass es ihm unmöglich war, in dem Unwetter irgend etwas zu erkennen. Daher öffnete er die Tür ganz und schlüpfte hinaus, wo er dicht an die Wand gepreßt den Vorplatz examinierte. Und er wurde fündig. An einer Stelle war der Boden aufgewühlt und als er sich dort auf sein Schwert gestützt in die Hocke sinken ließ, stellte er fest, dass die Pfützen in dem Bereich dampften. Er tauchte den behandschuhten Zeigefinger der freien linken Hand hinein und roch daran, um bestätigt zu bekommen, was er längst schon wußte. Blut. Aber wessen Blut? Er sah sich alarmiert um, und als er den Blick entlang des nächst gelegenen Baumstammes nach oben wandern ließ, erkannte er die Stelle wieder, an der er noch kurz zuvor sein Pferd angebunden hatte. Das Zaumzeug war sogar noch da; es baumelte im Wind, und der Regen wusch das ab, was von seinem Reittier noch daran haftete.
Calyr sammelte sich und versuchte sich zu konzentrieren. Er brauchte jetzt einen klaren Kopf, wenn er heil aus dieser gefährlichen Situation wieder heraus kommen wollte, das wußte er. Er murmelte eine kleine Beschwörungsformel, die er sich von einem Bannmagier hatte beibringen lassen. Sie bewirkte zwar keine echte Magie, aber sie half ihm, seine Gedanken auf einen Punkt zu lenken, der nadelspitz war. Er hockte noch immer unverändert auf dem Boden. Beiläufig nahm er wahr, wie die Kälte aus seinen Knochen wich, der Wind verschwand und der Regen der Bedeutungslosigkeit anheim fiel. Es war, als würden alle Umwelteinflüsse sanft hinter einem schwarzen Seidenvorhang verschwinden. Auch die Geräusche nahmen rasch ab, bis auf eines. Es war ein leises schleppendes Pumpen. Und er fühlte noch mehr. Er spürte eine lauernde Präsenz, die nach ihm gierte. Calyr gelang es sogar, die Quelle zu lokalisieren. Die ganze Beschwörung hatte bis jetzt lediglich zehn Herzschläge angedauert und Calyr erhob sich langsam mit noch immer geschlossenen Augen drehte er sich ruhig um, hob den Kopf und schlug die Augen mit einem entschlossenen Ruck auf.
Und da hockte der Drache auf dem lädierten Dachstuhl und äugte mit citringelben Augen direkt zu ihm herab. Calyr sah, wie das Untier mit seinen Klauen beiläufig Schindeln vom Dach löste, die dann geräuschlos und langsamer als erwartet nach unten fielen. Es saß dort oben in feierlicher Ruhe und die Art und Weise, wie der Drache den Kopf auf seinem muskulösen Schlangenhals wiegte, vermittelte eine majestätisch tödliche Intelligenz, die man in dem vom Trieb geprägten Blick von gewöhnlichen Raubtieren vermißte. Die Zeit schien wie in Honig getaucht zu sein. Aber in diesem Augenblick riß Calyrs Beschwörung ab und die Witterungseinflüsse brachen gnadenlos über ihm zusammen. Es war wieder kalt, naß und das tobende Unwetter zerrte an seinen klatschnassen Kleidern. Er zitterte vor Kälte und Schock, und er mußte wie gelähmt mit ansehen, wie sich der Drache mit zwei drei kräftigen Flügelschlägen in die Luft hob, sich wieder sinken ließ und über das Holzschindeldach zu ihm herab schlitterte. Das Holz krachte und das Gebälk ächzte unter dem Tonnengewicht des Untiers.
Im aller letzten Augenblick gewann Calyr einen Teil seiner Kontrolle zurück und warf sich kopfüber in einen nahe gelegenen Busch. Die Flügelspitze des Drachen peitschte über ihn hinweg, ließ Äste und Blätter auf ihn nieder regnen. Doch mit einem Male wurde Calyrs Magen leicht, und er flog in ein bodenloses Loch. Einen Herzschlag lang nur, dann trieb ihm ein brutaler Schlag im Rücken die Luft aus den Lungen, aber bevor er wußte wie ihm geschah, flogen Erde, Steine und Äste vor seinen Augen vorbei, bis ein heftiger Schlag gegen seine linke Schulter die Welt um ihn herum in Drehung versetzte. Er sah, wie ihm die schäumende Gischt des Flusses entgegen sprang, dann folgte ein letzter trockener Aufprall, der das Geschehen zum Stillstand brachte.
Calyr lag auf dem Rücken und schaute nach oben in die wogenden Wipfel der Nadelbäume. Er drehte den Kopf und versuchte zu erkennen, wie weit er den bewaldeten Steilhang hinabgestürzt war, an dessen Kante man die Wegesrast errichtet hatte, aber sein Eulenauge leuchtete zu schwach. Dann mischte sich ein neues Geräusch in das tobende Unwetter. Er konnte deutlich hören, wie sich der Drache durch das Baumlabyrinth auf ihn zu bewegte. Die Steine lösten sich unter dem Gewicht der Kreatur und rollten taumelnd auf Calyr zu. Erst im letzten Augenblick konnte er die Geschosse in der Dunkelheit ausmachen, und einer der Steinbrocken verfehlte seinen Kopf zu knapp für seinen Geschmack. Jetzt konnte er zwischen den Baumstämmen bereits die in schwefelgelbem Haß lodernden Augen des Drachens sehen, die sich in ruckartigen Zickzack-Bahnen unaufhaltsam auf ihn zu bewegten. Calyr wollte sich aufrappeln, aber sein ganzer Körper war taub. Um seine linke Schulter machte er sich besonders viele Sorgen, denn mit jedem Herzschlag pulsierte der dumpfe Schmerz heftiger und sein linker Arm war nicht belastbar. Dennoch gelang es Calyr, sich auf die Knie zu rollen und unter Zuhilfenahme eines morschen Baumstammes aufzustehen. Er humpelte so schnell es ihm möglich war, entlang der Stromschnellen, das felsige Flußbett hinunter. Sein Eulenaugenamulett leuchtete ihm nur schwach den Weg. Aber nicht nur ihm! Calyr keuchte bei der Erkenntnis. Er packte das Amulett mit der rechten Hand und riß es sich mit einem kräftigen Ruck vom Hals, dann holte er weit aus und warf das teure Schmuckstück so weit er konnte schräg nach hinten über den Fluß. Er sah, dass es am anderen Ufer gegen eine Felsplatte prallte und dann in einem Farnbusch verschwand. Kurz konnte man die Farne als schwarze Schatten vor dem gedämpften Licht des Eulenauges sehen, dann stürzte sich der Drache auf halb ausgebreiteten Schwingen plump in den Busch. Er hatte sich wohl am unteren Ende des Hangs abgestoßen. Erde und Steine flogen auf und prasselten im Lärm der tobenden Naturgewalten unhörbar ins Wasser. Der Drache fauchte, zischte und scharrte wütend, als er hinter die Täuschung gekommen war. Calyr strauchelte und fiel vornüber hin, aber zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass er über einen quer liegenden Baum gestolpert war, hinter dem er Schutz suchen konnte. Und so kauerte er sich so weit unter den Baum wie es ging. Dann versuchte er, sich so leise wie möglich zu verhalten.
Während er in dem Matsch lag, rief er sich alles in die Erinnerung zurück, was er bis dato über Drachen gehört hatte. Es war nicht sehr viel. Er wußte, es gab zwei große Drachenarten, die allesamt weit jenseits der Grenzmark Handrell im Lande Farlowee lebten. Nur sehr wenige hatten Drachen mit eigenen Augen gesehen und die wenigsten waren nach der Begegnung noch in der Lage gewesen, der Menschheit davon zu berichten. Die Schwarzdrachen hatten einen kurzen kräftigen Hals und kleine Stummelbeine, womit sie sich eher wie riesige Eidechsen bewegen konnten. Sie hatten grüne Augen und galten als eher passiv. Die andere Art hingegen paßte sehr viel besser auf das Exemplar, welches Calyr da vor sich hatte. Diese als Rotdrache bezeichnete Spezies war größer, angriffslustiger und hatte leuchtende gelbe Augen, die den Gelehrten zufolge von dem inneren Feuer herrührten, das in den Untieren loderte. Rotdrachen waren zudem bekannt dafür, dass sie im näheren Umkreis ihres Horstes Jagd auf alles machten, das sich bewegte. Die Beute schafften sie dann in ihren Bau, wo sie sich gerne einen reichhaltigen Vorrat anlegten. Sie pflegten das zu tun bis entweder die Höhle voll oder das Jagdgebiet leer war.
Calyr war sich sicher, dass der Drache noch ein Jungtier war, da die Herberge ein guter Größenaßstab war. Natürlich mußte er davon ausgehen, dass Berichte über die wahre Größe von Drachen stets übertrieben sein konnten, aber die These eines Jungdrachens machte Sinn. Es konnte sich durchaus um einen Tier handeln, das über das Felsenmeer hinweg seinen Weg ins Land Annem gefunden hatte, um dort sein erstes eigenes Revier abzustecken. Der Siebenwaldgrat bot sich wegen seiner schroffen Felsen hervorragend an, da man von ähnlichen Landschaftsformen im von Menschen unbewohnten Heimatgebiet der Drachen berichtete. Was die Anwesenheit eines Drachen für Wirtschaft und Handel in der Region Siebenwald bedeutete, versuchte sich Calyr erst gar nicht auszumalen.
War es still? Calyr stützte sich vorsichtig auf seinen rechten Ellbogen und lugte vorsichtig über den Baumstamm hinweg. Der Regen hatte fast völlig aufgehört und auch der Wind hatte an Heftigkeit verloren. Graues Licht sickerte durch die nassen Nadelhölzer. Vermutlich riß die Wolkendecke sogar auf, um fahles Mondlicht zur Erde durch zu lassen. Kein Drache war in Sicht. Jedenfalls nicht, wenn man nach etwas rotem suchte, denn trügerischer Weise waren Nachts alle Katzen grau und das traf in gleichem Maße auch auf Drachen zu. Und so mußte Calyr mit wachsender Panik zusehen, wie der Drache zunächst dicht am Fluß gekauert war, kurz den Kopf in die Luft angehoben hatte um zu schnüffeln und jetzt direkt in Calyrs Richtung sah. Die Kreatur richtete sich blitzschnell auf und lief direkt auf den vor Schreck starren Calyr zu indem er hauptsächlich auf den Hinterbeinen lief und die etwas kürzeren Vorderbeine dazu verwendete, tief hängende Äste aus dem Weg zu streifen; die Flügel waren im Wald nutzlos und fest an den Leib gelegt. Ob es ein Vorteil war, dass sich der Drache auf der anderen Flußseite befand, konnte Calyr noch nicht einschätzen. Er sah den Hang hinauf: zu steil! Der Drache hatte Calyr fast erreicht, aber es war mehr als deutlich, dass er den Fluß nicht überqueren konnte. Eine Kreatur dieser Größe brauchte viel Platz, um sich aus eigener Kraft in die Luft erheben zu können und davon gab es hier an der tiefsten Stelle des Tales den Göttern sei Dank viel zu wenig.
Dann blies der Drache. Calyr duckte sich reflexartig hinter den Baumstamm während die Luft über ihm kochend brodelte. Aschebrocken rieselten herab nachdem sich die Hitze so schnell verflüchtigt hatte, wie sie gekommen war. Calyr, der sich langsam hinter seinem Schutzwall erhob, lugte über den Fluß, wo der Drache am Ufer auf und ab lief wie eine Raubkatze in den Käfigen der fahrenden Schausteller. Man konnte deutlich spüren, wie sehr sich der Drache ärgerte, nicht den Fluß überqueren zu können. Das Untier sah zu Calyr herüber, auch, während er seine Richtung in die entgegengesetzte Richtung änderte und dabei mit dem Schwanz entweder unbewußt oder zornig Büsche entwurzelte. Dann aber drehte sich sein Kopf langsam flußabwärts und Calyr folgte dem Blick. Wachsendes Entsetzen mischte sich in seinen Blick und nur zu deutlich bemerkte er, wie sich in seinem Augenwinkel der Drache in Bewegung setzte und unter brechenden Ästen auf genau die Stelle zulief, die sie beide im schwachen Mondlicht erblickt hatten. Gut dreißig Schritt entfernt lagen Findlinge kreuz und quer im schäumend dahinrauschenden Fluß. Die Wassermassen brachen sich an den im Wasser liegenden Felsen und bildeten eine Gischt, aber angesichts seiner zu erwartenden Beute würde das den Drachen nicht davon abhalten, den feuchten Nebel zu durchqueren.
Calyr rappelte seine tauben Glieder auf und humpelte unbeholfen den Weg wieder zurück, den er bisher genommen hatte. Kaum hatte er zehn Schritt zurückgelegt, hörte er den Drachen hinter sich. Wie lange würde es dauern, bis er wieder in der Lage war Feuer zu speien? Er wußte es nicht, rannte weiter. Zweige gruben sich in sein Gesicht, zogen lange Schnitte in Wangen und Stirn. Auch das dornige Gestrüpp, das oberhalb seiner kurzen Reitstiefel durch die Hosen kratzte interessierte niemanden. Er torkelte weiter, bis sich vor ihm plötzlich das Tal weitete und eine breite Uferböschung freigab, die sich in rasch ansteigendem Winkel einen kaum Bewaldeten Hang hinauf zog und auf der anderen Seite von einer Flußschleife eingerahmt wurde. Auf Calyr wirkte der im Dämmerlicht daliegende Ort wie eine Löwenarena, in der er die Rolle des Opfers zu übernehmen hatte. Als könnte das Unwesen seine Gedanken lesen brüllte der Drache hinter ihm zornig auf, den neuen Feuerstoß bereits für sein Ziel aufsparend, auf die passende Gelegenheit hinfiebernd.
Noch gab er sich dem Untier nicht geschlagen und so lief Calyr weiter in Erwartung eines Wunders. Der Drache hatte nun auch die Lichtung erreicht und warf sich gegen den letzten dünnen Baum, der ihm im Weg war, als wollte er dem holzigen Gestrüpp klar machen, dass sich nichts und niemand einem Wesen seiner Art in den Weg stellen konnte. Eine flache Steinscholle brachte Calyr zu Fall und wenn er in seinem Nahkampftraining nicht gelernt hätte, sich reflexartig über die Schulter abzurollen, hätte er mit Bestimmtheit die Besinnung verloren. So aber landete er lediglich unsanft auf dem Bauch und erwartete ausgelaugt sein Schicksal. Ein Lichtblitz brach über ihn herein, aber die Höllenglut blieb aus. War es nicht sogar kühler geworden? Vorsichtig hob er den Kopf und schaute über die vor Schmerz pochende Schulter nach hinten, wo der Drache beinahe benommen verharrte. Sein rechtes Vorderbein war etwas verdreht abgespreizt und schien steif zu sein. Dann blies der Drache ein zweites Mal, aber obwohl nur gut zehn Schritt zwischen Drache und Calyr lagen, fegte der brachiale Feuerstoß hoch über ihn hinweg. Der Drache waberte in der Glut seiner eigenen Hitze auf, dann blickte Calyr wieder nach vorne, wo der Feuerstoß eine breite Schneise in Brand gesetzt hatte. Sogar die Steine schienen kurz Feuer gefangen zu haben, aber es war nur eine Täuschung. Aber was war das? Als die Flammen rasch erloschen gaben sie den Blick auf eine zweite Kreatur frei. Sie mochte nicht viel größer als Calyr selbst sein, hatte die Proportionen eines Drachen, wirkte aber zerbrechlich wie Glas. Und sie blitzte im Mondlicht silbern auf. Noch während Calyr von dieser Erscheinung gebannt dalag, breitete der silberne Drache in gelassener Langsamkeit ein Paar Schwingen aus, die sich sichelförmig über seinen Kopf spannten bis sie sich oben beinahe berührten. Am Kopf der Kreatur stellten sich zwei fächerförmige Ohrensegel auf und ihre pupillenlosen Augen begannen in aquamarinfarbenem Licht zu leuchten.
Calyr lag da, war fasziniert und sah, wie weiße Lichtfunken entstanden und eine Art Glühwürmchen-Wolke um den Silberdrachen entstehen ließen. Diese stoben auseinander und breiteten sich zu einem Sternenhimmel aus, der die ganze Lichtung ausfüllte. Die Helligkeit dieser magischen Lichtpunkte änderte sich rasant und unrhythmisch, das reinste Blitzgewitter. Calyr kam sich vor wie im Zentrum eines Gewittersturmes ohne Donner und Wind. Er sah noch, wie sich der silberne Drache in die Luft erhob und auf ihn zu flog, aber dann mußte Calyr den Kopf senken und die Augen mit den Händen schützen, um nicht geblendet zu werden. Fauchen und unmenschliches Gebrüll erhob sich hinter Calyr. Es war laut genug, den tobenden Fluß mit Leichtigkeit zu übertönen. Wellen aus heißer und kalter Luft wogten in wechselnden Schüben über den am Boden liegenden herein, Steine prasselten ab und an auf ihn hinab, dann ein lautes Grunzen, das in einem wie ein Seufzer klingenden Röcheln erstarb. Irgend etwas zischte noch, dann war es still. Calyr erhob sich und sah zum Rotdrachen. Er lag leblos auf der Seite, daneben hockte der um ein Vielfaches kleinere Silberdrache und leckte seine Tatzen wie ein junges Kätzchen. Nun aber sah die Kreatur in Calyrs Richtung. Irgend ein ihm bislang verborgen gebliebener Sinn sagte ihm, dass von diesem Wesen keine Gefahr ausging und humpelte ihm sogar entgegen. Drei Schritt vor dem Silberdrachen blieb er stehen und besah sich dieses bislang unbekannte Wesen. Der Drache tat es ihm gleich. Die Augen der Kreatur leuchteten kurz wieder heller auf, die Ohrsegel zuckten leicht und eine angenehme Kühle durchströmte Calyr. Sie vermittelte ihm eine innere Harmonie, eine feierliche Anmut, die vom Drachen ausging. Der Drache bildete einen Fokus, ähnlich der Beschwörung, die Calyr kurz zuvor eingesetzt hatte, und in der gebündelten Ruhe konnte er ein Wort fühlen. Es war erquickend wie ein Gebirgsquell im Frühling, so klar und rein wie die kühle Frische nach einem Sommerschauer und so unergründlich tief wie die Nacht eines sternklaren Himmels. Dieses Wort war "FlinChee". Dann kehrte er in die fühlbare Welt zurück und nach einem Augenblinzeln erschien ihm der Drache wie das Nachbild eines wundersamen Traumes. Es dauerte noch zwei drei Lidschläge bis ihm klar wurde, dass der Drache tatsächlich nur noch Bild seiner Gedanken war. Er war verschwunden.
Calyr stand allein neben dem toten Rotdrachen, griff in seinen Stiefelschaft und fand dort seinen Dolch, den er dort immer trug. Dann trat an den massigen Kopf des Drachens und brach das begehrte daumenlange Nasenhorn von dessen Schnauzenspitze. Er kannte nur drei Menschen, die diesen Tapferkeitsbeweis trugen und nie hatte er an die Echtheit dieser Drachentötertrophäe geglaubt, aber nun gehörte er auch zu diesen wenigen Helden, die eine Drachenbegegnung überlebt hatten. Er drehte das Horn zwischen den Fingern. Mit diesem Beweisstück am Schwertgriff würde er Hochachtung und Bewunderung erlangen. Respekt und Ansehen würden ihm Tore öffnen, die für andere auf immer verschlossen blieben, doch dann brach dieses Gefühl so schnell wie es gekommen war. Er wußte, dieses Horn gebührte ihm nicht. Hatte er den Drachen wirklich erjagt? Er besah sich das Horn von allen Seiten mit wachsendem Unbill. Nein. Er war weggelaufen wie ein kleines Kind, hatte sich versteckt und angestellt wie ein ängstlicher Welpe. Der Silberdrache hatte das Werk vollbracht, nicht er. Während Calyr vor Angst zitternd auf dem Boden gekauert war, hatte der Silberdrache die Bestie niedergestreckt. Calyr wußte, wenn er diese Trophäe nicht mit sich nehmen würde, niemand würde seiner Geschichte Glauben schenken. Man würde ihn als Angeber, Spinner, ja vielleicht gar als Lügner beschimpfen und zum Gespött machen. Aber sein Entschluß stand fest. Er ballte die Faust um das Horn und warf es in hohem Bogen in den Fluß. "Für dich, FlinChee, es gebührt dir! nur dir allein!" In dem Augenblick, als die Kostbarkeit in den strudelnden Sog der Wassermassen eingetaucht war, legte sich eine schneidende Kälte um seinen Nacken. Er griff sich an den Hals und erfühlte eine Kette, die er langsam umfaßte, über den Kopf streifte und betrachtete. Das Schmuckstück war ein Amulett und schien aus Eis gefertigt zu sein, das jedoch nicht schmolz, wohl aber dessen Temperatur aufwies. An der durchsichtigen Gliederkette hing ein taubeneigroßer Kristalltropfen aus demselben Material, und als er hinein blickte erkannte er darin die markanten Zinnen der unweit gelegenen Handelsstadt Kalhem. Er wußte nun, was zu tun war.


Ende des ersten Teils
(September 2003)



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