Another human eradicated...

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vicell

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Another human eradicated...

Der Mann, der meinen Freund getötet hatte, wurde drei Monate nach dem Verbrechen verhaftet. Er war damals 21 Jahre alt. Für mich gab es jedoch keine mildernden Umstände. Der junge Mann war weder betrunken gewesen noch hatte er Drogen genommen, er war zur Zeit seiner Tat voll zurechnungsfähig. Für mich war er nichts weiter als ein gewöhnlicher Krimineller, ein Dieb und Mörder, bereit zum sinnlosen Töten, um keine Zeugen zur eventuellen Identifizierung zu hinterlassen. Als 1972 der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten erklärte, dass nach der bestehenden Gesetzeslage „...die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe...eine grausame und ungewöhnliche Bestrafung darstelle“, die den 8. und 14. Zusatzartikel der Verfassung verletze, erschien mir dies nur allzu vernünftig und einleuchtend. Natürlich war es an der Zeit, den elektrischen Stuhl und all die Ungerechtigkeiten und menschenrechtsverletzenden Hinrichtungen für immer und ewig aus der Welt zu schaffen. Doch da lebte Jonathan noch. Er hatte einen Job in einem Imbiss, um sein Jurastudium zu finanzieren und wir sahen uns kaum in der Woche, höchstens am Abend, wenn er müde von der Arbeit nach Hause kam und sich dann noch über die Bücher setzte. Ich hatte zu der Zeit schon mein Studium beendet und fing ein Journalistik-Praktikum in einer kleineren Zeitungsredaktion in Houston, Texas, an. Es war harte Arbeit, aber ich gewöhnte mich schnell ein und erledigte meinen Job gut. Nach einem Jahr wurde ich fest eingestellt und in ein größeres Büro versetzt. Dies stärkte mein Selbstbewusstsein und ich hatte das Gefühl, die Welt läge mir zu Füßen. Jonathan und ich waren glücklich. Es ging voran mit seinem Studium und bald würde auch er einen guten Job bekommen und dann stände unserer gemeinsamen Zukunft nichts mehr im Wege. Es schien alles so klar und übersichtlich. Bis zu jenem Abend, als ein junger Mann ihn nachts auf der Straße anhielt und ihm mit vorgehaltener Pistole sein gesamtes Geld abnahm und ihn daraufhin kaltblütig erschoss. Mehrmals hatte er auf ihn eingeschossen, ein beispielloser Akt von sinnloser und gedankenloser Gewalt. Es war ein Mord, der auch mich zerstörte. Und ein weiterer Grund welch Ironie - der wieder und wieder von den Gesetzgebern in meinem Staat als Rechtfertigung zur Wiedereinführung der Todesstrafe dienen sollte. Ich war am Eingang der Hölle gewesen und bin wieder zurückgekommen. Mit der Wiedereinführung der Todesstrafe allerdings war ich gezwungen, einen tiefen Blick in mein Inneres, in meine Seele - wenn sie überhaupt existierte - zu werfen, um dort meine eigenen Antworten zu finden.
Wenn man mich fragte, sagte ich, ich wollte Gerechtigkeit, aber dies war gelogen. Alles, was ich wirklich wollte, war Rache. Ich wollte ihn nicht nur totsehen, ich wollte, dass er leidet. Für mich war all das Gerede um die Todesstrafe kein intellektueller Kram mehr, es war wirklich, es war real, es gehörte zu meinem Leben. Ich hasste es, ich hasste diesen jungen Mann, der mir mein Leben und meine Zukunft ruiniert hatte. Vielleicht konnten andere Angehörige von Opfern durch ihren Glauben Trost finden und am Ende sogar verzeihen. Ich konnte das nicht. Und wollte auch nicht. Warum sollte ich diesem Mann jemals verzeihen? Ich verstand die Welt, die für mich zur Hölle geworden war, nicht mehr. Ich spürte tiefe Verzweiflung und Wut auf diejenigen, die sich das Recht anmaßten, die Moral für sich gepachtet zu haben.

„Einer, der genießerisch seinen Morgenkaffee trinkt und in der Zeitung liest, dass der Gerechtigkeit genüge getan worden sei, würde seinen Kaffee wieder von sich geben, erführe er auch nur die kleinste Einzelheit...“

Als ich eines Tages diesen Satz von Albert Camus las, hatte ich das Gefühl, dieser Mann würde direkt neben mir stehen und tief in mein Inneres, was ich so ängstlich hütete, hineinsehen. Ich schämte mich auf einmal vor mir selber. Was war nur mit mir in der letzten Zeit geschehen? War ich überhaupt noch in der Lage, klar zu denken oder Entscheidungen zu treffen? Ich hatte meinen Job geschmissen, hatte unser kleines Haus verkauft und wohnte jetzt in einem kleinen Billig-Appartement in Boston. Ich war ein Einzelgänger geworden, der die Leute gelernt hatte zu meiden und selber gemieden wurde.
Der schwierigste Teil meines langsamen Heilungsprozesses war der Weg aus meinem endlosen Hass auf diese ungerechte Welt. Doch um endlich ehrlich um Jonathan und um mein verlorenes Leben trauern zu können, musste ich mich mit meinen Verlust abfinden und den Hass zu überwinden lernen. Diese unwillkommene Stimme tief in mir, die mir immer wieder in langen schlaflosen Nächten unerbittlich zuflüsterte, dass Jonathans Mörder mich völlig zerstören würde, wenn ich es zuließe, wie der Hass mich aushöhlte und zerfraß. Und es fast geschafft hätte, meinen Jonathan zu vergessen, so wie er wirklich gewesen, voller Liebe und Sanftmut. Denn nur die Liebe, so erkannte ich, konnte heilen, nicht der Hass.
Aber war denn die Todesstrafe von Jonathan wirklich d i e Antwort? Spiegelt sie nicht letztendlich nur unser mangelndes Vertrauen in eine Gesellschaft wieder, die nicht fähig ist, uns vor solchen Schandtaten zu schützen und zu verteidigen? Und gibt es nicht letztendlich zu viele Verbrecher, die, nachdem sie verurteilt, eine Haftstrafe abgesessen hatten und wieder freigelassen wurden, nur um wieder neue zu begehen? Ist es nicht letztendlich unsere eigene Feigheit und Hilflosigkeit, dass wir den einfacheren Weg, nämlich den der Todesstrafe, wählen und uns hinterher einreden, es wäre die einzige Lösung gewesen?
Ich kannte mich selber nicht mehr. Ich war dabei, einen Akt der Feigheit zu begehen, so wie die Gesellschaft es tut, in der ich lebe, weil ich fürchtete, die eigene Kontrolle zu verlieren. Ich war nur noch eine leblose Hülle, deren einzige tägliche Nahrung der Hass war.
Verzweifelt versuchte ich mich zu erinnern, an eine andere Zeit voller Liebe und Hingabe. Und Vertrauen. Aber meine Sonne war untergegangen. Sie schien nicht mehr für mich. Die moderne Zivilisation, in der ich mich wähnte zu leben, gab es nicht mehr. Oder etwa doch? Was war Gerechtigkeit denn eigentlich? Ich zwang mich, diese Frage ehrlich zu beantworten. Das Töten eines Menschen ist keine Gerechtigkeit mehr, ist es nie gewesen. Und hat denn die Todesstrafe es jemals geschafft, einen Verbrecher, der sich eh über dem Gesetz zu stehen glaubt, ihn von seiner abscheulichen Tat abzuhalten? Hat ein Terrorist wirklich Angst vor der Todesstrafe, wenn er davon überzeugt ist, einen Märtyrertod zu erleiden? Wir haben die Pflicht, einen Verbrecher zu bestrafen, aber ihn hinzurichten, steht uns nicht zu.
Als ich mit meinen Gedanken soweit gekommen war, fühlte ich mich elend. Auf einmal schien es mir, als wäre erneut etwas in mir gestorben. Nämlich die Hoffnung und Illusion auf ein neues Leben nach der Hinrichtung des Mörders. Aber was würde schon anders sein, wenn er qualvoll und unsichtbar für den Rest der gleichgültigen Welt auf dem elektrischen Stuhl verschmort? Ich kann nicht verstehen, wie mir Menschen nach der Hinrichtung die Hand geben können und mir dabei versichern, nun sei alles in Ordnung.

Ich musste etwas tun. Ich musste sie sehen, die Familie des Verurteilten. Musste sehen, was das für Menschen waren, wie sie lebten, was sie fühlten und dachten. Hatte ich Angst? Ich wußte es nicht, verdrängte jeden Gedanken an Zweifel. Eines jedoch war mir klargeworden. Mein jetziger Zustand würde mich vollends ruinieren. Ich bäumte mich gegen diese Gewißheit auf und nutzte meine alten Kontakte, um Verbindung mit der Familie des Mörders, der in seiner Zelle auf die Hinrichtung wartete (den genauen Termin wusste ich nicht) aufzunehmen. Als ich schließlich die Nummer und Adresse hatte, brauchte ich Wochen, um mich aufzuraffen und mein Vorhaben auszuführen. Jedoch hatte ich es mir in den Kopf gesetzt und war fest entschlossen, wenigstens hier nicht zu versagen.

Es war ein sonniger Tag, als ich mich in meinen Ford setzte und die Fahrt Richtung San Antonio antrat. Ich wusste nicht, was mich am Ende erwartete, ich wollte nur endlich Ruhe finden. Ich schaltete alle meine Empfindungen und Gefühle aus, als ich mich dem Alamoe näherte, wo die Schwester von Ricardo Jackson, Mörder meines Verlobten, wohnte. Laut meiner Angaben lebte sie dort seit zwei Jahren. Selina Jackson war geschieden, alleinerziehend, der Sohn war zwölf Jahre alt und ging in San Antonio die Schule. Mehr Informationen hatten meine Recherchen nicht ergeben.
Ich parkte meinen Ford und stieg langsam aus. Ich lehnte mich ans Auto und betrachtete eine Weile stumm das kleine Reihenhaus, wo alle Fenster dicht verhängt und die Tür abweisend geschlossen war. Wie um mich zu verhöhnen, zwitscherten ein paar Vögel besonders laut und weckten mich aus meiner Apathie. Ich ging auf die Tür zu und klopfte. Plötzlich kroch eine unsinnige Angst in mir hoch und ich verspürte Übelkeit in meinem Magen. Was wäre, wenn auf einmal der Mörder von Jonathan die Tür aufmachte und mich ebenfalls kaltblütig über den Haufen schießen würde? Ich schüttelte den Kopf und holte tief Luft, als die Tür langsam ein Spalt breit geöffnet wurde. Misstrauisch schaute mich ein Augenpaar durch den Spalt an und schien auf ein Erklärung meinerseits zu warten.
„Ich bin Virginia Bedford, die Verlobte von Jonathan Millan, den Ihr Bruder erschossen hat. Ich möchte ihn kennenlernen...und Sie natürlich“ fügte ich sofort hinzu. Die Luft um uns herum verdichtete sich. Jetzt ging die Tür vollends auf und ich sah eine junge Frau, kaum älter als ich, mit abgearbeiteten Händen und ungewaschenen Haaren. Ihre Augen blickten müde, doch sehr aufmerksam. Ich hielt ihrem Blick stand. Schließlich machte sie eine unbestimmte Handbewegung, welche ich als „Kommen Sie herein“ interpretierte und betrat die Wohnung. Sie war sauber und sehr gepflegt, im Gegensatz zu ihrer Inhaberin. Ich blieb unschlüssig am Eingang stehen, wusste nicht, was ich sagen sollte. Die junge Frau redete immer noch nicht mit mir, sie schloss die Tür sorgfältig und machte dann das Licht an. „Etwas dunkel, wir sparen Strom“ ihre Stimme war leise, aber sehr deutlich und klar. „Ich bin Selina.“ stellte sie sich vor und schwieg dann wieder, ließ mich aber nicht aus den Augen. Immerhin ein Anfang. Ich verspürte auf einmal den Wunsch, mich einfach nur irgendwo hinzusetzen und alles zu vergessen. Ihre Gegenwart hatte etwas Beruhigendes, ich spürte förmlich die Anziehungskraft, die von ihr ausging.
Sie trat auf mich zu und musterte mich eindringlich. Ich schlug die Augen nieder und suchte innerlich nach Worten. Ich fühlte, ich musste mich einfach verständlich machen. Aber ich schwieg. Dann begann sie zu sprechen.
„Ricky ist ein armes Schwein. War er immer gewesen. Mich wundert es kein bisschen, dass er jetzt da gelandet ist, wo er gerade ist.“ Ich starrte sie an. Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Glauben Sie denn im Ernst, dass ich will, dass er wieder rauskommt? Was soll er denn hier? Und wo soll er dann hin? Ich wird Ihnen jetzt mal ein kleine Geschichte erzählen, denn darum sind Sie ja hier, nicht wahr? Arbeiten Sie?“ wollte sie dann wissen. „Nein.“ Mehr war ich nicht imstande zu sagen. „Dachte ich mir.“ meinte sie nur.
Wir saßen im Wohnzimmer. Sie hatte frischen Kaffee gebrüht und mir ein paar Kekse rübergeschoben. Ich trank den wunderbaren Kaffee und eine wohlige Wärme kroch in mir hoch. „;Er wird niemals wieder nach Hause kommen“ begann sie unvermittelt. „Mom und Dad starben bei einem Autounfall, als er sieben und ich vierzehn Jahre alt war. So hieß es jedenfalls. Wir zogen zu meinem Onkel, aber lange hielten wir es nicht aus. Als ich fünfzehn war, fing mein Onkel an, mich zu befummeln. Ich schwänzte daraufhin die Schule und fing meinerseits an, mit allen möglichen Kerlen ins Bett zu gehen und war nahe dran, von zu Hause abzuhauen. Wenn Ricky nicht gewesen wäre, hätt ich´s wahrscheinlich gemacht. Keine Ahnung.“ Ihre Stimme klang leidenschaftslos. „Aber er war da. Und ich liebte ihn abgöttisch, hab alles für ihn getan, war er doch der Einzige, der wirklich zu mir gehörte. Mein Onkel zählte nicht für mich. Dann wurde ich schwanger. Aber niemand hat es je erfahren. Ich hab´s abtreiben lassen. Weiß bis heute nicht, wer der Vater eigentlich war. So war das..“ Sie machte eine Pause und schwieg. Ihre Augen waren auf einmal leer und schauten auf irgend etwas, was nur sie sehen konnte. “Ricky wurde älter und fing an, sich rumzutreiben. Ich wusste nicht mehr, wie ich ihn erreichen konnte, ich hatte keinen Einfluß mehr auf ihn. Seine neuen Freunde waren wichtiger. Autos knacken, kleine Diebstähle, dann ne Knarre und so weiter. Sie kennen das ja. Aus dem Fernsehen und so. Nun, bei uns war`s Wirklichkeit. Wenn er sich blicken ließ, prügelte mein Onkel ihn windelweich, bis er anfing, zurückzuschlagen. Dann verschwand Ricky spurlos. Ohne auch nur ein Wort zu mir. Das traf mich besonders hart. Von da an war ich meinem Onkel allein ausgeliefert, der seine Wut und Angst an mir ausließ. Mein Leben war zur Hölle geworden. Ich zwang mich wieder in die Schule, erkannte hier die einzige Möglichkeit, von ihm wegzukommen, indem ich meinen Highschool-Abschluß machte, um aufs College zu gehen. Ich hab damals nur gearbeitet und abends zu Gott gebetet, dass ich mich nie mehr an früher erinnern musste. War ne harte, sehr harte Zeit. Jahrelang hab ich Ricky nicht gesehen, bis er plötzlich vor meiner Tür stand, stockbesoffen und völlig verdreckt. Ich weiß bis heute nicht, woher er meine Adresse herhatte. Denn ich hatte den Kontakt zu meinem Onkel völlig abgebrochen. Ich hab ihn bei mir wohnen lassen, ne Zeitlang ging auch alles gut. Ich stellte keine Fragen, gab ihm lediglich etwas Geld und kaufte ihm anständige Klamotten. Er redete ebenfalls nicht viel, verhielt sich aber ruhig und unauffällig. Ich wusste trotzdem, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Aber ich hatte Geduld und außerdem zu wenig Zeit, um mir weiter den Kopf über ihn zu zerbrechen. Er würde schon anfangen, mit mir zu reden, ich kannte ihn. Dann war es irgendwann soweit. ´Ich hab jemanden umgebracht, Selly´ sagte er mir eines Abends beim Essen. ´Irgendwann kriegen die mich, ich weiß es´ er wollte kein Mitleid von mir. Ich glaube, an dem Abend hab ich meinen Bruder das erstemal seit Jahren richtig angesehen. Und plötzlich bemerkt, wie müde und erschöpft er war. Ob er Schuld empfand? Glauben Sie, was Sie wollen, aber ich sag Ihnen was. Ricky ist arm. Und schwarz. Und vorbestraft. Für viele in unserem Staat reicht das sofort für ein einschlägiges Urteil aus. Und für Sie erst recht keine Rechtfertigung für das, was er Ihnen angetan hat. Aber Ricky, verdammt, er war noch ein Baby! Verstehen Sie mich? Was wusste er schon vom Leben? Ich hab ihn nie richtig kennen lernen dürfen. Und ich weiß auch, dass dies nie der Fall sein wird. Ich will ihn nicht mehr wiedersehen.“ Sie sah mich müde an. Ich wagte nicht zu atmen, ich wollte nicht, dass sie aufhörte zu reden. Ich schwieg also und sah sie an. Sie verstand und fuhr fort: „Ich hab dann die Polizei gerufen. Er machte keine Anstalten abzuhauen, im Gegenteil, er saß einfach nur in der Küche und beobachtete mich, wie ich den Hörer in der Hand hielt und damit über seine Zukunft entschied. Drei Wochen später hatte man ihn verurteilt und ihn dahin gebracht, wo er jetzt ist. Ich denke heute, dass er genau wusste, wie ich reagieren würde und ist deswegen zu mir gekommen. Vielleicht wars für ihn die einzige Möglichkeit, aus seiner Hölle rauszukommen. Er wollte, dass ich für ihn die Entscheidung traf. So wie früher eben...“; Selina machte wieder eine Pause. „Ich hab ihn dann noch einmal gesehen, bei meinem einzigen Besuch im Gefängnis. Wollte ihn eigentlich wissen lassen, dass ich heiraten würde und schwanger war. Aber als ich ihn wiedersah, brachte ich es nicht über mich, ich war nicht in der Lage, ihm von mir zu erzählen. Ricky redete kein Wort mit mir. Wie saßen uns ungefähr eine halbe Stunde durch die Glaswand getrennt gegenüber und schauten uns an. Die Wärter waren schon misstrauisch geworden. Aber ich hab ihn auf einmal so sehen können, wie er als kleines Kind war, so klein und unschuldig. Und voller Leben. Als die Zeit vorüber war und ich aufstand, um zu gehen, blitzten seine Augen noch einmal auf und ich wusste, dass er sich ebenfalls erinnert hatte. Das war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Ich hab dann geheiratet und drei Jahre später die Scheidung eingereicht. Sammy, mein Junge, ist das Letzte, was mir geblieben ist. Ich hab ihm nie von seinem Onkel erzählt. Jetzt wissen Sie´s.“ Selina verstummte.

Ich hatte die Augen geschlossen und musste ebenfalls an einen Studenten denken, der abends müde von seinem Job nach Hause kam und nicht selten erst spät nachts über seinen Büchern einschlief und am nächsten Tag früh zur Universität hetzte...

„Als Sammy in die neue Schule kam, empfing man ihn mit einer Miniaturausgabe eines elektrischen Stuhls. Können Sie sich das vorstellen?“
Ich schwieg entsetzt.
„Der Spott und Hohn, dem er jetzt ausgesetzt ist, wird ihn vermutlich irgendwann mal ebenfalls ins Gefängnis führen. Ricky war in seinem Alter genauso gewesen.“

Mir wurde eiskalt, als ich diese nüchternen Worte hörte.
Wir schauten uns beide an. Ich spürte eine jähe heftige Zuneigung für diese Frau, die, obwohl sie kaum älter war als ich, ihr ganzes Leben hinter sich hatte.
Plötzlich kam mir mein eigenes kleines Leben so erbärmlich vor. Selina hatte recht. Was wusste ich schon vom Leben. Hatte ihr Bruder überhaupt ein reelle Chance gehabt? Doch aus welchem Blickwinkel ich es auch zu betrachten versuchte, ich empfand kein Mitleid mit ihm.
Er hatte etwas Unverzeihliches getan und musste dafür büßen. Selina dachte da genauso wie ich. Sie war diejenige gewesen, die ihren Bruder ins Gefängnis gebracht hatte.
Hätte ich das gekonnt? Hätte ich soviel Moral gehabt und vor allem: soviel Mut? Ich konnte nicht anders, aber ich musste diese Frau einfach bewundern. Ich schaute in ihr Gesicht und sah ihre Tränen. Sie kam auf mich zu und nahm mich in die Arme. Ich klammerte mich an sie und weinte endlich, weinte über sie, über mich und mein Selbstmitleid und über Ricky, der nun bald hingerichtet werden würde. Wir teilten beide das Leid, von geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen.

War ihr Leid denn geringer als meines? Sicherlich nicht. Wie können wir davon sprechen, dass das Leben heilig ist, und es gleichzeitig einem Menschen nehmen, wenn es uns nötig und zweckdienlich erscheint?
Wer war Ricky schon für die anderen? Und Jonathan? Wer hatte sie wirklich gekannt? Ricky war ein Schwarzer, er war arm und typisch für alle Straftäter, die hingerichtet werden. Ich habe noch nie erlebt, dass reiche Kriminelle hingerichtet wurden.
Rickys Schicksal war so typisch. Und ich erkannte ein Ohnmacht gleich, wie wenig ich von dieser Welt wirklich gewußt hatte.

Ich blieb zwei Wochen bei Selina. Ich will hier nicht schildern, was wir beide uns in diesen zwei Wochen erzählt und verschwiegen hatten.
Ich will auch nicht über Sammy erzählen, diesen klugen, stillen und verschlossenen Jungen, der nur selten lächelte. Aber wenn seine Augen aufleuchteten und ich seine strahlend weißen Zähne sah, musste ich immer an Selina´s Worte denken. „Irgendwann wird er auch mal da landen, wo Ricky jetzt ist..“
Oh nein. Bitte nicht Sammy, nicht er.

Als man Ricky 7 Monate später auf den elektrischen Stuhl brachte, standen Selina und ich an Jonathans Grab. Ich dachte an die Jahre, die Jonathan und mir verloren gegangen waren, um all das, was hätte sein können. Selina trauerte um den Menschen, an dessen Grab sie niemals stehen würde und um das, was aus ihm hätte werden können, hätte er die gleichen Chancen gehabt.

Ich hatte mich gegen den Hass entschieden und eine neue Freundin gewonnen. Ich war von der Todesstrafe unmittelbar betroffen gewesen und weiß, dass sie nicht existieren darf. Was ich will? Mitleid für diejenigen, denen Unrecht angetan wurde und zurückbleiben müssen und eine gerechte Strafe für die Schuldigen, deren Leben uns heilig ist. Denn nur, wenn wir anerkennen, was das Leben für uns wirklich bedeutet, werden wir es schaffen, um die zu trauern, die wir für immer verloren haben. Wenn wir jemanden wie Ricky hinrichten, missachten wir den Wert eines jeglichen menschlichen Lebens. Ich kann das nicht akzeptieren. Dazu ist mir Jonathan zu wichtig. Und die Freundschaft und Liebe einer jungen Frau, die ihren eigenen Bruder ins Gefängnis gebracht hatte und sich damit selber hinrichtete.

Ich weiß nicht, wie es nun weitergehen wird.
Der Mörder meines Verlobten ist jetzt tot.
Aber seine Schwester und ihr Sohn leben jetzt bei mir in Boston. Wir sind so etwas wie eine kleine Familie geworden. Eine Familie, die Ricky niemals gehabt hatte...
 
Prozess einer Einsicht

Hallo vicell,

dein Text ist genau und reflektierend, eine erzählerische, aber auch dokumentarisch wirkende Auseinandersetzung mit dem Thema. Ein Bericht. Auch die Einbeziehung von Zitaten des Gerichtshofes mit Datum oder von Albert Camus weisen darauf hin. Das mag den Text für manche Leser, die nicht am Thema hängen, sachlich und stellenweise protokollarisch erscheinen lassen.

Ich hatte zunächst – auch weil längere Texte sich schwieriger im Netz lesen und wer druckt sich die Texte schon fürs erste Lesen aus? – gewisse Einstiegsschwierigkeiten. Aber der Ton deiner sehr biografisch wirkenden Geschichte hat mich ganz überzeugt. Sprachlich, finde ich, bewegst du dich auf sehr sicherem Boden. Keine – jedenfalls beim ersten Lesen entdeckten – flauen Stellen. Der Schluss ist versöhnlich (im vorletzten Absatz etwas erklärend-resümierend), aber wäre er das nicht, hätte die Geschichte etwas sehr Einseitiges. Da du den Prozess einer Einsicht wiedergibst, haben wir natürlich zu Anfang überraschend deutlich die Befürwortung der Strafe, am Ende dann die Bereitschaft, auch aus anderem Blickwinkel die Situation zu verstehen und den Mörder nicht mehr nur abstrakt als Täter, sondern als Mensch zu betrachten.

Was mir persönlich im Vergleich zu den Musikergeschichten mehr zusagt, ist das fehlende Pathos, die Ruhe im Ton, das Vermeiden gehobener Formulierungen. Es hat etwas Existentialistisches, ans Elementare Gehende, während manche andere Geschichte – Chaconne beispielsweise – mich an Hesses Künstlerromantik erinnerte, vielleicht auch nur, weil Hesse einige schöne Musikergeschichten (Gertrud) schrieb.

Am Ende gelingt es dir, falsches Sentiment zu vermeiden. Mit der „Moral“ – wer bis hin zum schlimmsten Diktator sieht nicht sein Handeln als moralisch an? - habe ich immer meine Schwierigkeiten.
„Hätte ich soviel Moral gehabt und vor allem: soviel Mut?“
Mut finde ich sehr treffend, Moral wäre für mich ersetzbar durch ein Wort in Richtung Gerechtigkeitssinn. Kann man viel oder wenig Moral haben?

Gegen Ende heißt es: „Ich war von der Todesstrafe unmittelbar betroffen gewesen.“ Es ist nun Definitionssache, ich würde jedoch diese Aussage nur von jemandem erwarten, der selbst zum Tode verurteilt ist, ob er nun hingerichtet oder begnadigt wird.

Natürlich habe ich bei dem Thema – ja, die kleine Erfahrungswelt – immer ein wenig an Dead Man Walking gedacht. Ich finde deinen Bericht sehr stringent, sehr lesenswert und ich sehe es als deine Intention an, dass du auf Bildhaftigkeit und sprachliche Spielereien bewusst zugunsten der dir wichtigen Aussage eines real wirkenden Falles verzichtest.

Herzliche Grüße
Monfou
 
X

xzar

Gast
hallo vicell,

ich denke monfou hat schon vieles vorweggenommen von dem, was ich zu deiner geschichte sagen will. ich finde, dass deine sprache zwar etwas unspektakulär, aber dafür umso sicherer ist. es gibt kaum stellen, an denen mir die sätze zu lang, zu kompliziert oder zu ungenau waren. du bringst dinge auf den punkt.
der lange bericht der virginia, der verlobten des mörders, ist mir etwas zu monoton. du unterbrichst ihren redeschwall nicht, was zum einen natürlich eine gewisse bedeutung hat, zum anderen aber vielleicht zu eintönig wirkt.
wie schon monfou sagte, wirken manche teile deiner erzählung wie ein bericht: für meinen geschmack etwas zu trocken. vielleicht könntest du auch einige der rhetorischen fragen einsparen, überlegungen des protagonisten vielleicht durch seine handlungen andeuten und nicht explizit niederschreiben.

alles in allem muss ich aber sagen, dass mir der text gefallen hat. deine sprache ist sicher und trotz des eher berichtenden stils konnte ich mich in den protagonisten hineinversetzen - ein text, der mich angesprochen hat.

lg,
constantin
 



 
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