Anzügliches

Anzügliches
Wer je am frühen Morgen auf einem zugigen Bahnsteig stand und statt dem um diese Zeit erwarteten planmäßigen Nahverkehrszug mehrere außerfahrplanmäßige Güter- Sonder- und Fernreisezüge an sich vorbeiziehen sieht, der ist versucht, unverzüglich zur Feder zu greifen und an die diesbezügliche Bahnstelle einen jener Briefe zu schreiben, die mit der anzüglichen Floskel zu schließen pflegen: Mit vorzüglichster Hochachtung!
Der Zug der Zeit rollt pausenlos dahin, wer sein Leben erfolgreich gestalten will, der darf ihn nicht verpassen. Wer zu spät kommt, den straft das Leben. Es sind die ewigen Nachzügler, die immer versuchen, den Zug der Zeit aufzuhalten. Andere versuchen, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Deshalb: Was sie auch tun, tun Sie es unverzüglich! Aber Vorsicht! Das Tarifsystem ist manchmal verwirrend: Manche Mitfahrenden scheinen einen lebenslangen
Freifahrschein zu besitzen, andere Fahrgäste sind ehrlich und werden ausgezogen bis aufs Hemd.
Als mein Vater noch ein kleiner Junge war, träumte er davon, später einmal Zugführer zu werden und mit seiner Lokomotive einen langen Zug durch die Welt zu ziehen. Aber kaum der Seppelhose und dem Konfirmationsanzug entwachsen,
wurde er unverzüglich eingezogen und nach kurzer Ausbildung im feldgrünen Dienstanzug zügig nach Osten gebracht, wo er noch rechtzeitig ankam, um am unverhergesehenen Rückzug teilzunehmen, den man anzüglich Frontbegradigung nannte.
In einem anfangs langen Gefangenenzug, der unterwegs immer kürzer wurde, trat er dann, in zugigen Waggons eine lange Reise an, von der er irgendwann nach der inzwischen vollzogenen Währungsreform, entlaust und seiner Zugträume beraubt, zurückkam.
Später brachte er es doch noch zum Zugbegleiter, der mit Dienstanzug, Trillerpfeife und rot/grüner Kelle die Nahverkehrszüge auf der Rheintalbahn begleitete.
Auch Zugbegleiter haben so ihre Probleme mit manchen Zuggästen. Manche Kunden verbummeln ihre Züge, weil sie am Vorabend nach einem tiefen Zug aus der Flasche, nicht zu verwechseln mit einem Flaschenzug, vergaßen, ihren Wecker aufzuziehen, oder sie besteigen auf falschen Bahnsteigen die falschen Züge.
In Zugzwang befinden sich Schachspieler und Liebhaber, wenn sie bemerken, dass ihnen ihre Dame abhanden zu kommen droht. Wer unter dem Zugzwang leidet, Tabaksqualm mittels Lungenzügen einziehen zu müssen, der hat gute Aussichten, bald einmal einen Leichenzug anführen zu dürfen.
 
S

Silvi Degree

Gast
Ja, lieber Bernhard, das ganze Leben verläuft irgendwie in "Zugzwängen " und -wie wahr "...wer zu spät kommt, den bestraft das Leben".
Zeitkritisches humoristisch sehr schön bewertet -

Sonntagsgrüße
Silvi Degree
 



 
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