J
Jasmin
Gast
Ich sehe meine Mutter immer apathisch vor mir. Nicht, dass diese Apathie Form irgendeiner Krankheit wäre, nein, es ist etwas anderes. Meine Mutter erscheint mir immer geistesabwesend, mit Gedanken woanders, in etwas Mysteriöses vertieft, wie ein Künstler, der seinen Ideen verhaftet ist. Meine Mutter ist Sängerin, aber ist es das? Träumt sie Melodien, steht sie auf der Bühne, denkt sie in Arien? Oder schottet sie sich einfach ab aus Selbstschutz? Ihre glanzlosen, dunklen Augen scheinen immer zu träumen, ihr Blick ist meistens stumpf und nach innen gerichtet. Oft summt sie ein ied vor sich hin. Am liebsten hat sie die Kindertotenlieder von Mahler.
Meine Mutter hat nie Zeit für mich. Sie hatte nie Zeit. Es gab immer etwas anderes zwischen uns. Die Singerei, ihre Stimme, Proben, Gastspiele, Reisen, Pianisten, Dirigenten, mein Vater, meine Geschwister. Und ich? Ich musste reif sein für mein Alter, streng mit mir selbst, auf mich selbst aufpassen, auf meine Geschwister aufpassen, auf meine Mutter, Ehekrach verhüten, mit mir Hausaufgaben machen, bei der Nachbarin essen. Meine Belange ohne Belang. Kein muttergekochtes Essen je. Keine Erinnerung daran, oder doch einmal, Kartoffelbrei, selbstgemachter, nicht so aus der Tüte Flocken mit Wasser und Milch anrühren, sondern richtige Kartoffeln mit der Gabel und Milch und Butter zu Mus gebreit und mit Petersilie dekoriert. Und dann hab ich alles erbrochen auf die Fensterbank, damals, als ich Masern hatte. Das gute, einmalige, handgemachte Essen meiner Mutter lag säuerlich riechend auf dem hellen Marmor der Fensterbank.
Heimweh, Nostalgie, Sehnsucht. Immer Sehnsucht nach meiner Mutter, immer Heimweh nach Griechenland. Das war meine Kindheit. Ein Ziehen und Zerren aus meinem Bauch an der unsichtbaren Nabelschnur zwischen meiner Mutter und mir. Und tapfer musste ich sein. Immer tapfer. Keine Gefühle zeigen. Keine Hilfe erwarten. Einzelkämpfer im Kindergarten und in der Grundschule. Und danach.
Jetzt bin ich groß und erwachsen. So scheint es. Immer weiter geht der Kampf ohne Hilfe zu erbitten, ohne Hilfe zu erwarten von ihr, die nichts versteht. Nicht verstehen kann oder will, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, Häuser baut, immer neue Häuser. Das letzte im Kolonialstil. Ganz in Rosa mit Fensterläden aus Glas und Porzellantreppchen. Und Gärten legt sie an. Jeden Sommer einen neuen Garten. Der letzte Garten ist ein kleiner Bonsaigarten geworden aus lauter winzigen Bonsaibäumchen, irre teuer und in der Mitte ein kleiner Mini-Zoo mit Zwergaffen und hässlichen Pekinesen, die von albanischen Zoowärtern mit Lachs und Kaviar gefüttert werden. Aber auch die Albaner werden gut durchgefüttert. Jeden Tag kommt der Wagen vom Pizza-Delivery-Service Napolitana mit überdimensionalen Riesenpizzas mit viel Schinken und extra viel Käse.
Und dann pendelt meine Mutter mit der Easyjet hin und her zwischen Nord und Süd und mein Vater holt sie in Hamburg mit sieben rosa Lachsrosen und viel Schleierkraut vom Flughafen ab und dann gibt es bei ihm in der Küche Lachstoast vom Aldi und Söhnlein Brillant.
Und in Athen holt sie ihre Schwester Plethi ab mit gelben Nelken vom Markt und zu Hause gibt es Linsensuppe mit wenig Öl und Salz, weil Fett ungesund ist und dick macht. Und Salz auch. Das predigt meine Mutter seit Jahren und dann isst sie salzige Oliven und fette Avocados und lacht dabei.
Und jetzt ist meine Schwester dran und bekommt Fürsorge, wenn auch nur rudimentär, weil sie hat ein zuckersüßes Wunder-Baby und Frauen mit Babies sind bessere Menschen. Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse, denkt meine Mutter. Sie sagt das nicht, aber ich kann ihre Gedanken deutlich hören. Ein eindringliches Flüstern, wie ein Rascheln welker Blätter, wie eine Souffleuse unter der Bühne. Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse...
Ich kann keine Babies bekommen, weil ich krank bin. Keiner versteht diese Krankheit. Ich habe die blaue Krankheit und nicht mal meine eigene Mutter kann das begreifen. Sie schüttelt immer nur den Kopf, verständnislos, und dann schweigt sie mich eisig an und ich höre ihre Gedanken, Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse...
Mein Freund versteht auch nichts. Heute Mittag beim Essen sage ich vorsichtig, ich will ein Baby, damit sie mich endlich liebt, sie, meine Mutter, und da rastet mein Freund aus. Er lässt Gabel und Messer fallen und springt von seinem Stuhl auf und schlägt auf mich ein mit Fäusten. Schon oft hat er mich geschlagen, aber das heute ist so krass. Er schlägt meinen Kopf und mein Gesicht und boxt mich in den Magen und ich weiß nicht mehr wohin, es tut alles so weh, mir ist schlecht und meine Tränen überfluten mein Gesicht.
Ich flüchte zu meiner Mutter. An die Fahrt im Auto kann ich mich nicht erinnern. Das Auto fährt mich zu meiner Mutter. Kraftlos und schwach schleppe ich mich die Stufen hoch zu ihrer großen Wohnküche. Die Tür steht offen, eine Katze frisst geräuschvoll Krabbenreste aus einer zerknitterten Alu-Folie, wobei sie die Folie über den Balkon zerrt.. Meine Mutter steht am Herd, ihr schwarzes, volles Haar ist frisch frisiert, sie geht jeden Donnerstag vor ihrem Marktbesuch zum Friseur in Makri. Sie hat einen stufig geschnittenen Pagenkopf, sehr jugendlich. Meine Mutter sieht jünger aus als ich, denn sie leidet weniger am Leben. Dort steht sie an der Spüle und wäscht einen Kopf Salat. Sie trägt ein blumiges Kinderkleid aus Baumwolle, das vorne von oben bis unten durchgeknöpft ist und eine weiße Schürze. An den Füßen trägt sie rosafarbene Ballerinas. Ein Kochtopf klappert mit dem Deckel, etwas kocht zischend über, es riecht nach gekochten Knochen für den Hund. Mama, sage ich leise. Ich fühle mich immer schwächer. Ach, da bist du ja, sagt sie und dreht sich nicht um. Mama, sage ich noch einmal, aber das Wasser, das mit großem Druck auf die Salatblätter fällt, schluckt meine Stimme.
Ich breche zusammen auf den Stufen. Alles tut weh. Mein Körper fällt auseinander. Die Küche hat zwei Ebenen. Ich liege da gekrümmt, den Kopf auf dem linken, ausgebreiteten Arm. Mein Mund ist plötzlich voll Blut. Ganz viel Blut füllt meinen Mund, es sprudelt aus meinem Inneren, wie aus einer Quelle. Mein Kiefer fühlt sich gebrochen an. Meine Sinne schwinden und kommen wieder wie bei einem Wackelkontakt. Ich bin so müde. Was ist los, fragt meine Mutter, ohne nach mir zu schauen. Sie geht zum Kühlschrank und sucht lange darin herum, klappert mit Joghurt- und Senfgläsern, raschelt mit Tüten, macht das Gemüsefach auf und zu. Verdammt, wo ist die Sahne? Habe ich etwa die Sahne vergessen, ruft sie verärgert.
Ich will meiner Mutter sagen, dass ich kaputt bin, zerbrochen, aber meine Stimme gehorcht nicht, bleibt im Hals stecken. Mein Mund, mein Unterkiefer, einige Schneidezähne und Backenzähne fühlen sich zerstört an. Plötzlich schwimmen meine Zähne in meinem Blut, als hätte ich kleine Steine im Mund. Viel warmes, salziges Blut. Mein Mund ist voll, ich kann nicht reden. Ich fühle, dass ich gleich sterbe und versuche, meine Mutter auf mich aufmerksam zu machen. Sie registriert mich nicht. Langsam schwinden meine Sinne und ich dämmere weg.
Meine Mutter hat nie Zeit für mich. Sie hatte nie Zeit. Es gab immer etwas anderes zwischen uns. Die Singerei, ihre Stimme, Proben, Gastspiele, Reisen, Pianisten, Dirigenten, mein Vater, meine Geschwister. Und ich? Ich musste reif sein für mein Alter, streng mit mir selbst, auf mich selbst aufpassen, auf meine Geschwister aufpassen, auf meine Mutter, Ehekrach verhüten, mit mir Hausaufgaben machen, bei der Nachbarin essen. Meine Belange ohne Belang. Kein muttergekochtes Essen je. Keine Erinnerung daran, oder doch einmal, Kartoffelbrei, selbstgemachter, nicht so aus der Tüte Flocken mit Wasser und Milch anrühren, sondern richtige Kartoffeln mit der Gabel und Milch und Butter zu Mus gebreit und mit Petersilie dekoriert. Und dann hab ich alles erbrochen auf die Fensterbank, damals, als ich Masern hatte. Das gute, einmalige, handgemachte Essen meiner Mutter lag säuerlich riechend auf dem hellen Marmor der Fensterbank.
Heimweh, Nostalgie, Sehnsucht. Immer Sehnsucht nach meiner Mutter, immer Heimweh nach Griechenland. Das war meine Kindheit. Ein Ziehen und Zerren aus meinem Bauch an der unsichtbaren Nabelschnur zwischen meiner Mutter und mir. Und tapfer musste ich sein. Immer tapfer. Keine Gefühle zeigen. Keine Hilfe erwarten. Einzelkämpfer im Kindergarten und in der Grundschule. Und danach.
Jetzt bin ich groß und erwachsen. So scheint es. Immer weiter geht der Kampf ohne Hilfe zu erbitten, ohne Hilfe zu erwarten von ihr, die nichts versteht. Nicht verstehen kann oder will, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, Häuser baut, immer neue Häuser. Das letzte im Kolonialstil. Ganz in Rosa mit Fensterläden aus Glas und Porzellantreppchen. Und Gärten legt sie an. Jeden Sommer einen neuen Garten. Der letzte Garten ist ein kleiner Bonsaigarten geworden aus lauter winzigen Bonsaibäumchen, irre teuer und in der Mitte ein kleiner Mini-Zoo mit Zwergaffen und hässlichen Pekinesen, die von albanischen Zoowärtern mit Lachs und Kaviar gefüttert werden. Aber auch die Albaner werden gut durchgefüttert. Jeden Tag kommt der Wagen vom Pizza-Delivery-Service Napolitana mit überdimensionalen Riesenpizzas mit viel Schinken und extra viel Käse.
Und dann pendelt meine Mutter mit der Easyjet hin und her zwischen Nord und Süd und mein Vater holt sie in Hamburg mit sieben rosa Lachsrosen und viel Schleierkraut vom Flughafen ab und dann gibt es bei ihm in der Küche Lachstoast vom Aldi und Söhnlein Brillant.
Und in Athen holt sie ihre Schwester Plethi ab mit gelben Nelken vom Markt und zu Hause gibt es Linsensuppe mit wenig Öl und Salz, weil Fett ungesund ist und dick macht. Und Salz auch. Das predigt meine Mutter seit Jahren und dann isst sie salzige Oliven und fette Avocados und lacht dabei.
Und jetzt ist meine Schwester dran und bekommt Fürsorge, wenn auch nur rudimentär, weil sie hat ein zuckersüßes Wunder-Baby und Frauen mit Babies sind bessere Menschen. Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse, denkt meine Mutter. Sie sagt das nicht, aber ich kann ihre Gedanken deutlich hören. Ein eindringliches Flüstern, wie ein Rascheln welker Blätter, wie eine Souffleuse unter der Bühne. Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse...
Ich kann keine Babies bekommen, weil ich krank bin. Keiner versteht diese Krankheit. Ich habe die blaue Krankheit und nicht mal meine eigene Mutter kann das begreifen. Sie schüttelt immer nur den Kopf, verständnislos, und dann schweigt sie mich eisig an und ich höre ihre Gedanken, Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse Frauen ohne Babies sind Menschen zweiter Klasse...
Mein Freund versteht auch nichts. Heute Mittag beim Essen sage ich vorsichtig, ich will ein Baby, damit sie mich endlich liebt, sie, meine Mutter, und da rastet mein Freund aus. Er lässt Gabel und Messer fallen und springt von seinem Stuhl auf und schlägt auf mich ein mit Fäusten. Schon oft hat er mich geschlagen, aber das heute ist so krass. Er schlägt meinen Kopf und mein Gesicht und boxt mich in den Magen und ich weiß nicht mehr wohin, es tut alles so weh, mir ist schlecht und meine Tränen überfluten mein Gesicht.
Ich flüchte zu meiner Mutter. An die Fahrt im Auto kann ich mich nicht erinnern. Das Auto fährt mich zu meiner Mutter. Kraftlos und schwach schleppe ich mich die Stufen hoch zu ihrer großen Wohnküche. Die Tür steht offen, eine Katze frisst geräuschvoll Krabbenreste aus einer zerknitterten Alu-Folie, wobei sie die Folie über den Balkon zerrt.. Meine Mutter steht am Herd, ihr schwarzes, volles Haar ist frisch frisiert, sie geht jeden Donnerstag vor ihrem Marktbesuch zum Friseur in Makri. Sie hat einen stufig geschnittenen Pagenkopf, sehr jugendlich. Meine Mutter sieht jünger aus als ich, denn sie leidet weniger am Leben. Dort steht sie an der Spüle und wäscht einen Kopf Salat. Sie trägt ein blumiges Kinderkleid aus Baumwolle, das vorne von oben bis unten durchgeknöpft ist und eine weiße Schürze. An den Füßen trägt sie rosafarbene Ballerinas. Ein Kochtopf klappert mit dem Deckel, etwas kocht zischend über, es riecht nach gekochten Knochen für den Hund. Mama, sage ich leise. Ich fühle mich immer schwächer. Ach, da bist du ja, sagt sie und dreht sich nicht um. Mama, sage ich noch einmal, aber das Wasser, das mit großem Druck auf die Salatblätter fällt, schluckt meine Stimme.
Ich breche zusammen auf den Stufen. Alles tut weh. Mein Körper fällt auseinander. Die Küche hat zwei Ebenen. Ich liege da gekrümmt, den Kopf auf dem linken, ausgebreiteten Arm. Mein Mund ist plötzlich voll Blut. Ganz viel Blut füllt meinen Mund, es sprudelt aus meinem Inneren, wie aus einer Quelle. Mein Kiefer fühlt sich gebrochen an. Meine Sinne schwinden und kommen wieder wie bei einem Wackelkontakt. Ich bin so müde. Was ist los, fragt meine Mutter, ohne nach mir zu schauen. Sie geht zum Kühlschrank und sucht lange darin herum, klappert mit Joghurt- und Senfgläsern, raschelt mit Tüten, macht das Gemüsefach auf und zu. Verdammt, wo ist die Sahne? Habe ich etwa die Sahne vergessen, ruft sie verärgert.
Ich will meiner Mutter sagen, dass ich kaputt bin, zerbrochen, aber meine Stimme gehorcht nicht, bleibt im Hals stecken. Mein Mund, mein Unterkiefer, einige Schneidezähne und Backenzähne fühlen sich zerstört an. Plötzlich schwimmen meine Zähne in meinem Blut, als hätte ich kleine Steine im Mund. Viel warmes, salziges Blut. Mein Mund ist voll, ich kann nicht reden. Ich fühle, dass ich gleich sterbe und versuche, meine Mutter auf mich aufmerksam zu machen. Sie registriert mich nicht. Langsam schwinden meine Sinne und ich dämmere weg.