Arbeitswelt

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Maulbeere

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Ein himmlischer Job

Ihre goldenen Federhalter glänzten unter ihm in der Sonne. Es war ein so strahlendes Funkeln, ein Aufblitzen kleiner, leuchtender Punkte, wie er es schon lange nicht mehr gesehen hatte. „Heute muss ein besonderer Tag sein“, dachte er. Vom Mittelpunkt des Saales, wo er auf einer erhöhten Plattform stand, konnte er den ganzen Raum überblicken, von der ersten Reihe, direkt zu seinen Füßen, bis zur letzten, und Heinz, der oberste Aufseher von Schreibsaal 934564986548665476 betrachtete seinen Verantwortungsbereich aufmerksam. Wie jeden Morgen wandelte er langsam über die Plattform, drehte dabei in einem großen Kreis seine Runde, bis er alles gesehen hatte, was es zu sehen gab, mit leicht kritisch gerunzelter Stirn, aber das wollte nichts heißen, denn im Großen und Ganzen war er außerordentlich zufrieden und genoss die Verantwortung seiner Stellung mit einem gewissen Wohlbehagen. Er liebte diesen Platz; deutlich erhoben über der Masse der Schreiber fühlte er geradezu das gleichmäßige Wogen und Rauschen der Luft, wenn tausende von Händen sich in rhythmischen Bewegungen über das schimmernde Pergament beugten und wie sanft plätschernde Wellen über einen silbernen Ozean glitten. „Es ist das Wirken der Zeit“, dachte er nachdenklich, „diese feinen, kaum sichtbaren Fäden des Lebens, die wir ineinander wirken, bis sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem unentwirrbaren Seil verflechten, das Geschichte heißt und das Schicksal ganzer Völker bedeutet.“

Versonnen gab er sich seinen Überlegungen hin. Er liebte dieses Eintauchen in tiefe Gedanken und fühlte gleichzeitig die freudige Erregung, teilzuhaben an einem Werk der Vollkommenheit, das seine Vorstellung überstieg und das er mehr ahnte als wirklich verstand.

„Jedes dieser Bücher umfasst ein Menschenleben, jede Seite ein Detail, von der Zeugung bis zum Tod, beschreibt es seine kleinsten Nuancen. Und fügt sich mit anderen Büchern von anderen Menschen zu einer Symphonie erhabener Schönheit und tiefer Harmonie, aber auch schrecklichster Missklänge und Dissonanzen. Und greift vollkommen ineinander. Jede Begegnung zweier Menschen, jedes Wort und jeder Blick wird mindestens in deren beiden Büchern festgehalten und noch vermerkt im Leben vielfältiger Beobachter, gleichgültiger Passanten und nacherzählt in sich verzweigenden Berichten.

Ein glockenähnliches Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Ganz am Ende des Saales hatte sich die große Tür geöffnet, ein feines Klicken, das er überhört haben musste, und sich wieder geschlossen, mit jenem volltönenden Gong, der jede Faser seines Ich in Schwingung versetzte. Unwillig nahm er wahr, dass mehrere tausend Augenpaare ihre silberne Arbeit verließen, suchend herumfuhren und ihr erhabenes Wirken ins Stocken geriet. Sein Unwillen wurde noch größer, als er erkannte, wer sich ihm näherte. „Muss jetzt ausgerechnet dieser rothaarige Flegel hier hereinplatzen“, murmelte er verdrossen, und wischte sich unwillkürlich den noch kaum fühlbaren Schweiß von der Stirn. „Der war doch schon als Schreiber eine Niete und jetzt ist er Bote der Geschäftsleitung. Erdreistet sich meine Arbeit zu stören.“ Unwillkürlich richtete er sich ein wenig auf und nahm jenen leicht selbstgerechten Gesichtsausdruck an, mit dem er hoffte, jede Kritik an seiner Arbeit im Keim zu ersticken.

Der Bote durchschwebte den Saal mit jener unvergleichlichen Anmut, die den Boten der Geschäftsleitung eigen war, und die, wie er grimmig bemerkte, kein bisschen zu den flammendrot wehenden Haaren und der leicht schlampigen Erscheinung dieser konkreten Manifestation des höchsten Willens passte.

Mit zusammengepressten Lippen wartete er, bis der Bote direkt vor seinen Füßen landete. „Natürlich provoziert er mich“, dachte er wütend. „Landet direkt auf meiner Plattform als wolle er mich umrempeln.“ Diese Plattform, die normale Schreiber niemals zu betreten wagten, und die er selten, um nicht zu sagen niemals verließ, war das allseits sichtbare Zeichen seiner Würde und so unauflöslich mit seiner Persönlichkeit verknüpft, dass der respektlose Überfall dieses rothaarigen Tölpels geradezu einem körperlichen Angriff gleichkam. „Was gibt’s“, fragte er knapp.

Mit einer langsamen Lässigkeit, die in völligem Gegensatz zu der rauschhaften Geschwindigkeit seines Fluges zu stehen schien, und die jedem wirklich Verantwortung Tragenden die Zornesröte ins Gesicht treiben musste, kramte Rochus einen unscheinbaren, zerknitterten Zettel aus den wehenden Falten seines Gewandes und überreichte ihn mit spitzen Fingern. „Steht alles drauf“, erklärte er grinsend und umging damit die angemessene Anrede und Begrüßung.

Heinz ergriff den dargebotenen Zettel mit einem unwillkürlichen Kopfnicken, das fast einer kleinen Verbeugung gleichkam und seinen ohnehin schon entfachten Ärger weiter entflammte. Mit einem gebieterischen Ruck drehte er sich demonstrativ zur Seite, als bedürfe die Botschaft dieses Zettels der besonderen Geheimhaltung und müsse vor den unwürdigen Augen des Boten unbedingt verborgen bleiben, faltete die nicht einmal notdürftig versiegelte Nachricht auseinander und überflog die knappe Anweisung. Erst als sich ihr Inhalt, an seinem Zorn vorbei, einen Weg in sein Bewusstsein gebahnt hatte, verspürte er das dazu passende flaue Gefühl im Magen, eine dumpfe Übelkeit, die langsam als Würgereiz in ihm hochstieg und gleichzeitig wie zäher Schleim in seinen Beinen versackte und seine Knochen zu schwabbelndem Pudding zersetzte. Er stürzte seinem Sessel entgegen, um einem würdelosen Zusammensinken auf dem Fußboden zuvorzukommen und las, diesmal mit der ihr zukommenden Aufmerksamkeit, erneut die Anordnung der Geschäftsleitung. „Franziska Behrens und Michael Kern haben sich ineinander verhakt, bitte umgehend nacharbeiten.“ Mit leicht zitternden Händen, aber gestärkt durch die Polster in seinem Rücken ließ er den Gedanken in seinem Kopf Gestalt annehmen. Eine Wolke von Verwicklungen und Komplikationen stieg in ihm auf, eine nicht enden wollende Kaskade aus Korrekturen, Umschreibungen und Inkonsistenzen, die aus der kleinen Anweisung in seiner Hand heraufzogen und wie eine Lawine immer weitere Leben erfassen würden, von kleinsten Nuancen, bis zu vollständig neuen Lebensentwürfen. „Sind Kinder geplant“, flüsterte er matt.

„Der Alte hat seine Zustimmung gegeben“, erwiderte der Bote knapp. „Die notwendigen Details erhalten sie auf dem üblichen Wege.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich zum Gehen, hielt aber mitten in der Bewegung inne und ergänzte mit herablassender Liebenswürdigkeit. „Sie sind dafür verantwortlich, dass ihnen die Zeit nicht davonläuft. Die neue Entwicklung bahnt sich gerade an, für die ersten Korrekturen verbleiben ihnen noch knappe 5 Minuten.

Heinz hätte später nicht mehr sagen können, ob der Bote sich überhaupt von ihm verabschiedet hatte. Seine Gedanken kreisten wie Mühlsteine. Zuerst musste die unmittelbare Gefahr abgewendet werden. „Wenn wir von der Zeit überholt werden, entsteht ein Riss in der Wirklichkeit, der nur noch von der Task Force gekittet werden kann. Dann wimmelt es hier monatelang von arroganten Schnöseln, die das Unterste nach oben krempeln“ und die, wie ihm ganz nebenbei bewusst wurde, auch noch die letzte Leiche aus seinem Keller ziehen würden. „Verdammter Mist“, murmelte er und fühlte im selben Augenblick seinen Schwindel geradezu explodieren. „Auch das noch.“ Er schüttelte den Kopf. „Irgendwer will mich absägen“, flüsterte er und musste dabei unwillkürlich an den rothaarigen Boten denken. „Da macht man jahrelang seinen Job, bügelt Ungereimtheiten aus, die andere einfach unter den Teppich kehren, und dann provoziert dieser Flegel mit seiner Unverschämtheit, und wahrscheinlich mit voller Absicht, auch noch einen absolut überflüssigen Verstoß gegen die siebte Grundregel. Dabei bin ich sowieso schon angezählt. Klar, manchmal lässt die oberste Geschäftsleitung so einen Fluch durchgehen, aber wenn sie mich fertig machen wollen, hat dieser rote Teufel ihnen dafür den passenden Anlass geliefert.“

***​

Es musste ihre Stimme sein. Michael ließ seinen Gedichtband sinken, in dem er nachdenklich geblättert hatte und sah auf. Er hatte nicht genau zugehört, war mehr damit beschäftigt gewesen, selbst etwas Geeignetes zu finden, etwas, das vor allem frech und möglichst provozierend war und Raum für Diskussionen gab, und sah auf. Franziska hieß die Neue, er erinnerte sich undeutlich, die das erste oder zweite Mal in das Lyrikseminar gekommen war, und die er kaum wahrgenommen hatte. Ein Mädchen mit dunkelblonden Haaren und Brille, die bisher fast nichts gesagt hatte, jedenfalls nichts, was ihm aufgefallen wäre, und die gerade angefangen hatte „Ebereschen“ vorzulesen.
 
P

Pete

Gast
Sehr schöne Kurzgeschichte. Ich bin nur über den letzten Absatz gestolpert, habe den Wechsel des Protagonisten nicht sofort begriffen. Vielleicht würde es helfen, einen größeren Absatz zu machen. Ich selbst mache auch gerne drei Sternchen:
***​
so etwa.
 



 
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