pleistoneun
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Tag 8, 12:37 Uhr. Eberhard war zusammengebrochen. Theodor, sein Mitstreiter, stand unmittelbar daneben und verzog dabei keine Miene. Theodor war es gewohnt, so lange ruhig zu stehen. Ja, wenn man beim Bundesheer was fürs Leben lernt, dann ausgedehntes Paradestehen. Eberhard wurde entfernt. Mit der Tragbahre. Einfach zusammengesackt. Weiche Knie bekommen, zusammengeklappt. Hehe, ein Widersacher weniger. Aber sich nur nicht Ablenken lassen, bloß keine falsche Bewegung machen, das könnte den Sieg kosten. Die Juroren strichen Eberhard von ihrer Liste und widmeten sich dann wieder dem Bewerb. "Es reizt einen immer das Verbotene", überlegte Theodor. Acht Tage ohne schlucken zu verbringen ist schon eine nobelige Leistung, der Weltrekord lag aber bei unglaublichen 134 Tagen, 3 Stunden und 12 Minuten. Der arme Mann gab aber aus Angst zu verhungern auf. Trockene Kehle. Langeweile. Man glaubt ja gar nicht, welche selbstverständlichen Vorgänge einen Schluckreiz auslösen. Theodor begab sich langsam in die theospekulative Phase. Zahlenkontemplation, Nachdenken, Zeit gut machen auf die beiden letzten Gegner, hartgesottene Rentner waren das. Wie jedes Jahr standen nur Rentner im Finale. Ihnen war der Zustand einer ausgedorrten Kehle nur allzu vertraut. Und dann, endlich: Der Minutenzeiger der Wanduhr sprang auf 12:38 Uhr. Den anderen gegenüber nur nicht anmerken lassen, dass die Zunge seit gut zwei ganzen Tagen auf dem Weg nach hinten war, um endlich die im Mundraum angesammelte Flüssigkeit zu schlucken. Nein. Kommt nicht in Frage. Theodor richtete sich militärisch auf. Ob Eberhard gerade schluckte? Bestimmt trank er genüsslich Fruchtsaft und erfreute sich daran, diesen dem Körper angeborenen Schluckreflex wieder unbekümmert zulassen zu können. Wenn man so lange seine Kehle nicht befeuchtet, kann es sein dass man seine Stimme verliert, hieß es oft. Na und wenn schon, was hat der Rentner der Welt schon großartig mitzuteilen? Man schenkt dem Nachwuchs sein Gehör, wenn er schreit und wenn er Hunger hat. Der gelebte Mensch kriegt nur die schüttelnde Hand des Bürgermeisters zu spüren, wenn dieser von Haus zu Haus der Alt-Jubilare zieht. "Glückwunsch, und noch viele Jahre Gesundheit", schreit der Bürgermeister mit vorgebeugtem Oberkörper in die Ohren jener, die bereits alles gehört, alles gesehen, alles erlebt und so vieles erduldet haben. Anschreien lassen von dieser Gemeindeobrigkeit. 12:39 Uhr. Es geht ja voran. Theodor blickte zu einem seiner Kontrahenten, der sich schon die ganze Zeit über mit geschlossenen Augen gedanklich auf eine weite Reise zu begeben schien. Pah, als ob es dadurch einfacher wäre, den Schluckreiz zu verhindern. Anders als beim Gähnen löst eigenes Schlucken kein Nachahmungsverhalten beim Gegenüber aus. Die Juroren schluckten nämlich ununterbrochen. Wird auch Theodor jemals des Bürgermeisters Hand schütteln? Wenn es einmal soweit ist, dachte er, dann dauerts nicht mehr lange und der Tod schüttelt sie. Ihm durchfuhr ein beklemmendes Gefühl. Oh, nein. Nicht jetzt. Er wusste, Angst, Aggression und schlechtes Gewissen sind die größten Schluckerreger. Es war nicht aufzuhalten. Was er 8 Tage, 2 Stunden und 24 Minuten erfolgreich unterdrückt hatte, bäumte sich nun unvermeidlich auf und zwang ihn zu einem qualvollen ersten Schlucken. Seine Kehle drohte angesichts der Sprödigkeit zu zerreißen und er würgte etwas Flüssigkeit durch seinen Schlund. Die typische Bewegung des Adamsapfels beim Schlucken blieb der Jury nicht verborgen. Um 12:41 Uhr war also alles vorbei. Die Tür wurde geöffnet und die beiden Träger mit der Bahre wollten den Raum betreten. Doch einer der beiden streifte unabsichtlich den metallenen Müllschlucker und dieser krachte mit lautem Getöse zu Boden. Die Stille des Raumes wurde jäh durchbrochen. Der Schreck ging allen durch Mark und Bein und löste natürlich bei den Mitstreitern ein angstprovoziertes Schlucken aus. Angst lähmt zwar Arme und Beine und verhindert die Flucht vor der Gefahr, aber sie reizt uns zum Schlucken. So entschied in diesem Spiel nicht die Jury die Siegerfrage, sondern die Angst. Es gab keinen Sieger. Denn die Angst allein ist konkurrenzlos unser größter Gegner.