Arno

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teccla

Mitglied
Arno

Schweißgebadet erwacht sie im dunklen Wohnzimmer. Noch immer liegt sie auf der Couch. Die Straßenlaterne schickt einen müden Lichtschein.
Er ist noch nicht da.
Die Armbanduhr zeigt 3.45 Uhr.
Sie werden in der Bar sein, beruhigt sie sich.
Ihre Hände suchen nach der Zigarettenschachtel. Das Feuerzeug blitzt kurz auf. Genüsslich zieht sie den Rauch in die Lunge.
Nein, das wird er mir nicht antun. Sylvana hatte sie beide zur Geburtstagsparty eingeladen. Christiane und Klaus würden auch dort sein.
"Pass mir gut auf meinen Schatz auf", hatte sie lachend zu Sylvana gesagt.

Warum hat sie auch ausgerechnet heute diesen Migräneanfall? Auf dem Nachtschrank liegt das Buch "Die Schneekönigin", das Lieblingsmärchen ihres Neffen.
4.10 Uhr.
Nein, nun hat auch keine Bar mehr geöffnet.
In dieser Kleinstadt ist sie aufgewachsen. Sie kennt jedes Lokal.
Sie werden vielleicht bei Christiane weiter feiern.
Nervös fingert sie die nächste Zigarette aus der Schachtel.
4.36 Uhr.
Ein Gefühl, als würde ihr Herz zerspringen.
Wie Kai es spürt, als die Schneekönigin sein Herz in Eis verwandelt.
Herzrasen.
Zittern.
Das ist keine Erkältung.
Sie ist entschlossen.
Ein Gefühl besagt gar nichts.
Ich muss es wissen.


Christiane schaut müde aus dem Fenster im ersten Stock des Plattenbaus.
"Nein, er ist nicht hier. Er ist mit Sylvana nach Liederburg gefahren."
Da ist es wieder, dieses Gefühl in den Knien, wie Pudding.

Die Landstraße nach Liederburg kennt sie gut. Oft sind sie im Sommer hier entlang gelaufen, an den See, zum Schwimmen. Den ganzen Weg lang gelacht haben sie, diese fünf Kilometer sind keine Strecke für zwei Verliebte.
Nun geht sie diesen Weg allein.
Sie weiß nicht, was sie erwartet.
Sie wagt nicht, daran zu denken.
Sie will es wissen, nicht ahnen. Nicht vermuten, nicht unterstellen.
Sie will es wissen.

Das Tor zum Grundstück ist offen, auch die Tür zum gepflegten Eigenheim. Leise schleicht sie die Holztreppe hinauf.
Nur keine knacksende Diele erwischen!
Unter der Tür zu Sylvanas Zimmer scheint Licht. Seine Stimme dringt durch die Stille. Sie kann keine Worte verstehen, er spricht zu leise.
Sie setzt sich unschlüssig auf die oberste Treppenstufe.
Nun habe ich doch die Zigaretten liegen lassen.
Dann steht sie auf.
Sie hat sich entschlossen.
Ich muss es wissen.

Ihr Kopf zaubert tausend Erklärungen hervor. Sylvana hat sich verletzt, er hat ihr nur geholfen. Sylvana war angetrunken, er wollte nur sicher gehen, dass sie gut heim findet.
Sylvana ist seit sechs Jahren ihre beste Freundin.

Sie öffnet die Tür.
Das Licht blendet sie für einige Sekunden. Dann erkennt sie die Situation. Er sitzt auf ihrem Bett.
Ihre erste große Liebe sitzt auf dem Bett ihrer Freundin Sylvana.

Niemals hätte sie eine solche Situation für möglich gehalten.
Sie schluckt, kriegt den Knoten nicht aus dem Hals.
Doch sie fängt sich.
"Kommst du mit heim oder willst du noch mal?"
Zwei erschrockene, erstaunte Gesichter schauen sie an.
Diese Stille, diese Blicke.
Sie ist angewidert.
Sie kann es nicht ertragen.
Keine Schwäche jetzt!
Noch einmal wendet sie sich um. Die Klinke schon in der Hand, schreit sie ihn an.
"Steh auf, du Memme, und geh mit mir heim!"
Wortlos erhebt er sich, zieht sich an und folgt ihr.

Sie laufen die Landstraße zurück, er einige Meter vor ihr.
Sie ist wütend. Sie will ihn verletzen, doch sie findet keine Worte, die den eigenen Schmerz betäuben könnten.
Wieso fallen ihr keine Schimpfwörter ein?

Der Schlüssel geht nicht ins Türschloss.
Sie zittert.
Endlich öffnet sie die Wohnung.
Alles, was ihr in die Hände kommt, wirft sie in seine Richtung. Zum Zielen hat sie keinen Blick. Die Augen sind zu nass, sie kann kaum etwas erkennen.
Sie läuft ins Schlafzimmer, sucht wahllos Sachen aus seinem Schrank, wirft sie in seine Richtung und lässt sich auf das Bett fallen.
Zusammengerollt wie ein Kleinkind, schluchzend und zitternd weint sie in die Kissen.
Sie hört ihn reden. Seine Stimme klingt, wie hinter jener Zimmertür.
Er geht.
Die Tür fällt ins Schloss.
Nur ihr Wimmern ist zu hören.
Irgendwann schläft sie ein.

Etwas ist gestorben in ihr.
Die Schneekönigin hat ihr Herz verwandelt.
Als es klingelt, hat sie keine Tränen mehr.
Bereit, ihm den Ring zu geben, öffnet sie.
Zwei Polizisten schauen sie an.
"... ihr Mann ist mit dem Motorrad... tödlich verunglückt...“
Ohne Blick, schweigend, schließt sie die Tür.
 
K

KaGeb

Gast
Gefällt mir gut, teccla. Man hat am Ende ein befriedigendes Gefühl, obwohl es ganz schön hart ist.
Das einzige, was mir auffiel und was meiner Meinung nach übertrieben ist: dass sie alle möglichen Sachen nach ihm wirft. Besser wäre es (für mich), wenn sie nach dem Öffnen der Tür sich einfach weinend auf ihr Bett wirft. Derlei heftige Reaktionen ihrerseits - nach einem 5 km Fußmarsch - wirkten (auf mich) nicht real. Aber es ist Geschmackssache.

Ihre Gedankenemotionen sind jedenfalls klasse vermittelt worden.

LG, KaGeb
 

teccla

Mitglied
Liebe(r) Kageb,

ist schon sehr real diese Geschichte, nur das Ende ist erfunden...
Übrigens verfehlte eine schwere grosse Kerze nur kurz seinen Kopf ...
Freut mich, dass sie dir gefällt. Danke für deinen Kommentar.
Liebe Grüsse
teccla
 



 
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