Auf Leben und Tod

essigtinte

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„DynaMed – Unser Kampf für das Leben!“, so stand es auf dem riesigen Plakat, das eine Familie in drei Generationen zeigte, die fröhlich Fußball spielend durch einen Garten tollte, alle offenkundig vital und glücklich. Bernd Steiningers Blick fiel auf den Spruch, als er auf die Bühne des Saals trat, den man für die Pressekonferenz gemietet hatte. Kurz erinnerte sich der siebenunddreißigjährige Pharmazie-Wissenschaftler an die Diskussion, ob man das Wort „Kampf“ verwenden dürfe, das doch angesichts der ganzen kriegerischen Auseinandersetzungen derzeit auf der Welt ziemlich negativ belegt sein müsse. Doch nach hitzigem Für und Wieder hatten schließlich die Marketing-Experten irgendetwas von „Solidarisierung mit unseren Kunden“ und „Identifizierung im gemeinsam Kampf für gleiche Ziele“ geschwafelt und man war bei dem Slogan geblieben. Nun gut, wenn es ein Kampf war, dann war er, Bernd Steininger, der General, der jetzt den Sieg seiner Truppen zu verkünden hatte. Hätte man nicht Fanfarenklänge einspielen sollten, sobald er den Raum betrat?
Er schritt auf das Pult zu und vermied es, bevor er hinter dem Mikrophon stand, einen Blick auf die Journalisten und andere Interessierte zu werfen, die den Saal bis auf die letzte Bank füllten. Er spürte das Adrenalin in seinen Adern, doch es war keine Angst vor der Menge, es war eine glückliche Erregung. Er genoss es, wie ihn tausend Augen erwartungsvoll ansahen, denn er wusste, dass er diese Augen nicht enttäuschen, sondern bewunderndes ungläubiges Staunen in die ihm zugewandten Gesichter zaubern würde. Ja, ein Magier war er und das wollte er noch viel lieber sein als ein General.
„Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie recht herzlich und freue mich über das breite Interesse, das Sie der Arbeit von DynaMed entgegen bringen. Es ist mir eine große Ehre, Ihnen nach unserem im letzten Herbst vorgestellten und inzwischen in Deutschland zugelassenen Krebsmedikament AntiCanc eine weitere Errungenschaft vorstellen zu dürfen, die Ihre Zukunft und die Ihrer Kinder länger und reicher machen wird. Ein weiterer Sonnenstrahl der pharmazeutischen Medizin fällt auf die Erde und macht das Leben hier etwas heller.“
Kollegen hatten ihm schon häufiger empfohlen, er solle sich mit seiner manchmal arg blumigen Sprache etwas zurückhalten, aber wenn Bernd Steininger ins Reden kam, noch dazu vor einer großen Zuhörerschaft, dann gingen regelmäßig sämtliche Pferde mit ihm durch und so berichtete er in Worten, die farbig und grell wie die Mode der Siebziger waren, von dem neuen Medikament, das er am liebsten „Fountain of Youth“ – also Jungbrunnen – getauft hätte, das nun aber schlicht „Zellophil“ hieß. Dieses Mittel, dessen Entwicklung er geleitet hatte, verlangsamte den Prozess der Zellalterung erheblich und hatte bei Versuchen mit Ratten und Mäusen eine Erhöhung des durchschnittlichen Lebensalters um 20% bewirkt und auch in Langzeitstudien mit Katzen und Menschenaffen keine störenden Nebenwirkungen erkennbar werden lassen. Die aufeinander abgestimmte Mischung von Wirkstoffen sorgte dafür, dass die Degeneration von Körper und Geist gleichermaßen verlangsamt wurde, so dass der Anwender mit einem zehn bis fünfzehn Jahre längeren Leben rechnen konnte, ohne befürchten zu müssen, die gewonnene Zeit debil vor sich hin zu vegetieren.
Bernd Steininger näherte sich dem Schluss seiner Rede: „Zellophil schenkt Ihnen ein bis zwei zusätzliche Jahrzehnte zufriedenen, erfüllten Alters.“ Das Wort „Schenken“ war angesichts des angestrebten Preises für das Medikament zwar nicht ganz passend, trotzdem setzte der Forscher fort: „So können Sie Ihren verdienten Ruhestand wirklich ohne wesentliche Einschränkungen genießen. Wer wünscht sich das nicht?“ Er blickte erwartungsvoll in die Menge. „Meine Damen und Herren, lassen Sie es mich abschließend ganz plastisch in einem Satz zusammenfassen: Mit Zellophil verpassen Sie Gevatter Tod einen Tritt in den Allerwertesten!“
Ein leichtes Lachen ging durch die Reihen und mündete in einem wohlwollenden Applaus, den der Redner genussvoll aufnahm. Wie der Rüssel eines Ameisenbärs glitt sein Blick über die Gesichter und saugte jede Spur von Begeisterung darin auf wie ein Verhungernder, um dann plötzlich an einem Mann in der ersten Sitzreihe hängen zu bleiben, dessen Haut von einem Netz feiner Falten durchzogen war wie zerknülltes und wieder glatt gestrichenes Zeitungspapier. Der Mann trug einen billigen schwarzen Anzug und schaute direkt in die Augen des Forschers, der diesem Blick nicht standhielt. Dabei spielte ein leichtes zynisches Grinsen um seine Mundwinkel. Doch nicht das war es, was den Wissenschaftler in Rage brachte. Es war die Zigarette, die lässig im Mundwinkel des großen hageren Mannes hing und kleine blaugraue Rauchfäden aussandte. Bernds Vater war Kettenraucher gewesen und an Krebs gestorben und auch sein älterer Bruder genoss bis heute ungehemmt Nikotin und Teer. Zuhause hatten sie immer über den „kleinen Bernd“ gespottet, wenn der sich voll machtlosen Ärgers über ihr Rauchen aufgeregt hatte. Sie hatten geflachst, er werde sicher einmal Mediziner und könne sie ja dann retten, wenn sie krank würden. Mediziner beziehungsweise Pharmazeut war „der kleine Bernd“ dann tatsächlich geworden. Doch als er das Medikament entwickelt hatte, welches Krebsleiden linderte, war sein Vater längst tot und sein Bruder scherte sich nach wie vor nicht um seine Gesundheit. Jedes Mal, wenn der Geruch von verbranntem Tabak die Nase des Forschers erreichte, war es wieder da, dieses Gefühl der hilflosen Wut. Und auch jetzt, wo er den Nikotingestank nicht roch, sondern nur die blassblaue Rauchfahne und den glimmenden Tabakstängel sah, spürte er, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Es schien ihm, als rauche jener Mann in der ersten Reihe nur, um ihn persönlich zu ärgern und dies wurde von dem zynischen Grinsen nur noch unterstrichen. Ein Glück, dass er den Raucher erst jetzt bemerkt hatte. Wäre er vorher so in Zorn geraten, hätte er seine Rede wohl kaum so glanzvoll halten können.
Bernd spürte, wie die Wut an seiner Selbstbeherrschung rüttelte wie der Herbststurm an einer nur halb gefüllten Bio-Mülltonne. Eine Weile stemmte sich der Forscher noch mit dem Willen, eine Überreaktion zu vermeiden, gegen diese Kraft an, doch dann siegte der Zorn. Die Mülltonne kippte um und gab ihren übel riechenden Inhalt frei: Der Wissenschaftler ignorierte einen Journalisten, der gerade an eines der für Fragen aufgestellten Mikrophone getreten war, und sprach vom Rednerpult aus direkt den Raucher an: „Den Herrn dort in der ersten Reihe, der gerade so vergnüglich sein Leben um eine Zigarette kürzer macht, kann ich allerdings nur davor warnen, zu hoffen, das Zellophil ihn retten wird. Wer sich und seine Mitmenschen so bewusst vergiftet, dem wird die Medizin und die Pharmazie niemals helfen können.“ Bernd wusste, dass er gerade einen riesigen Fehler beging, indem er einen seiner Zuhörer öffentlich niedermachte, aber er hatte längst die Kontrolle über sein Tun verloren. „Ich denke übrigens, dass in diesem Saal Rauchverbot herrscht. Und selbst wenn nicht, gibt es nichts Unpassenderes, als sich in einem Vortrag, der sich mit der Rettung von Leben befasst, die Lungen der Zuhörer zu verpesten.“
Alle Blicke hatten sich auf den Raucher gerichtet, während er redete. Wer ihn nicht sehen konnte, verrenkte sich fast den Hals, um einen Blick auf den zu erhaschen, der den Redner so in Rage gebracht hatte. Die Leute, die neben dem Gescholtenen saßen, schienen ihn erst jetzt zu bemerken und rutschten angewidert zur Seite, damit jeder begreife, dass sie nicht zu dem Provokateur gehörten. Nun, nachdem Bernd geendet hatte, applaudierten einzelne Zuhörer und immer mehr schlossen sich an. Dem Wissenschaftler fiel ein Stein vom Herzen. Ihm war sehr wohl klar, dass sein Ausfall genauso gut hätte als Entgleisung gewertet werden können. Während sein Ärger über den Raucher allmählich dank der breiten Unterstützung, die er erhielt, abebbte, schickte er ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Mann nicht gerade der Vertreter irgendeines Boulevard-Blattes sein möge, welches ihm nun seine Karriere zerstören würde.
Der Raucher nahm die Reaktion des Saales gelassen hin. Keine Spur von Ärger, aber auch keine von Scham zeigte sich in seinem Gesicht. Mit einer langsamen Bewegung nahm er die Zigarette aus dem Mund und atmete eine kleine Qualmwolke aus. Er legte den glühenden Stängel in die andere Hand und schloss sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Als er sie kurz danach wieder öffnete, war die Zigarette verschwunden. Die Umsitzenden staunten mit offenem Mund und Bernd spürte, wie der Ärger in ihn zurückflutete. Wollte ihm der andere mit seinen Zaubertricks imponieren? Doch diesmal beherrschte er sich und wandte sich ohne weiteren Kommentar dem Journalisten zu, der auf der anderen Seite des Saals immer noch am Mikrofon wartete, um seine Frage zu stellen.
Die Veranstaltung verlief äußerst erfolgreich und schon bald hatte Bernd den Raucher vergessen. Als er später noch einmal zu der Stelle schaute, wo der Mann gesessen hatte, war der Platz leer. Gut so, der andere hatte das Feld geräumt. Nun war er Magier und siegreicher General in einem.
Als Bernd gegen elf Uhr abends sein Haus aufschloss – nach endlosen Gratulationen seiner Kollegen und Vorgesetzten taumelig vor Glück – holte ihn kurz die Erinnerung an die Provokation wieder ein. Ihm war für eine Sekunde, als wittere er Tabakgeruch. Er hielt in der Bewegung inne und schnupperte, doch die Wahrnehmung war so unscharf, dass er nicht wusste, ob ihm seine Fantasie einen Streich gespielt hatte. Er roch an seiner Kleidung, doch dort hatte sich der Gestank offenbar nicht festgesetzt. Ärgerlich trat er in sein Haus. Was für einen langen Arm manchmal jemand hatte, der einen aufregte, das war doch unerträglich. Wollte er sich einen der erfolgreichsten Abende seiner beruflichen Laufbahn von der Erinnerung an einen Mann, der sein Leben selbst zugrunde richtete, verderben lassen?
Bernd Steininger wohnte allein. Er hatte zwar im Laufe der Zeit diverse Freundinnen und Liebschaften gehabt, aber war sich nie sicher gewesen, ob die Frauen denn nun wirklich auf ihn scharf waren oder nur auf seinen Erfolg und sein Geld. Etwas Bleibendes hatte sich so daraus nie entwickelt, aber auch in diesem Metier genoss er es, wenn ihm Bewunderung entgegen gebracht wurde.
Gähnend stellte er den Aktenkoffer ab, zog seine Jacke aus und hing sie an die Garderobe. Erst jetzt spürte er, wie müde er eigentlich war. Alles in allem war es zwar ein erfolgreicher, aber auch ein sehr anstrengender Tag gewesen. Er überlegte, ob er noch kurz den Fernseher anschalten oder sich gleich ins Bett werfen solle. Der Verstand plädierte für das Bett, der Bauch meinte dagegen, dass eine halbe Stunde vor der Mattscheibe vielleicht nicht schlecht sei. Schließlich tat er keines von beiden, sondern stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf, um im seinem Arbeitszimmer eben noch die privaten Mails abzurufen. Als er in den Flur des Obergeschosses trat, verharrte er. Unter der Tür des Arbeitszimmers war deutlich ein Lichtstreifen zu sehen. Hatte er gestern Abend vergessen, die Lampe auszuschalten? Aber das wäre ihm doch heute Morgen beim Aufstehen aufgefallen. Auf seinem Weg vom Schlaf- zum Badezimmer musste er durch diesen Flur. Unruhe erfasste ihn. Waren etwa trotz der Alarmanlage unbemerkt Einbrecher ins Haus gelangt? Aber diese hätten ihn doch gehört und schnell das Licht ausgemacht.
Bernd Steininger war nicht ängstlich, aber auch nicht tollkühn. Er wusste, dass er als erfolgreicher und wohlhabender Wissenschaftler leicht das Ziel von Verbrechern werden konnte. Andererseits wollte er sich auch nicht lächerlich machen, indem er die Polizei rief, nur um dann festzustellen, dass er vergessen hatte, das Licht auszuknipsen.
Wieder glaubte er, den Geruch von Zigarettenrauch wahrzunehmen, und das löste in ihm ein Gefühl von Ärger aus, das ihn mit entschlossenen Schritten auf das Arbeitszimmer zugehen ließ. Er drückte die Klinke hinunter, stieß die Tür auf und erstarrte. Es war wie in einschlägigen Filmen, in denen der Bösewicht den Protagonisten überraschend auf dessen Schreibtischstuhl sitzen erwartete, die Zigarette im Mund und den Revolver in der Hand. Die Schusswaffe fehlte in diesem Fall, aber ein glimmender Stängel steckte zwischen den Lippen des Mannes, der Bernd noch vor wenigen Stunden so provozierend im Saal gegenüber gesessen hatte. Das ganze Arbeitszimmer war bereits von einem leichten Nebel durchzogen.
Bernd konnte sich weder bewegen noch etwas sagen. Er starrte nur auf seinen ungebetenen Gast, als habe er ein Gespenst vor sich, viel zu verblüfft um ärgerlich zu sein. Das Gespenst blickte ohne eine erkennbare Gefühlsregung zurück. Nur das leichte zynische Grinsen um die Mundwinkel war wieder da, aber vielleicht war das mehr eine anatomische Besonderheit als der Ausdruck einer Empfindung. Wieder musste Bernd dem Blick des andere ausweichen, ohne zu wissen, wieso er diesem nicht standhalten konnte.
„Was ... Wie sind Sie hier herein gekommen?“, stammelte Bernd schließlich immer noch ganz fassungslos.
Sein Gegenüber zuckte mit den Achseln und sagte mit einer unbestimmten Handbewegung: „Einen Besuch von mir kann man weder mit Schlössern noch mit Alarmanlagen abwehren.“
Bernd war immer noch zu perplex, um einen klaren Gedanken zu fassen, wie er auf den Eindringling reagieren könne. Also fragte er einfach: „Was wollen Sie hier?“
„Eigentlich waren Sie es doch, der sich mit mir anlegen wollte“, kam die Antwort zurück.
„Ich kann es nicht haben, wenn man in meiner Gegenwart raucht“, stellte Bernd fest und sein erneut aufkeimender Ärger gab ihm Kraft und Sicherheit zurück. „Erst recht mag ich das nicht in meinem Haus“, fügte er in scharfem Ton hinzu.
„Ach das!“, der Raucher machte eine wegwerfende Handbewegung und saugte die Zigarette einfach mit seinen Mund auf. Bernd wusste nicht, ob er über diesen Trick staunen oder ob er sich ärgern sollte. Beiläufig registrierte er, dass sich auch der Rauch auf mysteriöse Weise aus dem Zimmer verzog und der Nikotingeruch nachzulassen schien.
„Davon habe ich gar nicht geredet“, setzte sein Gast fort. „Ich brauche kein Nikotin und ich rauche auch nicht aus Genuss. Ich verstehe Zigaretten für mich eher als eine Art Accessoire. Sie passen zu mir. Früher bin ich eher mit landwirtschaftlichen Werkzeugen aufgetreten, aber die waren ein wenig unhandlich.“
„Wie bitte?“
„Ach, vergessen Sie’s. Kommen wir zurück zum eigentlichen Thema. Sie wollten sich mit mir anlegen. Erinnern Sie sich nicht mehr? Sie wollten mir einen Tritt in meinen Hintern verpassen und haben mit dieser unverschämten Herausforderung auch noch Lachen und Beifall geerntet.“
„Ich kann Ihnen nicht folgen“, meinte Bernd verwirrt. Doch dann begriff er und nun wurde ihm klar, dass der Mann, der da vor ihm saß, offenkundig geistesgestört war. Jetzt bekam der Wissenschaftler wirklich Angst, denn damit war sein Gegenüber unberechenbar.
„Ich vermute, Sie sind der Tod, richtig?“, stellte er in einem sanften Tonfall fest, den er für den Umgang mit einer psychisch verwirrten Person für angemessen hielt.
Das Grinsen um die Mundwinkel seines Gastes verstärkte sich leicht, war somit wohl doch keine anatomische Absonderlichkeit: „Nein, glauben Sie wirklich, dass Ihnen der Tod in Menschengestalt begegnet?“
Bernd blieb stumm. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte.
Der andere wurde ernst: „Ja, Ihre Vermutung ist richtig. Ich bin genau der, dem man gewöhnlich nur einmal in seinem Leben begegnet. Und auch wenn ihr euch heute alle Mühe gebt, meine Existenz zu verdrängen, so lange es geht, komme ich früher oder später zu jedem von euch. Und all eure tollen Mittelchen und Techniken können das bestenfalls hinauszögern oder können verhindern, dass es früher passiert, als euch angemessen erscheint.“
„Es war nicht meine Absicht, Sie zu beleidigen“, sagte Bernd ruhig mit butterweicher Stimme und dachte nach, wie er entweder den Gast zum Gehen, oder die Polizei zum Kommen bewegen könne.
„Reden Sie keinen Quark“, bellte ihn der andere ärgerlich an. „Sie glauben mir kein Wort. Das habe ich auch nicht erwartet. Und darum sollen Sie einen Beweis bekommen, dass ich der bin, der ich zu sein behaupte.“
Der lange hagere Mann öffnete die linke Hand weit und plötzlich wurde Bernd nervös. Es war absurd. Als habe sich sein Verstand verabschiedet, war er sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, dass der andere einfach nur ein übergeschnappter Spinner war und nicht vielleicht doch genau der, der er zu sein vorgab. Ganz langsam schloss der Raucher die Hand wieder und es schien, als presse er einen Tennisball oder etwas ähnliches zusammen.
In diesem Moment fiel Bernd röchelnd zu Boden. Es bekam keine Luft mehr, sein Herz schmerzte, er würgte. Schwindelig krümmte er sich auf dem Parkett zusammen, rang nach Atem, zuckte, die Augen traten ihm aus den Höhlen. Nun erlebte er, was echte Todesangst war. Er wollte um Gnade bitten, aber er brachte kein Wort heraus. Er verkrampfte in einer unnatürlichen Lage. Ihm wurde schwarz vor Augen. Dann war es plötzlich vorbei.
Benommen blickte Bernd auf. Für eine Sekunde überlegte er, ob er jetzt wohl tot war. Doch dafür hatte er zu viele körperliche Empfindungen. Sein Herz pochte, als habe er einen Marathonlauf hinter sich, er rang schwer nach Atem und glaubte gleichzeitig, sich im nächsten Moment übergeben zu müssen. Sein Gast hingegen saß entspannt auf dem Schreibtischstuhl, die Arme lagen locker auf der Lehne: „Ich denke, nun glauben Sie mir, dass ich der bin, der das irdische Leben abschließt und vollständig macht.“
Bernd konnte immer noch nichts sagen. Taumelnd richtete er sich auf und starrte auf seinen Gegenüber wie das Kaninchen auf die Schlange.
„Kommen wir also zu Ihrer Herausforderung zurück“, setzte der hagere Mann fort. „Wie ich eben demonstriert habe, wäre es für mich ein Leichtes, Sie zu besiegen. Die Menschen haben zwar zwei Möglichkeiten, meine Macht zu überwinden, aber die würden Ihnen in einem Wettstreit mit mir nicht wirklich nutzen. Es wäre also ein äußerst ungleicher Kampf, den Sie da provoziert haben. Darauf habe ich keine Lust. Darum schlage ich Ihnen ein Spiel vor, das Ihnen etwas bessere Chancen einräumt, und damit spannender für uns beide ist. Es ist eine Art Wette.“
Der Eindringling stand auf und ging ans Fenster. Er winkte Bernd heran: „Sehen Sie den jungen Mann, der dort gerade die Straße entlang geht? Er heiß Thomas Herter. Er ist unterwegs zur Flussbrücke. Ich sprach von den zwei Methoden, die die Menschen entwickelt haben, um meine Macht und meine Entscheidungen zu überwinden. Die eine ist, einen anderen Menschen zu töten, bevor seine Stunde gekommen ist. Die andere ist, sich selbst das Leben zu nehmen, bevor die Zeit für das eigene Ende gekommen ist. Genau das hat der Mann, den Sie dort gerade sehen, jetzt vor. Und genau aus diesem Grund ist er unterwegs zur Flussbrücke.“ Er wandte sich zu Bernd um, der wieder den Blick senken musste. „Also, folgende Regeln gibt es: Wenn Sie es schaffen, dass Thomas Herter in vierzehn Tagen um Mitternacht noch lebt, dann haben Sie gewonnen. Schaffen Sie es nicht, werden Sie ihn ins Jenseits begleiten. Die Zeit läuft.“
Bernd starrte seinen Gegenüber fassungslos an: „Das können Sie doch nicht ernst meinen. Das ... das ist ja zynisch. Der Mann will sich umbringen und Sie spielen mit ihm.“
Sein Gast zuckte ungerührt mit den Schultern: „Ich spiele nicht mit ihm, sondern mit Ihnen. Im Gegenteil, wenn Sie sein Leben retten, müsste das doch aus Ihrer Perspektive eine gute Sache sein. Sie kämpfen doch angeblich für das Leben. Das stand zumindest auf dem Plakat, vor dem Sie gesprochen haben. Waren das alles nur leere Worthülsen?“
Bernd wurde wieder ärgerlich: „Ich werde Ihre Spielchen nicht mitmachen, Sie ...“ Ihm fiel keine Beschimpfung ein, die für seinen Gesprächspartner gepasst hätte.
„Sie müssen nicht mitmachen“, erwiderte dieser gelassen, „dann ist das Ganze eben in zehn Minuten vorbei, ohne große Spannung für uns beide. Ich schätze, solange wird Herr Herter noch bis zu der Brücke brauchen. Vielleicht wollen Sie noch kurz Ihren Letzten Willen notieren, damit Ihre Angehörigen nicht unnötig in Konflikte um Ihren sicher nicht ganz unerheblichen Nachlass gestürzt werden?“
Bernd starrte den anderen zornig und fassungslos an. Dann fuhr er herum, lief aus dem Zimmer heraus, polterte die Treppe hinunter, riss seine Jacke vom Haken und stürzte aus dem Haus. Der junge Mann war schon nicht mehr zu sehen, aber Bernd wusste, wo es zum Fluss ging. Er überlegt, ob er den Wagen aus der Garage holen oder dem anderen zu Fuß folgen sollte. Er entschied sich für das Auto. Die Kraft von einhundertachtzig Pferden verschaffte ihm ein Gefühl der Sicherheit, den anderen auf jeden Fall einzuholen.
Quälend langsam hob sich das automatische Garagentor und auch das elektrische Schiebetor im Zaun öffnete sich so gemächlich, als habe es Vergnügen an der verzweifelten Ungeduld seines Besitzers. Bernd fluchte leise. Der Motor heulte laut auf, als die Tore weit genug geöffnet waren, dass er das Grundstück verlassen konnte. Mit quietschenden Reifen schoss der Sportwagen aus der Einfahrt und der Fahrer verließ sich darauf, dass auf der ruhig gelegenen Wohnstraße nicht gerade jetzt ein Auto vorbeikommen würde. Mit durchgetretenem Gaspedal beschleunigte er auf der sich in sanften Bögen schlängelnden Straße bis zu einer Geschwindigkeit, für die er sofort seinen Führerschein verlieren würde. Nach nur einer halben Minute war er an der Hauptstraße, die zur Flussbrücke führte. Vereinzelte Fahrzeuge huschten über die vier Fahrbahnen. Hier musste er sich mit dem Tempo etwas zurückhalten, da die Polizei entlang dieser Strecke auch nachts zuweilen Radarfallen aufstellte. Und jetzt herausgewunken zu werden, hätte für den Mann, den er verfolgte, und auch für ihn selbst den Tod bedeutet. Außerdem würde er, da um diese Zeit die meisten Ampeln bereits ausgeschaltet waren, gleich an der Kennedy-Brücke ankommen, über die sich täglich Tausende Fahrzeuge in die Innenstadt schoben. Und dann würde er diesen Thomas Herter retten – wie, das wusste er noch nicht.
Tatsächlich tauchte bereits kurze Zeit später die mächtige Stahlkonstruktion, die sich über das Wasser des Flusses spannte, aus dem Dunkel auf. Bernd hatte die ganze Zeit die Fahrbahnränder im Blick behalten. Der Mann, dem er folgte, konnte eigentlich noch nicht so weit gekommen sein. Trotzdem war außer zwei Betrunkenen, die sich gegenseitig mehr schlecht als recht stützten, kein Fußgänger an der breiten Einfallstraße unterwegs.
Auf der Brücke verlangsamte Bernd sein Tempo nochmals. Der Fußweg war gut einsehbar, nur durch ein hüfthohes Gitter-Geländer von der Fahrbahn getrennt. Doch er erspähte niemanden auf der Seite, auf der er fuhr. Als er die Brücke überquert hatte, wendete er an der nächsten Kreuzung, um auf dem Rückweg die andere Seite der Brücke abzusuchen, doch auch hier: Fehlanzeige. Nochmals wiederholte er das Ganze. Dann war er sich sicher, dass sich niemand auf dem Übergang aufhielt. Er fuhr das Fahrzeug an den Straßenrand und stieg aus. Die nächtliche Stille der Stadt umfing ihn. Es war Ruhe im Vergleich zum Lärm des Tages und doch war das Schweigen nie vollkommen. Von irgendwo her drang immer wieder das Röhren eines Motors herüber, ein Hupen, das Heulen eines Martinshorns oder das Dröhnen eines Flugzeugs. Überhaupt gab es irgendeinen unaufhörlichen Ton, die Summe ferner Einzelgeräusche, die sich untrennbar verbanden, wie ein Grundrauschen, das man erst dann wirklich registrierte, wenn man sich darauf konzentrierte.
Bernd schaute in die Richtung, aus der er gekommen war. Vielleicht hatte er diesen Thomas Herter übersehen, war an ihm vorbei gefahren. Dann konnte er ihn hier erwarten und abfangen. Möglicherweise hatte der lebensmüde Mann ja auch Seitenwege benutzt und würde gleich aus irgendeiner Nebenstraße auftauchen.
Die Zeit verging und nichts geschah. Ein Gefühl der Unruhe schlich durch Bernds Magen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was war, wenn der Mann bereits in den Fluss gesprungen war und sich gerade in den letzten Zügen des Ertrinkens befand? Dann würde auch er selbst gleich aus heiterem Himmel zu Boden sinken und sterben, so ähnlich wie in seinem Haus?
Was war, wenn sich der Raucher einen Spaß mit ihm erlaubt hatte, ihn mit Tricks hereingelegt hatte und sich gerade über die Dummheit seines Opfers scheckig lachte? Doch die Erinnerung an seinen Todeskampf vor wenigen Minuten war noch zu präsent, um die Drohung seines ungebetenen Gastes nicht ernst zu nehmen.
Wieder brausten zwei Autos aus der Innenstadt kommend an ihm vorbei. Diese Straße war zu keiner Nachtstunde menschenleer. Eigentlich war das doch ein ziemlich ungeeigneter Ort, um sich das Leben zu nehmen. Das Risiko war groß, dass jemand die Absicht erahnen würde, einen zurückhalten würde. Da gab es doch sicher tausend besser geeignete Orte, wenn man es wirklich ernst meinte und nicht nur um Hilfe rief. Bernd hörte von Ferne das Rappeln eines Zuges und erstarrte. Sein Blick glitt flussabwärts zu der in vielleicht dreihundert Metern Entfernung über den Fluss geschlagenen alten Eisenbahnbrücke, auf der sich gerade in langsamem Tempo ein ICE voranschob. Der Raucher hatte von der Flussbrücke gesprochen und Bernd hatte automatisch an den Überweg gedacht, den er täglich nutzte. Aber auch an der alten Eisenbahnbrücke gab es einen schmalen Steg für Fußgänger, der sich unterhalb der Gleise befand und geradezu ideal dafür geeignet war, erst eine Weile trübsinnig in die Fluten zu starren, bevor man sich in die Tiefe stürzte. Bernd sprang in sein Auto, ließ den Motor an und trat gleichzeitig aufs Gas. Sämtliche Verkehrsregeln missachtend schoss er quer über alle vier Fahrbahnen auf die Uferstraße zu. Er übersah dabei ein aus der Innenstadt kommendes Taxi, das laut hupend auf sich aufmerksam machte. Doch Bernd nahm nur die Eisenbahnbrücke wahr, glaubte tatsächlich eine Gestalt in der Stahlkonstruktion aus der Vorkriegszeit zu erkennen.
An der Stelle, an der der Schienenstrang auch die Uferstraße querte, gab es einen Treppenaufgang für Fußgänger. Bernd bremste mit quietschenden Reifen, stellte sein Fahrzeug achtlos ins absolute Halteverbot, sprang aus dem Auto, schmiss die Tür hinter sich zu und war schon auf halber Höhe der Treppe, als sein Finger endlich den Taster auf der Funkfernbedienung fand, mit dem er die Türen verriegeln konnte. Er sah sich nicht um, ob das Fahrzeug mit einem Aufleuchten der Blinker die Aktivierung der Alarmanlage quittierte.
Er rannte über die alten Holzbohlen des vielleicht anderthalb Meter breiten Fußgängerüberwegs, der seitlich an die Eisenbahnbrücke angehängt worden war. Zum Glück war die Nacht mondhell, denn auf dieser Brücke gab es keine Laternen und kein vernünftiger Mensch hielt sich hier zu so nächtlicher Stunde auf. Bernd lief, als hinge sein Leben davon ab, und genau so war es ja eigentlich auch. Schon nach kurzer Zeit bekam er Seitenstechen. Doch das ignorierte er, als er die Gestalt erkennen konnte, die bereits das Geländer überwunden hatte, und auf den nur wenige Zentimetern überstehenden Enden der Holzplanken stand, sich rücklings an dem alten Eisengitter festhaltend und in die schwarzen Gewässer in der Tiefe schauend.
Es schien Bernd, als ziehe sich ein Strick um seine Kehle zusammen. Er kam zu spät. Er wollte rufen, auch wenn er nicht wusste, ob er damit den anderen nicht erst recht zum Sprung treiben würde, aber kein Laut drang aus seinem Mund. Wieder donnerte ein Zug heran. Es war ein langer Güterzug, der über ihren Köpfen vorüberratterte, und dessen Lokführer die beiden Männer unter ihm auf der Brücke nicht sehen konnte. Der Lärm des Gefährts machte es Bernd möglich, unbemerkt an Thomas Herter heranzukommen.
Als er nah genug an dem anderen war, verselbstständigte sich sein Handeln. Er dachte nicht daran, was passieren würde, wenn sich der andere direkt vor seinen Augen in die Tiefe stürzen würde. Er dachte nicht mehr darüber nach, was man jetzt vielleicht sagen oder tun solle. Er sprang einfach nach vorne, seine Arme glitten unter den Schultern des anderen hindurch und seine Hände schlossen sich vor dessen Brust zusammen. Der junge Mann jenseits des Geländers stieß einen im Lärm der Eisenbahn untergehenden Schreckenslaut aus. Seine Füße glitten weg und er wäre in die Tiefe gestürzt, hätte Bernd ihn nicht umklammert und an sich gepresst, als wolle er ihn nie wieder loslassen.
Die Beine Thomas Herters ruderten in der Leere und Bernd wurde ruckartig mit nach vorne über das Gitter gezogen. Da er keine Hand frei hatte, versuchte er sich instinktiv mit dem Fuß im Geländer festzuhaken. Dies gelang auch, aber er schrie vor Schmerzen auf, als sich das ziehende Gewicht des Mannes, den er festhielt, bis zu seinem umgeknickten Fußgelenk fortpflanzte. Er spürte, dass er immer noch über das Geländer zu rutschen drohte, doch er hielt den anderen nur um so fester und nach kurzen hatten dessen Füße wieder sicheren Stand auf den Enden der Holzbohlen gefunden. Dieser ganze Kampf auf Leben und Tod dauerte nur Sekunden – und die Laute, die sie dabei von sich gaben, wurden von dem stählernen Dröhnen der Eisenbahnräder auf den Schienen erstickt, aber nachdem Bernd den anderen über das Geländer zurückgezogen hatte, saßen sich sie beiden noch minutenlang nach Atem ringend gegenüber.
Inzwischen war es wieder ganz still geworden. Nur ab und zu hörte man in der Ferne ein Auto vorbeifahren. Die beiden blickten sich an, ohne dass einer von ihnen etwas sagte. Die Minuten vergingen. Bernd fiel auf, dass der Blick des anderen glasig war und als er sich mit der Hand durchs Haar fuhr, war seine Bewegung fahrig und zitternd. Allerdings zitterte auch er selbst am ganzen Körper.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“, fragte der Gerettete schließlich.
„Ich heiße Bernd. Ich will, dass Sie leben.“ Bernd hatte das Gefühl, dass dieser Satz wirklich selten dämlich klingen müsse, aber er schien seine Fähigkeit, wohl formulierte Wortketten zu fabrizieren, verloren zu haben.
Der andere lachte kurz und bitter auf: „Oh, danke schön. Und was ich will, interessiert mal wieder keinen.“ Die Aussprache des jungen Mannes war etwas undeutlich. Vielleicht hatte er vorher getrunken. Nun zeigte sich plötzlich Wut in seinem Gesicht: „Warum haben Sie mich nicht einfach in Ruhe sterben lassen? Es ist schließlich mein Leben. Was geht das Sie an? Wer denken Sie, dass Sie sind, über mein Leben zu entscheiden, meine Qual zu verlängern. Und wahrscheinlich halten Sie sich jetzt auch noch für einen Held, oder?“
Auch Bernd spürte nun Ärger in sich aufkeimen: „Entschuldigen Sie, dass ich Sie zurückgehalten habe. Hätte ich vielleicht seelenruhig zusehen sollen, wie Sie sich in den Tod stürzen? Haben Sie einmal darüber nachgedacht, was Sie damit jemanden antun, der das zufällig mitverfolgt? Was Sie dem antun, der irgendwann überraschend Ihre aufgequollene Leiche am Ufer entdeckt, vielleicht irgendein arglos spielendes Kind? Was Sie Ihren Angehörigen und Freunden antun?“ Die letzten Sätze schrie Bernd und war selbst erstaunt über den ungemeinen Zorn, der in ihm brüllte wie ein verwundetes Raubtier.
Der Blick seines Gegenübers wurde unscharf, glitt in die Ferne und nur weil es so still war, konnte Bernd verstehen, was der andere murmelte: „Ja, ich bringe allen nur Unglück und Schmerz. Ich kann nicht mal sterben ohne dabei noch irgendwas falsch zu machen.“
Bernd hatte plötzlich das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, indem er den anderen ausgeschimpft hatte. Er hatte sich wieder voll im Griff und sagte: „Entschuldigung, ich wollte Sie nicht anschreien. Aber das Ganze ist wohl nicht so spurlos an mir vorüber gegangen. Ich kann mir denken, dass Sie Probleme genug haben, wenn Sie sich das Leben nehmen wollen. Ich wollte Ihnen keine Vorwürfe machen.“
Der andere schien gar nicht zu registrieren, was er gesagt hatte. Immer undeutlicher murmelte er: „Es ist egal, zumindest die Tabletten dürften ihren Zweck erfüllen. Es ist überstanden.“
Bernd erstarrte: „Welche Tabletten? Von was für Tabletten reden Sie?“
Der andere schloss die Augen. Er zitterte nun fortwährend am ganzen Körper und Bernd war sich sicher, dass das nicht mehr am Schreck lag. Er sprang an die Seite des jungen Mannes, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn: „Reden Sie! Was haben Sie für Tabletten genommen?“
Die Augen des Mannes, an dessen Leben auch das von Bernd hing, blieben geschlossen. Leise lallte er: „Alles, was ich gesammelt habe, genug um jetzt nichts mehr zu spüren, und genug, um endlich befreit zu sein.“
Bernd riss den anderen hoch, der zum Glück recht kleinwüchsig und auch nicht sonderlich kräftig war. Ein beißender Schmerz durchfuhr sein Fußgelenk, als er es belastete, doch er erlaubte sich nur einen leisen Aufschrei. Er musste den Mann ins Krankenhaus bringen. Vermutlich ging es schon wieder um Minuten oder gar Sekunden. Humpelnd zerrte er den anderen in Richtung seines Autos. Die Brücke schien plötzlich unendlich lang geworden zu sein. Die Strecke, die er erst in wenigen Sekunden überwunden hatte, kostete ihn jetzt unendliche Zeit und unendliche Schmerzen.
Thomas Herter leistete keinen Widerstand. Er schien schon halb bewusstlos zu sein. Undeutlich nuschelnd fragte er nur: „Wieso tun Sie das?“ Sein Retter blieb ihm eine Antwort schuldig.
Es war drei Uhr morgens, als man Bernd endlich zu Thomas Herter in die Intensivstation ließ. Er hatte alle seine Überredungskünste einsetzen müssen und versprechen müssen, wirklich absolut ruhig zu sein, um an das Bett des Patienten gelassen zu werden, dessen Magen man zuvor ausgepumpt hatte. Da saß er nun und blickte auf die ausgemergelte Gestalt dort unter der Decke. Elektronische Apparaturen überwachten die Lebensfunktionen des Mannes, der doch eigentlich gar nicht leben wollte. Über einen Tropf sickerte irgendeine Lösung in die Blutbahnen, in denen sicher noch das Gift überdosierter Medikamente zirkulierte.
Keiner der Ärzte und keine der Krankenschwestern hatte wirklich verstehen können, weswegen es Bernd so wichtig war, bei dem versuchten Selbstmörder zu bleiben, den er doch angeblich nur zufällig entdeckt hatte, und auch Bernd selbst wunderte sich. Natürlich hing sein eigenes Überleben von dem des Mannes ab, der dort im Bett lag. Aber inzwischen war noch etwas anderes dazu gekommen. Er hatte wirklich einen Kampf auf Leben und Tod aufgenommen und dadurch war eine weitere unsichtbare Verbindung zwischen diesem Thomas Herter und ihm selbst entstanden. Er konnte den Blick nicht von ihm abwenden, so als läge dort sein krankes Kind, ein alter Freund, eine geliebte Partnerin. Er wunderte sich über die verwirrenden Gefühle, die in ihm entstanden.
Dann nahm er plötzlich wieder Zigarettengeruch wahr und diesmal war er kaum überrascht, als er sich umdrehte und den Raucher vor sich sah.
„Müssen Sie selbst hier rauchen, um diesen Leuten an der Schwelle des Todes den Rest zu geben?“, zischte er ärgerlich. „Ich glaube, ich sollte den Arzt holen, damit man sie herausschmeißt.“
Der andere wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. „Dieser Zigarettenrauch ist nicht real und schadet keinem Menschen. Wenn ich mir jemanden holen will, dann mache ich es direkt.“ Er trat an das Bett, in dem Thomas Herter lag, und zu seiner Überraschung bemerkte Bernd jetzt einen neuen Zug im Gesicht der Person, die sich als der Tod ausgegeben hatte. Es war jetzt nicht mehr jenes zynische Grinsen, sondern es schien echtes Mitgefühl zu sein, mit der er den schlafend daliegenden betrachtete. „Aber manche Menschen möchte ich mir noch nicht holen, weil es noch nicht an der Zeit ist. Und will auch nicht, dass sie gegen meinen Willen zu mir kommen.“
„Ach ja?“, fragte Bernd mit bitterem Spott. „Na, Sie haben ja ein gutes Herz.“
Ein Zucken ging durch das Gesicht des Rauchers und fast schien es Bernd, als habe er diesen verletzt, doch dann war wieder nur die unbewegliche Maske aus Gleichgültigkeit da. Der Mann mit der Zigarette zuckte mit den Achseln: „Glauben Sie’s oder glauben Sie’s nicht. Jedenfalls haben Sie gute Arbeit geleistet – fürs Erste. Das war ja auch in letzter Sekunde. Wir werden sehen, ob Sie es vierzehn Tage aushalten.“
„Na, ich denke, jetzt ist das schlimmste überstanden“, gab Bernd zurück. „Der Arzt hat mir gesagt, dass Herr Herter in eine psychiatrische Klinik überwiesen wird und ich denke, dort wird man auf ihn gut aufpassen, sogar mehr als vierzehn Tage lang.“
„Soso“, stellte der Raucher fest, ohne näher zu erläutern, was er mit diesem „Soso“ meinte.
Er wendete sich von dem Bett ab und zog den Vorhang zur Seite, der als Sichtschutz zum anderen Bett im selben Zimmer diente. Dort lag mit geschlossenen Augen ein alter Mann mit dünnem grauen Haar, dessen schwer rasselnde Atemzüge Bernd schon vorher gehört hatte. Auch dieser Mann war über unzählige Drähte mit den umstehenden Armaturen verbunden. Wieder glaubte Bernd etwas ungemein Liebevolles in den Augen der langen hageren Gestalt mit der Zigarette zu entdecken. Doch es gelang ihm nicht, lange in diese dunklen Pupillen zu schauen, ohne den Blick abzuwenden.
„Für ihn hier ist es schon eher an der Zeit. Wir wollen mal sehen ob es schon heute so weit ist.“ Damit griff der Mann, der behauptete, der Tod zu sein, in seine Tasche und zog eine Münze heraus, warf sie in die Höhe, fing Sie auf und betrachtete die oben liegende Seite.
Bernd brauste wieder auf. Mit unterdrückter Stimme, um die Patienten nicht aufzuwecken, schimpfte er: „Das ist doch wohl das Letzte! Genießen Sie Ihre Willkürentscheidungen? Macht es Ihnen Spaß, mit Ihrer Macht zu spielen, eine Münze zu werfen, um zu entscheiden, ob der Mann da noch leben darf oder nicht, ob Sie jetzt schon seine Existenz vernichten und seine Angehörigen in Trauer stürzen? So machen Sie es mit jedem, nicht wahr? So haben Sie es auch mit meinem Vater gemacht. Ich hasse Sie! Ich hasse Sie! Ich hasse Sie!“ Zum Schluss war er doch lauter geworden, als er wollte, und er befürchte, gleich die Schritte der Schwestern auf dem Gang näher kommen zu hören, doch nichts dergleichen geschah.
Dafür blickte ihn jetzt sein Gesprächpartner mit unverholenem Ärger an und Bernd musste wieder den Blick senken: „Willkürentscheidungen, ja? Na gut, Herr Superschlau, dann entscheiden Sie einmal! Ich überlasse es Ihnen: Soll der Mann hier sterben oder soll er sich noch Tage an diesen Apparaturen weiterquälen, vielleicht ohne Hoffnung darauf, jemals wieder das Krankenhaus zu verlassen? Zum Glück bekommt er schon jetzt nicht mehr viel von seinem Leid mit. Also, Sie entscheiden jetzt über Leben und Tod – und zwar nicht willkürlich – und ich werde mich an Ihre Entscheidung halten. Bitteschön, ich höre?“
Bernd geriet ins Stammeln: „Ich bin doch nicht so anmaßend wie Sie. Ich kann doch nicht so einfach ein Todesurteil über diesen alten Mann fällen und zu entscheiden, dass er sich weiterquält... . Wer bin ich denn? Ich weiß ja nicht, was für Heilungschancen es gibt, und überhaupt, nein, die Entscheidung will ich nicht treffen.“
Der Raucher stemmte die Arme in die Seite und beugte seinen hageren Oberkörper vor: „Ach ja? Sie wollen die Entscheidung selbst nicht fällen, aber wenn ich entscheide, dann ist es auch wieder nicht gut genug. Da wird Jahrzehnte das Für und Wider der Sterbehilfe diskutiert – eigentlich ist die Frage so alt wie die Menschheit selbst – und doch mag eigentlich kein Mensch die Verantwortung für den Schiedsspruch übernehmen, wann das Leben eines anderen Menschen enden soll. Aber andererseits reden alle immer wieder von einem ungerechten Tod, wenn ich bestimme, wann die Zeit abgelaufen ist, verfluchen und fürchten mich. Dabei nehme ich Ihnen eine Entscheidung ab, die eigentlich kein Mensch fällen kann und sollte. Soviel Verlogenheit wie in bezug auf den Tod gibt es doch kaum irgendwo auf Erden. Da maßen sich Menschen an, das Leben eines anderen Menschen beenden zu dürfen, stellen ihn aber dann wieder vor ein Erschießungskommando mit so vielen Leuten, dass niemand weiß, wessen Kugel nun wirklich die tödliche war, damit sich dann auch niemand wirklich verantwortlich fühlen muss. Das ist doch pervers! Die Menschen brauchen nicht den Tod zu fürchten, Herr Steininger. Die Menschen müssen den Menschen fürchten!“
Als der Mann mit der Zigarette geendet hatte, entstand Stille. Bernd wusste nichts zu sagen, doch er hatte gemerkt, dass die scheinbare Gleichgültigkeit in dem faltigen Gesicht nur eine Fassade war, hinter der es kochte. Der andere ging auf ihn zu und drückte ihm die Münze in die Hand: „Sie zeigt immer auf beiden Seiten das gleiche Motiv, je nachdem, ob die Zeit eines Menschen bereits abgelaufen ist oder ob nicht.“
Bernd blickte auf die metallene Scheibe in seiner Hand und sah, dass beide Seiten von einer verwelkten Blume geziert waren. Im nächsten Moment begannen die Apparaturen am Bett des alten Mannes hektisch zu piepsen. Als Bernd aufblickte, war von dem Raucher nichts mehr zu sehen und auch nichts mehr zu riechen. Dafür stürzte sogleich eine Krankenschwester herein und kurz darauf folgte der Stationsarzt. Bernd verfolgte die hektischen Wiederbelebungsversuche kaum. Er hätte sagen können, dass sie keinen Zweck mehr hatten, doch wer hätte ihm geglaubt?
Er fühlte sich elend, als das Bett mit dem Toten herausgefahren wurde. Von ihm schien niemand Notiz genommen zu haben. Die Tür schloss sich.
„Haben Sie die ganze Zeit hier gesessen?“ Bernd fuhr herum und sah, dass Thomas Herter aufgewacht war und ihn mit erstauntem Blick betrachtete.
„Hmhm“, bestätigte Bernd und es war ihm fast peinlich.
„Wieso machen Sie das?“, fragte ihn der junge Mann fassungslos. „Sie haben mich gerettet und ins Krankenhaus gebracht. Sie sind ein Held. Damit dürfte die Sache für Sie doch erledigt sein.“
„So leicht ist das leider nicht. Es hat jetzt auch mit meinem Leben zu tun“, antwortete Bernd wahrheitsgemäß.
„Sie sind schon seltsam“, stellte der andere verwundert fest. „Wie war noch einmal Ihr Name?“
„Bernd.“
„Und ich bin Thomas. Wenn wir uns mit Vornamen anreden, sollten wir uns duzen.“
„OK“
„Also Bernd, ich denke, ich müsste dir dankbar sein, dass du mein Leben gerettet hast, auch wenn ich nicht wirklich Dankbarkeit empfinde. Eigentlich finde ich es sogar ziemlich beschissen, dass ich noch immer am Leben bin. Als ich eben aufgewacht bin, dachte ich erst, dass alles sei vielleicht nur ein Alptraum, aber nun hat es wohl einfach nicht geklappt. Ich werde mein Bestes versuchen, noch eine Weile am Leben zu bleiben. Du brauchst jetzt also nicht ständig auf mich aufzupassen.“ Er richtete sich mühsam auf und zog die Kanüle aus seinem Arm.
„Hey, was soll denn das?“, fragte Bernd zu überrascht um einzugreifen.
„Ich brauche das nicht“, stellte Thomas fest und ging daran, die elektrischen Apparaturen auszuschalten, bevor er sich von den Kabeln befreite. „Und ich muss jetzt leider hier weg, denn ich habe keine Lust, wieder in die Psychiatrische zu kommen.“
„Aber, ... aber“, stammelte Bernd noch immer ganz perplex, „dort kann man dir doch helfen.“
Thomas blickte ihn fast mitleidig an: „Dort kann man den Menschen helfen, die sich helfen lassen wollen. Aber ich will nicht, dass jemand mir hilft.“
Bernd wusste nicht, was er tun sollte. Er sah hilflos zu, wie der junge Mann aufstand, seine Kleidung aus dem Schrank nahm, den Krankenhauskittel abnahm und sich wieder anzog. Sollte er die Schwestern rufen? Sollte er den anderen mit Gewalt festhalten? Irgendwie spürte er ziemlich sicher, dass beides falsch war.
Der junge Mann kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand: „Danke für deine Sorge um mich. Ich habe es nicht häufig erlebt, dass sich wirklich jemand um mich gesorgt hat.“ Seine Augen wurden glasig und er schluckte. Dann drehte er sich ruckartig um und ging – leicht schwankend – auf das Fenster zu. Bernd stand wie paralysiert da, konnte nichts sagen und konnte sich nicht bewegen. Als befände er sich in einem Alptraum schaute er ohnmächtig zu, wie der andere das Fenster des Zimmers im dritten Stock öffnete und ein Bein hinaus schwang. Dann war plötzlich der Bann gebrochen und er hastete ebenfalls auf das Fenster zu. Nun sah er, dass ein Baugerüst an der Außenwand des Krankenhauses stand. Auf dieses kletterte der junge Mann gerade hinaus.
„Warte!“, rief Bernd, „nimm mich mit. Ich kann dich fahren. Ich kann dir helfen.“ Er hatte in fast flehendem Tonfall gesprochen.
Der Mann auf dem Baugerüst drehte sich um und sah in wieder verwundert an. So standen sie eine Weile da, ohne dass einer von beiden etwas sagte. Dann schüttelte Thomas Herter langsam und verwirrt den Kopf und meinte zögernd: „Ich verstehe dich nicht. Aber in Ordnung, du kannst mitkommen.“
Es war halb sechs Uhr morgens. Auf der Autobahn waren die ersten Pendler unterwegs. Nach einem wirklich katastrophalen Abstieg über das Baugerüst – der eine taumelnd, der andere mit schweren Schmerzen bei jedem Tritt – war Bernd die Idee gekommen, in das Ferienhaus in den Bergen zu fahren, das er und sein Bruder vor wenigen Monaten von seiner Großmutter geerbt hatten, die erst mit stolzen achtundneunzig Jahren verstorben war. Das Grundstück hatten seine Großeltern in einer Zeit erworben, als es noch keine Grünen gab und man mit guten Beziehungen ohne Probleme eine Baugenehmigung mitten im Wald bekommen konnte. Dort lag das Haus völlig einsam und idyllisch in einem Tal nicht weit entfernt von einem Damm, hinter dem ein kleines Flüsschen zu einem riesigen See aufgestaut wurde. Sie würden einen guten Preis für das Gebäude erzielen, sobald sie die Zeit finden würden, mit einem Makler Kontakt aufzunehmen, doch jetzt war er froh, dorthin fliehen zu können und auch Thomas schien sehr angetan von dem Gedanken zu sein, die Großstadt hinter sich lassen zu können. Sie hatten noch schnell einige Sachen aus ihren Wohnungen geholt, immer in der Angst, gleich könne die Polizei auftauchen, doch nichts dergleichen war geschehen. Da Bernd seinen Namen im Krankenhaus nicht angegeben hatte, hoffte er, dass man ihnen nicht auf die Spur kommen würde. Er hatte noch schnell auf den Anrufbeantworter im Büro gesprochen, dass er wegen einer dringenden persönlichen Angelegenheit zwei Wochen seines Urlaubs sofort sofort nehmen müsse. Er hoffte, dass er sich damit seine Karriere nicht völlig vermasseln würde, doch was nutzte ihm eine Karriere, wenn er tot war? Es war sowieso seltsam: Obwohl er wusste, dass in den nächsten Tagen enorm wichtige Termine anstanden, war das alles jetzt so fern, seltsam unbedeutend. Er schob es auf seine Müdigkeit. Er hatte schließlich diese Nacht noch keine Minute die Augen geschlossen und bald würde es schon dämmern.
So fuhren sie jetzt schweigend gemeinsam in den Morgen. Irgendwann versuchte Bernd ein Gespräch anzufangen. Er wagte es nicht, nach den Gründen für den Selbstmordversuch zu fragen, also probierte er es mit einem scheinbar unverfänglichen Thema. Er erzählte von seiner Arbeit. Schnell kam er ins Schwelgen und merkte erst nach einer Weile, dass der Gesichtsausdruck seines Beifahrers immer trüber wurde. Er fragte ihn nach seinem Beruf und erfuhr, dass dieser eine Ausbildung als Elektriker gemacht hatte, aber eine Stelle nach der anderen wegen mangelnder Zuverlässigkeit verlor. Wenn es ihm schlecht gegangen sei, habe er einfach nicht zur Arbeit kommen können. Der junge Mann erzählte einsilbig und kurz angebunden. Bernd beeilte sich zu beteuern, dass er Menschen mit handwerklichen Fähigkeiten bewundere und sich so etwas nicht zutraue und dass der berufliche Erfolg hierzulande sowieso zu hoch bewertet werde, aber er merkte selbst, dass er mit seinen Versuchen, die Situation zu retten, weit an der Glaubwürdigkeit vorbeisegelte. So erstarb das Gespräch und sie fuhren wieder schweigend weiter. Bernd stellte das Autoradio an und das täglich gleiche Gemisch der Mainstream-Musik dudelte aus den Lautsprechern, immer wieder unterbrochen von einem Moderator, der die Illusion vermittelte, man könne um sechs Uhr morgens schon munter und gutgelaunt sei.
Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 8 Uhr an, als Sie von der geteerten Straße, die sich durch das Flusstal schlängelte, auf eine schmale Schotterpiste abfuhren, vorbei an einem Durchfahrtsverbot-Schild „Anlieger frei“. Der Kies knirschte unter den Rädern und wurde gegen die Karosserie geschleudert. Sie zogen eine dicke Staubwolke hinter sich her. Hohe dunkle Tannenwälder links und rechts des Weges zeigten ihnen, dass Sie die Welt der Termine und Versammlungen, der Vorträge und Protokolle, der Verpflichtungen und Formulare jetzt hinter sich ließen. Obwohl Bernd schon häufiger hier gewesen war, spürte er jetzt zum ersten Mal, dass irgendetwas von ihm abfiel. Er schob es auf die Müdigkeit.
Sie hatten noch schnell an einer Tankstelle etwas zu essen und zu trinken gekauft und nun stellte Bernd sein Fahrzeug vor dem Jägerzaun des einsam im Wald gelegenen Häuschens ab – glücklich dass nun die Schmerzen, die mit jedem Treten des Gas- oder Bremspedals schlimmer geworden waren, endlich überstanden sein würden.
Sie stiegen beide aus und sogen voller Genuss die klare kühle Waldluft ein. Stille herrschte hier bis auf das dann und wann durch den Wald schallende Vogelgezwitscher. Es war eine andere, echtere Ruhe als das nächtliche Schweigen der Großstadt. Bernd sah in das Gesicht seines Begleiters und fühlte sich bestätigt, dass sein Vorschlag richtig gewesen war. Das erste Mal sah er so etwas ähnliches wie ein Lächeln in der Miene des anderen.
Sie packten Ihre Koffer aus dem Auto aus und Bernd ging voran, die Eingangstreppe empor. Er schloss die Tür auf und trat in das Haus. Ein leicht muffiger Geruch empfing sie. Zwar kam jede Woche ein Hausmeister vorbei, der nach dem Rechten sah und das ganze Gebäude durchlüftete, trotzdem war unverkennbar, dass hier gewöhnlich niemand wohnte.
Thomas betrat hinter Bernd das Haus. Bernd breitete die Arme aus aus und sagte: „Bitteschön, das ist für die nächsten vierzehn Tage unser Zuhause.“
Im nächsten Moment wünschte er sich, er hätte das nicht gesagt. Das Gesicht des anderen verzerrte sich, er sank in die Knie und plötzlich brach er in Tränen aus. Es war ein gespenstisches Weinen, praktisch lautlos, ein stummes Zucken und Rinnsaale, die sich ihren Weg über die Wangen suchten. Bernd ging auf den jungen Mann zu, wollte seinen Arm um ihn legen, doch dieser stieß ihn weg und Bernd begriff, dass er dem anderen jetzt fern bleiben musste. Er selbst konnte nichts tun, als zu warten, dass die Zuckungen aufhörten, der andere sich beruhigte. Er hätte nie gedacht, dass es so schwer seine könne, einfach nur dazusitzen und zu warten, auszuhalten, dass da jemand in Schmerzen versank, ohne dass man etwas tun konnte. Er musste alle Kraft aufwenden, die er hatte, um sich selbst daran zu hindern, doch wieder aufzuspringen, den anderen in den Arm zu nehmen wie ein kleines Kind und zu trösten. Er kam sich so hilflos vor, kam sich fast schlecht vor, dem anderen sein Leid nicht lindern zu können. Und er begriff nicht einmal, wodurch der Gefühlsausbruch verursacht worden war. Was hatte er denn diesmal wieder falsch gemacht? Hatte er mit seinem Besitz geprotzt und dem anderen dadurch deutlich gemacht, wie wenig er selbst hatte? Hätte er nicht von den vierzehn Tagen sprechen dürfen, weil dadurch klar geworden war, dass ihr gemeinsamer Urlaub ein terminiertes Ende hatte? Er zerbrach sich den Kopf, doch keine der Antworten, die er fand, erschien ihm befriedigend.
Irgendwann versiegten die Tränen der am Boden kauernden Gestalt. Thomas Herter hob den Kopf, ohne Bernd in die Augen zu sehen: „Es ist gut, wenn ich weine. Bitte hindere mich nie daran und mildere es nie, sonst ersticke ich.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich habe mir immer ein Zuhause gewünscht.“
Mit dieser kurzen Erklärung musste sich Bernd zufrieden geben und wenig später lag er in dem Zimmer, in dem er schon als Kind geschlafen hatte, wenn sie hier Urlaub gemacht hatten. Seinen Gefährten hatte er in dem Schlafzimmer, das früher seine Eltern benutzt hatten, untergebracht. Bernd schwirrte der Kopf. Es war doch erst Stunden her, dass er seinen Vortrag gehalten und in Applaus gebadet hatte. Das schien ihm jetzt so fern, die Erinnerung an ein anderes Zeitalter, die Erinnerung an eine andere Welt. Hätte er sich „damals“ auch nur im Entferntesten vorstellen können, dass er nun Hals über Kopf mit einem wildfremden Burschen einen vierzehntägigen Urlaub im Wald verbringen würde? Das alles war so unwirklich. Mit einem inneren Kopfschütteln schlief er ein.
Trotz seiner Müdigkeit blieb Bernds Schlaf flach und seine Träume waren wirr wie im Fieber. Er fand sich wieder in der Nacht auf der Eisenbahnbrücke, doch die Gestalt hinter dem Geländer war nicht Thomas Herter, sondern es war sein Vater, der dort mit einer Zigarette im Mund stand und ihn anschaute. „Ich bin der Tod, kleiner Bernd. Ich bin mächtiger als du. Ich wusste doch, dass du Mediziner werden würdest, aber mich, mich bekommst du nicht mehr. Ich werde dir entwischen!“ Und damit ließ er sich nach vorne fallen, die Bewegung war langsam, wie in Zeitlupe. Bernd sprang zu ihm heran, umfasste die Brust seines Vaters, wie er es bei Thomas Herter gemacht hatte. Aber im Gegensatz zu dem jungen Mann, den er gerettet hatte, war sein Vater eine große, kräftige, schwere Person. Er spürte, dass er nach vorne gezerrt wurde, immer noch eine Bewegung wie in Zeitlupe. Mit dem Fuß versuchte er, sich im Geländer festzuhaken, doch die Schmerzen waren zu furchtbar. In einem endlos langsamen Sturz wurde er nach vorne gezogen, glitt über die Brüstung, sah das schwarze Wasser des Flusses und hatte nur die Wahl, seinen Vater loszulassen und zuzusehen, wie er in die Tiefe stürzte, oder mit ihm zusammen zu sterben. Über diese qualvolle Entscheidung wachte er auf und brauchte erst einen Moment, um sich wieder zu erinnern, wo er sich befand. Erleichterung stieg in ihm auf, als sein Verstand langsam zu akzeptieren begann, dass das gerade ein Alptraum gewesen war. Sein Puls beruhigte sich allmählich. Der Duft von Kaffee kitzelte seine Nase. Er blickte auf die Uhr. Es war bereits weit nach Mittag.
Er erhob sich aus dem Bett und konnte nur mit Mühe einen Schmerzensschrei unterdrücken, als er auftrat. Er blickte an seinem Bein hinunter und stellte fest, dass dort, wo sich einmal sein Fuß befunden hatten, nun ein dicker unförmiger Klumpen zu sehen war.
Mühsam humpelte er in die Küche und traf dort auf seinen Begleiter, der in anscheinend gar nicht so schlechter Laune dabei war, ihnen ein Frühstück zuzubereiten. Die Kaffeemaschine blubberte. Brot, Butter, Marmelade und Aufschnitt standen auf dem wohldekorierten Tisch und auf dem Herd brutzelten Eier mit Speck.
Bernd blickte sich überrascht um und meinte: „Hast du mal darüber nachgedacht, ins Gastronomie- oder Hotelgewerbe zu gehen?“
„Wir wollen uns doch wohlfühlen, in unserem Zuhause, oder?“, kam als Gegenfrage zurück.
„Klar, falls du mir auch noch meinen Klumpfuß wegzaubern kannst, bin ich schon wunschlos glücklich“, witzelte Bernd.
„Der Mediziner bist du, dachte ich?“
„Pharmazeut, nicht Mediziner!“
Sie plauderten beim Frühstück so entspannt über belanglose Sachen, wie es Bernd mit dem Mann, der noch vor Stunden hatte von einer Brücke springen wollen, nie für möglich gehalten hätte. Fast schien es ihm, als sei die gesamte gestrige Nacht nur irgendein bizarrer Alptraum gewesen, aber sein schmerzender Fuß erinnerte ihn unangenehm daran, dass diese Erlebnisse Teil der realen Vergangenheit waren.
Die Zeit verlor ihre Bedeutung. Irgendwann zuckte kurz in Bernds Gehirn der Gedanke auf, er müsse doch den Anrufbeantworter seines Handys abhören und sich noch einmal bei seinem Chef melden, bei seinen Kollegen und bei sonst jemand noch, aber dieser Gedanke verglühte schnell wie eine Sternschnuppe. Es erfüllte ihn fast mit Vergnügen, als ihm einfiel, dass er das Ladegerät seines Mobiltelefons zuhause vergessen hatte. Jetzt war er wirklich in einer anderen unerreichbarenWelt und er hatte das Gefühl, dass er gerade sein Leben in mehr als einer Hinsicht rettete.
Ihr Frühstück ging über Stunden, aber schließlich wollte Bernd sich doch rasieren und waschen. Während Thomas den Abwasch übernahm, humpelte er Richtung Badezimmer. Schon als er die Tür öffnete, nahm er den Zigarettengeruch wahr und war darum auch nicht erstaunt, wen er mit übergeschlagenen Beinen auf dem Wannenrand sitzend vorfand.
„Sie überraschen mich“, stellte der Raucher fest, „das hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Mit der Weile beginne ich es als realistische Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Sie tatsächlich unsere Wette gewinnen werden.“
Bernds gute Laune hatte beim Anblick des anderen ordentlich Schieflage bekommen: „Werden Sie mich jetzt stündlich nerven?“, fragte er unwirsch, ohne mögliche negative Konsequenzen in Betracht zu ziehen.
Der andere schüttelte den Kopf: „Nein, ich denke, ich kann Sie beide jetzt erst einmal alleine lassen. Sollte ich Sie vielleicht wirklich unterschätzt haben?“
„Was meinen Sie, wie Sie erst staunen werden, weil sich Ihr Wartezimmer rapide leeren wird, sobald Zellophil in der Masse angewendet wird. Auch das unterschätzen Sie.“ Bernd fühlte, dass er Oberwasser hatte, schaffte es aber trotzdem nicht, dem anderen in die Augen zu sehen.
Der Mann, der sich als der Tod ausgab, lachte kurz auf und machte eine wegwerfende Handbewegung: „Ach das, darüber mache ich mir keinen Kopf. Was sind schon zehn oder fünfzehn Jahre mehr? Irgendwann kommt doch jeder zu mir. Außerdem wird Ihr Mittelchen keine Kriege und keine Morde verhindern. Im Gegenteil, die Sozialsysteme auf der Welt werden wahrscheinlich durch den doppelt so langen Ruhestand und die weitere Überalterung gänzlich zusammenbrechen und damit sind Verbrechen, Aufstände, Kriege oder Bürgerkriege vorprogrammiert. Um die Fülle meines Wartezimmers mache ich mir keine Sorge, außerdem scheinen Sie immer noch anzunehmen, dass ich irgendwie gierig darauf aus bin, dass möglichst viele Menschen möglichst früh sterben. Da täuschen Sie sich, aber das ist nun wohl einmal das Bild, das man von mir gezeichnet hat.“
Bernd erinnerte sich an das Krankenhaus. Er zog die Augenbrauen zusammen und fragte forschend: „Gestern Nacht auf der Intensivstation, da war etwas in Ihren Augen. Fast hätte man das Gefühl haben können, dass Sie Ihren Job nicht immer mögen, dass er Ihnen zuweilen Schmerz bereitet.“
Abrupt stand der Raucher auf: „Ich muss jetzt gehen. Ich denke, Sie beide kommen klar. Wir sehen uns in dreizehn Tagen. Mitternacht ist der Termin. Danach haben Sie gewonnen.“ In der nächsten Sekunde war er verschwunden und mit ihm der Rauch und Geruch der Zigarette.
Die kommenden Tage waren ein Urlaub, wie Bernd ihn schon seit langem nicht mehr erlebt hatte, kein Vergleich zu den teuren Reisen auf Kreuzschiffen mit irgendwelchen Freundinnen, kein Vergleich zum Hetzen durch ferne Länder und Städte, immer einem Terminplan hinterher, der dafür sorgen sollte, in möglichst wenig Zeit möglichst viel zu erleben oder zu sehen. Hier gab es Stille im Überfluss, hier gab es Zeit im Überfluss.
Sie entdeckten, dass noch ein Rollstuhl seiner Großmutter hier stand, und da Bernds Fuß keine Spaziergänge zuließ, er aber auch nicht zu einem Arzt wollte, fuhr Thomas ihn im Rollstuhl über die Waldwege, mal ächzend bergauf schiebend, mal nur mühsam vor einer Biegung bergab bremsend.
Bernd war überrascht, wie viele Gesprächsthemen sie fanden, und doch schienen sie sich niemals dem zu nähern, was Thomas seinen Lebensmut geraubt haben mochte. Sie entdeckten zu ihrer Überraschung, dass sie beide gerne Gedichte und Dramen auswendig lernten und rezitierten. Bernd hatte zwar für dieses Hobby in den letzten Jahren wenig Zeit gehabt, aber in seiner universitären Zeit hatte er in einer Theatergruppe mitgespielt und die Texte waren ihm noch so präsent, als hätte er sie erst gestern einstudiert. So gaben sie sich über Stunden voller Inbrunst Kostproben, mal zu Tränen gerührt, mal vor Lachen auf dem Boden liegend.
Ein bisschen kam es Bernd vor, als habe er eine Zeitmaschine benutzt. An dem Haus und der Umgebung hingen für ihn viele Kindheitserinnerungen und mit ihnen kamen auch die Gefühle des Kindseins zurück. Und war ihre Situation nicht auch die von zwei Kameraden, die gemeinsam auf Klassenfahrt waren, einfach vierzehn Tage Muße hatten, in einem Alter, in dem es noch keine Mitarbeitergespräche, keine Steuererklärungen, keine Zieltermine und keine Gewinnerwartungsrechnungen gab? Sie verplemperten einfach tagsüber ihre Zeit und nachts unterhielten sie sich, bis das vor Gähnen gar nicht mehr möglich war. Mit einem bitteren Gefühl stellte Bernd fest, was er alles im Erwachsenwerden verloren hat.
Eines Abends standen sie beide auf der Staumauer der Talsperre und blickten schweigend über das Wasser in den Sonnenuntergang. Der Wind hatte aufgefrischt und Bernd bereute es, keine Jacke mitgenommen zu haben.
„Es ist nicht wahr“, meinte Thomas plötzlich.
Bernd sah ihn fragend an.
„Das hier. Das, was ich gerade erlebe, ist nicht Realität, zumindest nicht auf Dauer. Und wenn ich aufwache, dann ist es nur eine um so größere Enttäuschung.“
„Nun ja, der Urlaub geht natürlich nicht endlos“, gab Bernd zu. „Im Gegenteil, er ist leider immer zu schnell vorbei, und dann bekommt uns der Alltag wieder in die Fänge.“
„Und Freundschaft währt auch nicht endlos.“ Thomas blickte unverwandt in den roten Feuerball, der hinter den bewaldeten Bergkuppen versank.
„Naja, das würde ich nicht so einfach sagen.“ Bernd machte eine Pause. „Hast schlechte Erfahrungen damit gemacht, wie?“
Thomas schüttelte den Kopf: „Nein, keine.“
„Keine?“
„Keine echten.“
„Wie? Nicht einmal in der Schule hast du Freunde gehabt? Das geht doch gar nicht. Jeder hat Kumpel in der Schule.“
„Nicht jeder. Manche nicht, manche habe nur Feinde, oder Leute, die sie verachten, weil sie anders sind.“
„Hast du denn auch nie eine Freundin gehabt?“
Thomas schüttelte stumm den Kopf. Seine Miene war eine starre Maske aus Eis.
Bernd schluckte.
„Und deine Familie?“
Ruckartig trat Thomas hinter den Rollstuhl, so dass Bernd sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. „Es ist kalt, wir müssen ins Haus.“ Er setzte den Rollstuhl in Bewegung und den gesamten Rückweg redeten sie nicht mehr. Diese Nacht ging Thomas früh zu Bett, ohne die übliche lange Unterhaltung in der Dunkelheit. Bernd blieb allein in der Küche sitzen und lauschte in die Stille. Er wusste nicht so recht, was ihn davon abhielt, auch schlafen zu gehen. War es die Befürchtung, dass der andere nach seinem Stimmungsumschwung wieder versuchen würde, sich das Leben zu nehmen? Waren es die vielen Gedanken, die ihm durch den Kopf wirbelten? Fast sehnte er sich danach, den Geruch von Tabak wahrzunehmen und mit dem Raucher über das reden zu können, was er gehört und erlebt hatte. Fast nahm er den Mann, der sich als der Tod ausgab, als einen gemeinsamen Freund von Thomas und ihm wahr. Doch dieser Dritte im Bunde kam nicht.
Am nächsten Tag schien der abrupte Stimmungswechsel vom Vortag fast vergessen zu sein. Sie machten wieder ihre Späße und diskutierten über Gott und die Welt. Es war fast so wie an den Tagen zuvor, aber eben nur fast so. Es schien, als sei durch irgendein Leck etwas Realität in ihre Abgeschiedenheit eingedrungen, eine winzige Menge nur, die sich jedoch wie Gift in den Adern blitzschnell ausbreitete. Ein Stück der Unbeschwertheit, die sie die letzten Tage genossen hatten, war gestorben und sie konnten sie nicht mehr zurückgewinnen.
Schließlich kam der vierzehnte Tag, der Tag des Abschieds von ihrer Idylle und die Trauer begrüßte sie schon am Morgen, als sie aufstanden. Bernd konnte nun doch nicht umhin, mit dem letzten Strom des Akkus, den Anrufbeantworter des Handys abzurufen. Was er da so alles hörte, verbesserte seine Stimmung nicht gerade. Und trotzdem beschlossen sie, diesen Abend zu feiern. Und in der Entschlossenheit, die letzten Stunden, die ihnen noch im Paradies blieben, zu nutzen, gelang es ihnen, eine recht gutgelaunte Feier mit Wein und Gitarre zustande zu bringen.
Es war zwölf Uhr durch, als es geschah. Bernd hatte doch etwas mehr Alkohol zu sich genommen, als er gewohnt war. Sonst wäre es ihm vielleicht nicht passiert. Vielleicht hätte er auch nicht so lange aufbleiben sollen. Vielleicht hätte er einfach nur gründlich nachdenken sollen, bevor er losplapperte, so wie es sonst seine Art war. Doch als ihm alle diese Gedanken durch den Kopf gingen, da war es bereits zu spät, da war ihm der Satz bereits rausgerutscht. Eigentlich war es nicht einmal ein richtiger Satz, nur vier Worten waren es, die er bei einem Blick auf die Uhr aussprach. Vier Worte, die alles veränderten: „Vierzehn Tage, Wette gewonnen.“
Bernd merkte nicht einmal, wie das Gesicht seines Freundes gefror. Er registrierte nur, dass der andere langsam aufstand und den Raum verließ. Es dauere noch Minuten, bis durch die vom Alkohol verstopften Gehirnwindungen die Erkenntnis durchdrang, dass sein Kumpel wohl nicht bloß zur Toilette gegangen war.
Es schien Bernd, als werde er von einer Sekunde zur anderen nüchtern. Er sprang auf und der Schmerz, der durch seinen Fuß fuhr, brachte ihn endgültig zur Besinnung. So schnell er konnte, stürzte er hinaus in den Flur. Die offen stehende Haustür bestätigte ihm, dass seine Vermutung richtig war. Er wusste, wohin Thomas Herter jetzt unterwegs war.
Die folgenden Minuten waren die größte körperliche Tortur, die Bernd Steininger jemals in seinem Leben durchmachen sollte. Er befürchtete, dass er damit seinen Fuß endgültig ruinieren würde und sich auf eine Amputation einstellen durfte. Doch das war ihm im Moment völlig egal. Er wusste, dass er bei seinem Tempo niemals mit dem anderen mithalten konnte. Wenn sein Freund auch nur zügig voranschritt, dann hatte er keine Chance mehr, ihn rechtzeitig zu erreichen. Und selbst wenn er ihn einholte: Welche Möglichkeiten hatte er dann überhaupt? Er hatte das Vertrauen des anderen verspielt. Würde sein Erscheinen nicht vielleicht sogar alles noch viel schlimmer machen? Die Minuten seines Weges wuchsen zu einer Ewigkeit. Die Qual der Verantwortung, die er für sein Verhalten trug, war noch schlimmer als die Qual in seinem Fuß.
Als er die Staumauer erklommen hatte, standen ihm Tränen in den Augen, Tränen des Schmerzes, Tränen der Angst, Tränen der Schuld. Er sah im fahlen Licht des abnehmenden Mondes die Gestalt auf der Brüstung stehen, noch viel zu weit entfernt, sah wie sich der Körper nach vorne neigte, das Gewicht in einer nicht mehr umkehrbaren Entscheidung in Richtung des Wassers verlagert wurde. Er wollte schreien, doch es kam nur ein leises Wimmer wie das eines kleinen Kindes aus seiner Kehle. Wäre er doch so rechtzeitig auf dem Damm gewesen, dass er Thomas hätte retten können. Oder wäre er doch so spät gekommen, dass es bereits vorbei gewesen wäre. Aber zu spät zu kommen, um zu helfen, aber so früh, um den Todessturz des anderen ohnmächtig miterleben zu müssen, das war das Schlimmste.
Dann tauchte plötzlich der Schatten aus dem Nichts auf. Eine unbegreifliche Kraft riss die Person, die schon auf dem Weg in die Tiefe war, zurück auf den Damm.
Bernd humpelte so schnell heran, wie er konnte. Das Bild, das sich ihm zeigte, war irgendwie sonderbar. Thomas lag halb auf dem Boden und über ihm stand die Gestalt, die sich als der Tod ausgab, diesmal jedoch ohne Zigarette. Sie hatte den jungen Mann am Kragen gepackt und halb in die Höhe gehoben. Die beiden verharrten in dieser Position starr wie ein Standbild. Ihre Gesichter waren einander zugewandt und nur eine halbe Armlänge voneinander entfernt. Thomas blickte mit schreckgeweiteten Augen in das Gesicht der Gestalt über ihn.
Bernd wusste nicht, was er machen sollte, also machte er nichts. Sekunden vergingen. Dann ließ der Tod den jungen Mann sanft zu Boden gleiten und trat zur Seite. Thomas krümmte sich zusammen wie ein Embryo. So lag er eine Weile, dann ging ein Zucken durch den Körper und Bernd erwartete wieder jenes lautlose Weinen, das er schon einmal miterlebt hatte. Doch plötzlich warf der junge Mann den Kopf zurück und ein Schrei erscholl, hallte weit durch das Tal, wurde von den Berghängen zurückgeworfen und nahm einfach kein Ende. Bernd glaubte zu erstarren, wollte an die Seite seines Freundes stürzen, begriff aber rechtzeitig, dass er das jetzt nicht durfte. Er spürte eine Berührung an seiner Seite. Es war der Tod, der ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte: „Sie können gleich zu ihm. Er wird Sie brauchen.“
„Ich weiß nicht, ob er noch etwas von mir wissen will“, sagte Bernd bitter. „Ich hab’s vermasselt.“
„Er will noch etwas von Ihnen wissen, denn Sie sind sein Freund, sein einziger. Sie haben es nicht vermasselt. Die Wette haben Sie um zwölf Uhr gewonnen. Dass Sie ihm jetzt gefolgt sind, trotz aller Schmerzen, dass Sie ihn davon abhalten wollten, sich umzubringen, das war nicht mehr, um ihr eigenes Leben zu retten. Sie wollten ihn retten.“ Der Tod sprach mit leiser, sanfter Stimme und trotz des immer noch andauernden Klagetons verstand Bernd ihn ohne Probleme.
„Ich habe gar nicht darüber nachgedacht, wen ich rette“, murmelte Bernd zweifelnd.
„Eben, man denkt auch nicht darüber nach, wenn es um das Leben eines Freundes geht.“
Der Schrei des Mannes am Boden erstarb langsam, aber das Echo blieb noch lange zwischen den Bergen gefangen.
„Wieso hat er gebrüllt?“, fragte Bernd leise. „Was ist da eben geschehen?“
„Er hat mir in die Augen gesehen. Haben Sie noch nie gehört, dass das ganze Leben wie ein Film vor dem inneren Auge abläuft, wenn man dem Tod ins Angesicht blickt? Das, was er da gesehen hat, war genug, um zu schreien. Es war gut, dass er es jetzt sehen konnte. Es war gut, dass er schreien konnte.“
Bernd dachte daran, wie viel Schwierigkeiten es ihm stets bereitet hatte, der Gestalt, die jetzt neben ihm stand, ins Gesicht zu blicken: „Ich bin nicht sein einziger Freund. Sie haben ihn gerettet.“
„Ja“, bestätigte der Tod, „ich fühle mich ihm sehr verbunden.“
„Weil Sie sein Schicksal kennen, weil Sie auch einsam sind“, stellte Bernd fest und sah dem Tod direkt in die Augen.
Diesmal war es der hagere Mann mit dem zerknitterten Gesicht, der den Blick senken musste: „Gehen Sie jetzt zu ihm. Er braucht Sie.“
Bernd legte dem Tod die Hand auf die Schulter: „Danke für alles. Ich habe jetzt begriffen, dass Sie kein Feind der Menschen sind. Aber eines verstehe ich nicht: Wozu dieses Spiel? Wozu eine Wette, um diesen jungen Mann zu retten? Warum haben Sie mich nicht direkt zur Hilfe aufgefordert?“
Ein leichtes Grinsen huschte über das Gesicht des Todes: „Menschen wie Sie brauchen eine Herausforderung, um alle Ihre Kräfte entfalten zu können. Sie brauchen den Ansporn, Gevatter Tod in den Allerwertesten treten zu können. Darum die Wette.“
Damit verschwand der Tod und Bernd ging auf die am Boden kauernde Gestalt zu. Er wusste nicht, ob er sich als Retter oder als Geretteter fühlen sollte.
 



 
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