Auf dem Weg zu dir

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Estella

Mitglied
Unterwegs zu dir


schneite Vergessen auf alte Spuren –
über gleißendes Weiß schritt ich
wie träumend dahin.
Da verfing sich
ein Lächeln in meinen Wimpern,
entwischte meiner tastenden Hand,
strich im Vorbeihuschen
sanft über meine Wangen
und blieb zuletzt zaghaft
an einem Mundwinkel hängen:
Es wolle mit zu dir,
flüsterte es scheu.

(anonym)


Auf dem Weg zu dir


Ein Berg Glitzerschnee liegt auf dem Fensterbrett. Die ganze Nacht und den halben Vormittag hat es geschneit. Der alte Kastanienbaum im Garten ist in Watte gepackt. Nebelschwaden ziehen vorüber. Jetzt teilen sich die Wolken, Sonnenlicht überflutet die bizarre Landschaft.
Ohrenbetäubende Stille flutet durch meine Sinne, ich liege und lausche. Mein Atem geht flach. Wenn ich die Augen schließe, vermischen sich bunte Farben in meinem Kopf. Unkontrolliert flattern meine Hände über die Bettdecke. Sie ist so weiß wie alles um mich herum.

„Sie haben Besuch, Frau Sommer!“ Die Schwester bleibt in der Tür stehen.
„Ihre Tochter!“ Die Stimme der Schwester klingt, als hätte sie eine frohe Botschaft zu verkünden.
Die Fremde tritt an mein Bett.
„Hallo Mama“, sagt sie und schaut mir in die Augen. „Wie geht es dir heute?“
Die Frau nimmt meine Hand und drückt sie ein wenig. „Gut schaust du aus, Mama!“
Sie kramt aus ihrer Tasche eine Schachtel Schokolade und legt sie auf mein Nachtschränkchen. „Die magst du doch?“
„Danke!“, sage ich leise.
Die Fremde ist elegant gekleidet, ihre Hände sind gepflegt, sie trägt viele Ringe, auch einen Ehering. Leise rückt sie einen Stuhl neben das Bett, setzt sich und fängt zu plaudern an. Namen, Namen. Erstaunlich, wen sie alles kennt. Ich lausche ihrer Stimme, beobachte die Augenbrauen, wie sie sich heben und senken und diesen Mund, der so rot ist wie eine Kirsche.
„Mama, warum lachst du?“
Habe ich gelacht? Vielleicht über den Kirschenmund? Die Farben in meinem Kopf verdichten sich, nehmen Gestalt an, drehen sich im Kreis. Meine Augen werden schwer.
Nach einer Weile steht die Frau auf und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Ich rieche ihr Parfum. Das kenne ich, fällt mir ein. Vor einigen Tagen war eine Frau hier, die roch genauso.
„Du willst jetzt sicher schlafen, Mama. Bis bald!“
An der Tür dreht sie sich um und winkt. Weg ist sie. Meine Tochter? Der Duft ihres Parfums hängt noch immer über meinem Bett. Ein Sonnenstrahl huscht über den blankgeputzten Fußboden, ich schließe die Augen.

Als ich sie wieder öffne, sitzt Richard in dem Sessel mit der hohen Lehne. Zuerst sehe ich seine Schuhe. Schwarze Schuhe. Richard trägt immer schwarze Schuhe, doch heute hat sich ein Schnürsenkel gelöst, der vom linken Schuh. Richard trägt einen gestrickten Pullover.
Sein Blick ist auf mich gerichtet, still, verharrend. Ich sehe die dunklen Schatten unter seinen Augen und tiefe Falten um seinen Mund, ich spüre seine Melancholie. Mein Richard, wie verloren er da am Fenster sitzt.

Wir waren so jung, damals, als wir mit dem Nachtzug nach Paris fuhren. Es war kalt, dicke Schneeflocken fielen vom nachtgrauen Himmel, doch es störte uns nicht. Wir fanden ein kleines Hotel in einer engen Straße mit einem winzigen Zimmer, in dem ein einziges Bett stand. Wir haben uns geliebt, wir haben uns verschlungen, warm und weich und voller Süße. Wir haben das Herz des anderen geküsst, unserem Atem gelauscht und dem Trommeln in der Brust. Erinnerungen, eingebrannt für ein ganzes Leben.
„Tanze für mich, wenn ich einmal sterbe“, hat er gesagt, weil er glaubte, es gäbe eine Welt, die noch bunter sei.
Doch die Tage, die anfangs wild und voller Erwartungen auf uns zuflogen, zerflossen. Und all unsere Worte und Wünsche verstummten.

Er sitzt noch immer in dem Sessel, es liegt noch immer diese Stille zwischen uns. Dann schaut er mir in die Augen, mit einer Eindringlichkeit, die kein Wegsehen erlaubt. Ich fühle eine Leichtigkeit, die nicht fassbar ist. Ich möchte ihn berühren, Richard, meine erste Liebe!
„Komm! Anna. Komm!“ flüstert Richard. Er streckt die Hand aus, lockt und winkt. Dann ist er verschwunden. „Warte!“, rufe ich, „so warte doch!“
Auf nackten Füßen laufe ich durch lange Flure, eile Treppen hinunter und weiter bis zu einer Pforte, die weit offen steht. Mein langes Nachthemd bläht sich im Wind. Der Mond glitzert auf schneebedeckten Wegen, ich laufe schneller, ich schwebe, ich fliege. „Richard!“ Ein Licht, ein Funkeln. „Richard! Ich komme!“
 
U

USch

Gast
Hallo Estella,

Wenn ich die Augen schließe, vermischen sich bunte Farben in meinem Kopf.
Den Satz im ersten Absatz würde ich streichen, da er das Weisse (Schnee, Decke) unterbricht. Sonst bei aller Schwere des Themas gut beschrieben.

LG Uwe
 

Estella

Mitglied
Hallo USch,

danke dir für dein Interesse an meinem Text.

Bei aller Schwere? Ist das wirklich ein so schwerer Text?
Für mich eine Geschichte voller Hoffnung. Gibt es etwas Schöneres, als am Ende des Lebens zu seiner großen Liebe zurückzufinden?

Ziemlich romantisch das ganze. Ich gebe es zu.


Liebe Grüße!
Estella
 

Estella

Mitglied
Unterwegs zu dir


schneite Vergessen auf alte Spuren –
über gleißendes Weiß schritt ich
wie träumend dahin.
Da verfing sich
ein Lächeln in meinen Wimpern,
entwischte meiner tastenden Hand,
strich im Vorbeihuschen
sanft über meine Wangen
und blieb zuletzt zaghaft
an einem Mundwinkel hängen:
Es wolle mit zu dir,
flüsterte es scheu.

(anonym)
 



 
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